Brief: Befreiungsillusionen


Eine Jüdin, die im Versteck überlebt hatte, berichtet:

Erinnerst du dich, Mama, wie oft wir in der kleinen Wohnstube im Hinterhaus der Kaiserstraße zusammengesessen und davon geträumt haben, wann und wie einmal unsere Todesängste von uns genommen würden, wie wir überlegten, ob Russen, Engländer oder Amerikaner als erste nach Frankfurt kämen, um uns das Leben wiederzugeben. Und Alex malte mit Worten und Gesten aus, wie man uns befreien würde, wild um sich schießend, mit einem Panzerfahrzeug in die Toreinfahrt preschen, die schweren Torflügel zerschmettern, weil sie keine Zeit hatten, sie jetzt noch zu entriegeln, und dann in den Hinterhof fahren. Dann würde sich die Luke öffnen, ein russischer, englischer oder amerikanischer Stahlhelm erscheinen und eine laute Stimme würde uns zurufen: "He, ihr da oben, kommt heraus! Ihr braucht keine Angst mehr zu haben, es gibt keine Nazis mehr! Habt ihr verstanden! Kommt heraus, euch kann nichts mehr passieren!"

Eine schöne Vision, doch du Mama, warst strikt dagegen, daß Panzer auf dem Hinterhof kämen, wegen des scheußlichen Lärms der Panzerketten, und schon gar nicht, wenn sie wild um sich schössen.

Wenn es nach dir gegangen wäre, würden mehrere Soldaten in den Hof stürmen, am besten ohne Knallerei, und einer käme die Hinterhaustreppe hoch, denn er hätte längst gewußt, wo wir zu finden sind. Dann hätte er an die Tür geklopft, einmal, zweimal, und gerufen: "Macht auf! Warum versteckt ihr euch noch?" Aber Alex war da anderer Meinung: wenn sie schon zu Fuß kämen und einer stürmte die Treppe hoch, dann sollte er zumindest nicht höflich anklopfen und fragen, ob wir zu Hause seien.

Das wäre doch keine Befreiung! Nein, nein, das dürfte nur so vor sich gehen: Bevor wir noch die Türe öffnen konnten, hätte er sie mit seinen schweren Stiefeln eingetreten und uns zugerufen: "Ihr seid frei! Geht hinaus, wohin ihr wollt! Geht schon!" Und wer er auch sein würde, dieser erste, in unser aller Umarmung sollte ihm die Luft wegbleiben, unsere Tränen sollten ihn nässen, unsere Küsse ihn bedecken.

Und Alex wurde nicht müde, immer neue Befreiungsträume zu erdichten. Für mich der schönste war, wenn wir uns vorstellen mußten, wie alle Bewohner unseres Hauses und unserer Straße vor den anrückenden Amerikanern oder Russen flüchten würden. Wir aber blieben da. Und wenn sie dann kämen, stürtzen wir auf die Straße und würden rufen: "Wir sind gerettet, wir sind frei!"

Und die fremden Soldaten würden erstaunt fragen: "Warum seid ihr gerettet? Wer seid ihr?"

Wir würden antworten: "Wir sind Juden!"

"Das müßt ihr lauter sagen!" würden sie uns befehlen.

Und dann nähmen wir die Hände wie Trichter an den Mund und schrieen in alle Richtungen so lange, bis wir heiser wären: "Wir sind Juden! Wir sind Juden! Wir sind gerettet!"

Und auf der Straße würden wir tanzen, du, Mama, Papa, Paula, Alex und ich, bis wir vor Erschöpfung umfielen.

Und dann waren die Befreier da.

Aber war das eine Befreiung? Eine entsicherte Maschinenpistole auf meinen Bauch gerichtet? Der sie auf mich richtete, meinte es verflucht ernst. Was interessierte es ihn in diesem Augenblick, ob ich Jude oder Christ bin - er war als Sieger gekommen, wir die Besiegten, und ich gehörte dazu. Untere Tagträume im Familienkreis waren umsonst geträumt. Keine Umarmungen, keine Küsse, keine Freudentränen, keine Tänze.