Thomas Schnabel

Allgemeine Entwicklung und individuelle Erfahrung in der Nachkriegszeit



Erinnerung an Carepakete

Wenn man Anfang 1996 in Stuttgart oder einer anderen Stadt in der ehemaligen amerikanischen Besatzungszone eine Umfrage darüber veranstaltet hätte, was die Menschen für positive Erinnerungen an die Amerikaner im Jahre 1946 haben, wäre wohl niemand auf die Rede der Hoffnung des amerikanischen Außenministers James F. Byrnes gekommen. Vermutlich an erster Stelle hätten die Befragten die Care-Pakete genannt, deren erste Lieferung am 2. September 1946, also vier Tage vor der bedeutenden Rede, in Stuttgart eintrafen. Noch tiefer eingeprägt hat sich in die Erinnerung an diese Jahre die Not, der Hunger, der Schwarzmarkt, die Sorge um vermißte oder gefangene Angehörige, die die meisten Deutschen in dieser Zeit erlebten.

Von den sogenannten großen politischen Entwicklungen sind wohl in erster Linie die Entnazifizierung und der beginnende Ost-West-Konflikt im Gedächtnis haften geblieben. Inwieweit helfen uns nun diese Überlegungen bei unserer Fragestellung weiter?


Historikerstreit

In den achtziger Jahren gab es eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen etablierten Vertretern der sogenannten 'modernen deutschen Sozialgeschichte' und einer Generation jüngerer Historiker. Auf dem Berliner Historikertag von 1984 prallten die Gegensätze öffentlich aneinander. "Auf der einen Seite standen", wie es in einem Tagungsbericht hieß, "Historiker, die in der Analyse kleiner sozialer Einheiten - in der Mikrohistorie - einen neuen, bislang vernachlässigten Weg historischer Analyse sahen, auf der anderen Seite standen jene Sozialhistoriker, die die an Max Webers Kategorien orientierte "makrohistorische" Sozialgeschichtsschreibung verteidigten." Die Vorwürfe gegen die Mikrohistorie, die besonders vehement von Hans-Ulrich Wehler erhoben wurden, betrafen vor allem den potentiellen Verlust an Gesamtgeschichte und das Aufkommen eines Neohistorismus. Auch die Frage nach der Repräsentativität ihrer Ergebnisse und nach der Rolle der Alltagsgeschichte als Ergänzung oder Alternative zur herkömmlich betriebenen Geschichtswissenschaft wurden aufgeworfen.

Sehr klar kam bei dieser Debatte aber auch zum Ausdruck, daß es sich hierbei nicht um einen reinen, innerwissenschaftlichen Methodenstreit handelte. Vielmehr offenbarten die grundsätzlichen, wissenschaftlichen Positionsunterschiede, daß hinter ihnen unterschiedliche Anschauungen über die Chancen und Kosten des historischen Fortschritts, oder anders ausgedrückt der Modernisierung, zum Vorschein kamen. Der kaum hinterfragte Fortschrittsglaube im technischen und gesellschaftlichen Bereich war in den achtziger Jahren grundlegend ins Wanken geraten und hatte auch die Geschichtswissenschaft nicht unberührt gelassen.


Alltagsgeschichte und Sozialgeschichte

Was hat nun die Alltagsgeschichte bewirkt, die Frage nach der individuellen Erfahrung? Es gibt ganz unzweifelhaft ein neues Interesse an Menschen mit Namen und einer unterscheidbaren Geschichte. Nicht mehr nur anonyme Prozesse und Strukturen stehen im Vordergrund. Damit stellt sich aber auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen Ereignis und Struktur neu. Während die Historische Sozialwissenschaft vor allem betonte, daß die Strukturen die Ereignisse prägten, ging die Alltagsgeschichte verstärkt der Frage nach, inwieweit Ereignisse auf die Strukturen einwirkten.

Aber auch das Verständnis von "Macht" und "Politik" habe sich, wie Wolfgang Hardtwig in einer kritischen Bilanz der Alltagsgeschichte zu Beginn der neunziger Jahre ausführte, geändert. Macht werde zwar auch, aber nicht nur "institutionell ausgeübt durch den Staat und seine Organe, durch den Grundherrn, die Kirche ... Macht wird auch informell ausgeübt und erfahren, in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen rechtlich Gleichen oder zwischen den Geschlechtern." Gleichzeitig begannen sich aber auch die Erklärungshierarchien zu verschieben. Ökonomie und Klassenstrukturen bekamen in der Historischen Sozialwissenschaft den höchsten Erklärungsgrad zugewiesen, was für die sich industrialisierenden Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts auch weiterhin Gültigkeit hat. Allerdings sind damit weder ältere Gesellschaften noch die Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa in den letzten Jahren hinreichend zu erklären.


Erfahrungen 1989

Gerade der Umbruch seit 1989 in Deutschland, in Europa, ja im Weltmaßstab muß aber, wie Jürgen Kocka in einem Aufsatz über die "Perspektiven für die Sozialgeschichte der neunziger Jahre" ausführte, Auswirkungen auf die Geschichtswissenschaft, ihre Fragestellungen und Sichtweisen haben. Auch wenn Kocka einräumt. daß die Erfahrungen seit 1989 unterschiedlich zu deuten sind, so ist gleichzeitig für ihn nicht mehr verdrängbar "die ausgeprägte Bedingtheit, ja Abhängigkeit der sozialen Verhältnisse, des Alltagslebens, der Lebenswelt und Kultur von der Politik, und zwar von der Politik in ihren großen, nationenübergreifenden Zusammenhängen. Der Zusammenbnich des Sowjetreiches und des Kommunismus, die staatliche Vereinigung Deutschlands und die damit erst richtig beginnende Vereinigungskrise, die teils schon blutigen Konflikte in Osteuropa und die Renaissance von Nationalismus und rechtsradikaler Gewalt hier bei uns, das sind politische Vorgänge, die sicherlich vielfältig durch soziale, kulturelle, ökonomische Faktoren bedingt sind, die aber - ... - unsere soziale Situation, Kultur und Weltsicht einschneidend beeinflussen. Die Macht der großen politischen Zusammenhänge ist gegenwärtig massiv erfahrbar, und zwar als besorgniserregende Krise."

Bei allen diesen Überlegungen war von der Sozialgeschichte und der Alltagsgeschichte die Rede. Für die Sozialgeschichte ist dies noch einigermaßen zulässig. Ihre Hauptvertreter gruppieren sich seit 1975 um die Zeitschrtft 'Geschichte und Gesellschaft', die sich in ihrem Untertitel als 'Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft' bezeichnet. Bei der Alltagsgeschichte gibt es eine so eindeutige Zuordnung nicht. Dies beginnt bereits beim Begriff. Alltagsgeschichte ist nicht der allgemein anerkannte Oberbegriff. In ähnlicher Weise verwendet werden die Begriffe 'Mikrohistorie', 'Mentalitätsgeschichte' oder 'Erfahrungsgeschichte', um nur einige Beispiele zu nennen. Dabei bedeuten diese Begriffe nicht in jedem Fall dasselbe. Immer steht allerdings der individuelle Mensch bzw. eine Kleingruppe im Vordergrund des Interesses und der Blick geht, wenn überhaupt, von unten nach oben.


Wandel der Erinnerung

Im folgenden möchte ich nun nicht nur einige individuelle Erfahrungen der Nachkriegszeit mit der sogenannten allgemeinen Entwicklung, den großen Linien dieser Jahre vergleichen, sondern noch einen zusätzlichen Gesichtspunkt einführen, nämlich den Wandel der Erinnerungen im Laufe der Jahrzehnte. Besonders reizvoll ist dieser Vergleich seit der deutschen Wiedervereinigung. Zwar wird in der öffentlichen Diskussion häufig ein Bezug zwischen den Jahren nach 1945 in den Westzonen und den Jahren nach 1989 in der ehemaligen DDR hergestellt. Allerdings beschleicht mich dabei gelegentlich das Gefühl, daß sich die öffentlich geäußerte kollektive Erinnerung an diese Jahre bei uns im Westen nur noch teilweise mit den tatsächlichen Gegebenheiten in all ihrer Vielgestaltigkeit deckt.


Keine Angst vor Amerikanern

Zunächst beginne ich nochmals mit dem Verhältnis zu den Alliierten. Bei Kriegsende verbanden zahlreiche Menschen vielfältige Hoffnungen mit den Amerikanern. So gibt es den inzwischen berühmten, weil häufig zitierten Bericht des Sicherheitsdienstes der SS vom März 1945 aus Stuttgart. Darin hieß es, daß die Menschen vor den Amerikanern, mit deren Einmarsch man rechnete, keine Angst hätten. Deshalb wollten auch nur wenige den Aufforderungen der NS-Führung zur Evakuierung folgen. "Es komme ja nicht der Russe, sondern ein kultiviertes Volk und man wisse aus den bereits besetzten Gebieten, daß es den dortigen Bewohnern unter der alliierten Besetzung gut gehe."


Unmut über Entnazifizierung

Ein halbes Jahr später, im November 1945, bertchtete der evangelische Dekan in Künzelsau an den Oberkirchenrat in Stuttgart, daß sich die anfängliche Begeisterung von den Amerikanern besetzt worden zu sein, gelegt habe. Man würde inzwischen bedauern, daß man nicht zur französischen Zone gehöre, weil die bei den Amerikanern praktizierte schematische, und in den Augen der Menschen und des Dekans, sinnlose Entnazifizierung zu vielen Ungerechtigkeiten führe. Die Amerikaner hätten im Unterschied zu den Franzosen keinerlei Verständnis für die deutschen Besonderheiten und würden einfach ihre Verhältnisse zuhause auf ihre Besatzungszone übertragen. Zu diesem Zeitpunkt wären trotzdem die meisten Menschen im französisch besetzten Süden des Landes mit einem Tausch der Besatzungsmacht sofort einverstanden gewesen.


Blick auf Europa

Wie man an diesen kleinen Beispielen sieht, sollte man sich davor hüten, positive Entwicklungen aus der Zeit nach 1948/49 automatisch auf die Jahre davor zu projizieren.

Dazu gehört auch, daß wir bis heute ein etwas "germano-zentrisches" Geschichtsbild haben. Deutschland war nur ein, wenn auch sehr wichtiges Thema der amerikanischen Europa-Politik. Zwar gewannen die Westzonen im beginnenden Ost-West-Konflikt eine immer größere Bedeutung. Aber die Amerikaner konnten sich in Europa nicht behaupten, wenn nicht auch die west- und südeuropäischen Staaten, allen voran Frankreich und Italien, aber auch Belgien oder Griechenland, Verbündete blieben.

Dabei sollte nicht vergessen werden, daß die Kommunisten sehr große Erfolge bei demokratischen Wahlen im Westen, in Frankreich und Italien, wo sie maßgeblich am antideutschen Widerstand beteiligt gewesen waren, erzielt hatten. Die katastrophale wirtschaftliche Lage in den vom Krieg heimgesuchten Ländern Europas ließ ein weiteres Anschwellen der Radikalen befürchten. Der Marshall-Plan war deshalb auch kein Hilfsprogramm für Deutschland, sondern primär für die übrigen europäischen Staaten. Da aber eine wirtschaftliche Gesundung Europas mit einem am Boden liegenden Deutschland nicht möglich war, wurden die Westzonen in dieses Programm einbezogen.


Amerikaner contra Franzosen

Zu der geforderten Analyse aus der Zeit heraus gehört auch, daß die amerikanische Militärregierung in den ersten Jahren nach 1945 mindestens ebensoviele Konflikte mit den Franzosen wie mit den Russen hatte. Da die Franzosen an der Konferenz von Potsdam nicht beteiligt worden waren, fühlten sie sich auch nicht an deren Entscheidungen gebunden. So lehnten sie die von den Amerikanern, aber auch von den Russen geforderten deutschen Zentralverwaltungen, vor allem für Wirtschaft und Verkehr, immer wieder ab. Gerade General Clay trat deshalb sehr lange für eine entschiedenere amerikanische Politik gegenüber Frankreich ein. Erst 1947 begann sich dieses Bild zu wandeln. Es ist deshalb bis heute auch strittig, ob sich die Rede von Außenminister Byrnes am 6. September 1946 in Stuttgart in den Passagen, in denen sie unter den Alliierten strittige Fragen ansprach, stärker gegen die Franzosen oder gegen die Sowjets richtete.


Französische Besatzung

Die Beurteilung der französischen Besatzungspolitik in Deutschland schwankt bis heute erheblich. Dazu beigetragen hat sicherlich auch, daß die Franzosen als letzte der drei westlichen Besatzungsmächte ihre entsprechenden Archive vor wenigen Jahren zumindest teilweise freigegeben haben. Die bisherigen Forschungsergebnisse zeigen ein sehr viel differenzierteres und auch positiveres Bild der Jahre 1945 - 1949 als bisher angenommen. In der kollektiven Erinnerung wird die französische Besatzungspolitik überwiegend negativ beurteilt, angefangen vom Einmarsch, über die schlechte Ernährungslage bis zur Demontage und den Abholzungen. Dabei wird allerdings häufig vergessen, daß die Franzosen gerade vier Jahre Besatzungsherrschaft der Deutschen hinter sich hatten.

Weitgehend verdrängt aus der Erinnerung ist dagegen die sehr positive Sozial- und Kulturpolitik. Vielleicht hängt dies damit zusammen, daß diese Ansätze mit der Währungsreform, die zahllosen kulturellen Aktivitäten die finanzielle Basis entzog, und der Gründung der Bundesrepublik, die zonenspezifische Initiativen und Regelungen beendete, nicht mehr weiterbetrieben werden konnten. Neben der Entnazifizierung ist die Erinnerung an die Franzosen noch in einem weiteren, wenn auch nicht so bedeutenden Punkt besser als an die Amerikaner und zwar bei der Wohnraumbeschlagnahmung. Wenn die Amerikaner Wohnungen benötigten, beschlagnahmten sie die ganzen Häuser, unabhängig davon, ob sie alle Wohnungen benötigten. Die bisherigen deutschen Wohnungsinhaber mußten die Häuser räumen. Die Franzosen dagegen nahmen nur die Wohnungen in Beschlag, die sie tatsächlich nutzten. Die übrigen deutschen Hausbewohner konnten bleiben. Es gibt Berichte, daß Deutsche sogar froh waren, wenn einzelne Franzosen in ihr Haus zogen, natürlich nicht in ihre eigene Wohnung, weil damit zumeist die Sicherheit des ganzen Hauses vor Übergriffen und Requisitionen gewährleistet war.


Erfahrungen mit Russen

Selbst mit der Besatzungsmacht, die in allen Umfragen der Nachkriegszeit, natürlich nur im Westen Deutschlands, am schlechtesten abschnitt, nämlich mit den Russen, gab es individuell durchaus andere Erfahrungen. Die Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg hatte 1995 zur Erinnerung an das Kriegsende einen Wettbewerb ausgeschrieben. Es sollten die persönlichen Erlebnisse von 1945 geschildert werden. Während vergleichsweise wenige Berichte über das Kriegsende im Südwesten eingingen, wurden sehr viele, zumeist umfangreiche Berichte über Kriegsgefangenschaft und Vertreibung eingesandt.

Darunter waren sehr eindrückliche Schilderungen von drei Frauen, die zunächst in der Tschechoslowakei, in Ostpreußen und Schlesien geblieben waren. Die Schlesierin war zunächst nach Westen geflohen, kam aber im Mai 1945 nicht mehr über die deutsch-tschechische Grenze und kehrte daraufhin nach Schlesien zurück. 1947 floh sie dann mit Hilfe von russischen Soldaten, die sie mit einem Militärlastwagen durch die polnischen Grenzkontrollen in die Sowjetische Besatzungszone schmuggelten. Alle drei berichteten positiv über das Verhalten der Russen, dagegen sehr negativ über das Verhalten von Polen und Tschechen. Diese drei Berichte kann man nun nicht verallgemeinern, aber es ist immerhin bemerkenswert, daß drei Frauen, die sich nicht kennen und ihr damaliges Schicksal keineswegs verklärt schildern, in völlig verschiedenen Gebieten positive Erfahrungen mit Russen gemacht hatten. Auch hier differieren also individuelle Erfahrungen mit kollektiven Erinnerungen.


Heimatvertriebene

Über die Aufnahme der Vertriebenen in Südwestdeutschland ist in den letzten Jahren sehr viel veröffentlicht worden, deshalb bedarf es hier keiner intensiveren Erörterung. Erwähnt werden sollte allerdings, auch aufgrund aktueller Diskussionen, daß sie nicht mit Freude oder gar offenen Armen empfangen wurden. Teilweise zerstörten Einheimische lieber eigenen Wohnraum, als Vertriebene aufzunehmen.

Diese Differenzen machten auch vor Parteien nicht Halt. In den Südwesten kamen zahlreiche Sudetendeutsche, darunter auch einige Sozialdemokraten. Da die Vertriebenen zunächst in die unzerstörten ländlichen Gebiete eingewiesen wurden, in denen die Sozialdemokraten traditionell über keine große Anhängerschaft verfügten, konnte es vorkommen, daß im Ortsverein die Vertriebenen überwogen, was zu Spannungen führte. Allerdings gelang es zunächst keiner der vier zugelassenen Parteien, CDU, SPD, DVP und KPD, trotz verschiedener Bemühungen, die Vertriebenen zu integrieren. Bis 1949 verhinderten die Amerikaner durch ihr Zulassungsverbot für Vertriebenenparteien, daß diese eine eigenständige Partei bildeten. Bei den Gemeinderatswahlen gab es allerdings sogenannte Flüchtlingslisten, die Ende 1947 in zahlreichen Orten große Erfolge erzielten, zumal die Wahlbeteiligung der Vertriebenen nicht selten die der Einheimischen übertraf.

Auch bei den ersten Bundestagswahlen 1949 konnten Vertrtebene nur bei den etablierten Parteien oder als Einzelbewerber kandidieren. In Esslingen setzte sich ein Vertriebener sogar als Einzelbewerber durch, weil CDU, SPD und DVP etwa gleichstark waren. Allerdings hatte das Bischöfliche Ordinariat in Rottenburg dem Sieger, einem katholischen Priester, die Kandidatur untersagt, was nach der Wahl zu endlosen Auseinandersetzungen führte. Der Gewählte, Franz Ott, war allerdings nicht bereit, auf sein Mandat zu verzichten und blieb bis zur nächsten Wahl 1953 im Bundestag.


Unterschiedliche Bewertung des Krieges

Nachdem in den vorangegangenen Vorträgen bereits sehr viel zum Kriegsende gesagt worden ist, sollen im Folgenden einige Unterscheidungsmerkmale aufgezählt werden, die maßgeblich die individuellen Erfahrungen geprägt haben. Ein ganz wesentliches Unterscheidungsmerkmal war Stadt-Land, wobei es natürlich auch weitgehend unzerstörte Städte wie Esslingen, Heidelberg oder Tübingen und stark zerstörte Dörfer wie z.B. Brettheim in Hohenlohe gab.

Nicht zu unterschätzen sind die Differenzierungen aufgrund des Geschlechts und des Alters. Auf die zum Teil sehr schweren Erfahrungen der Frauen ist bereits hingewiesen worden. Die Einschätzung des Kriegsendes war und ist aber auch häufig eine Generationenfrage. So standen die meisten evangelischen Pfarrer, deutschnational und monarchistisch, auch nach dem Ersten Weltkrieg dem Krieg positiv gegenüber. Sie bezeichneten sich teilweise sogar als "Pfarrkrieger". Einige dieser "Pfarrkrieger" trafen sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg, offensichtlich ungebrochen. Allerdings beklagte ein Pfarrer in einem Brief von 1948, daß leider in der jüngeren Generation nicht mehr viel Verständnis für ihr Anliegen zu finden sei. Deshalb konnte man zu einemTreffen auch nur ganz wenige jüngere Pfarrer einladen.

Eine wesentliche Rolle spielte die Unterscheidung Einheimischer-Evakuierter/Vertriebener. Es gab nämlich bei Kriegsende nicht nur sogenannte Flüchtlinge, sondern auch zahlreiche Evakuierte. Von damals etwa fünf Millionen Einwohnern Badens und Württembergs lebten etwa eine Million nicht am Heimatort. Freiwillig oder nach schweren Bombenangriffen, waren viele Kinder und Frauen aus der Stadt zu Verwandten aufs Land gezogen. Aber auch zahlreiche Arbeitskräfte waren mit ihren Betrieben in vermeintlich weniger "luftgefährdete" Gebiete verlagert worden.

Nicht vergessen werden sollte auch die politische Einstellung. Zwar gab es nach 1945 kaum mehr Menschen, die sich zu ihrem politischen Engagement als Nationalsozialisten im Dritten Reich bekannten, aber für die individuelle Beurteilung des Kriegsendes spielte es eine wichtige Rolle, ob man überzeugter Nationalsozialist, Opportunist, politisch indifferent gewesen war oder dem Regime kritisch gegenübergestanden hatte. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, daß zumindest ein Teil der Elite des Dritten Reiches, nämlich die Kreisleiter, nach Kriegsende zur Verantwortung gezogen wurden und meist nicht mehr richtig oder nur mit großen Schwierigkeiten wieder Fuß fassen konnten, im Unterschied zu zahlreichen Nutznießern, Mitarbeitern und Tätern des Dritten Reiches, die an öffentlich weniger exponierten Stellen gewirkt hatten.


Verschiedene Termine des Kriegsende

Selbst das Kriegsende war nicht für alle Menschen am selben Tag, gar am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation. Für die Menschen an der Grenze zu Belgien war der Krieg schon 1944 zu Ende, in Baden und Württemberg zwischen März und April 1945. Wer Angehörige vermißte oder in Kriegsgefangenschaft wußte, für den war der 8. Mai das Ende der Kampfhandlungen, aber nicht das Ende des Krieges. Für manche kam das Kriegsende erst 1955 mit der Rückkehr der letzten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion.


Kriegsende in den Medien

Ein besonderes Problem stellt die Darstellung des Kriegsendes in den Medien dar, die das Bild der inzwischen weit überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung über diese Zeit prägen. Nun sind die Medien, vor allem das Fernsehen auf möglichst zeitgenössische Bilder angewiesen. Aber damals wie heute steht das Spektakuläre und nicht das Alltägliche im Mittelpunkt des Interesses. Die alliierten und deutschen Kameraleute haben zumeist Kämpfe bei Kriegsende gefilmt. Nun war es aber sehr gefährlich, wirkliche Kämpfe zu filmen. Man hat sich deshalb häufig mit gestellten Szenen beholfen. Dabei kamen "Straßenkämpfe" zustande. die keiner der beteiligten Soldaten überlebt hätte. In Schwenningen, das in der französischen Zone lag. rückte im Herbst 1945 ein amerikanisches Filmteam an. Alle Jugendlichen zwischen 16 und 18, derer man habhaft werden konnte, mußten antreten. Sie erhielten, wie ein Beteiligter berichtete, HJ-Unifonnen und deutsche, natürlich ungeladene Gewehre. Dann schickte man sie in einen Keller, aus dem sie mit erhobenen Händen herauskriechen mußten. Wozu dieser Film eingesetzt wurde, ist leider nicht bekannt.

In Karlsruhe hatte der deutsche Kommandant die Stadt kampflos geräumt, was ihm ein Verfahren eintrug, das er aber überstand. Allerdings führte dieses Verfahren wohl dazu, daß er als Stuttgarter Kommandant die Stadt nicht kampflos räumte und fast alle Brücken noch sprengen ließ. Da die Eroberung von Karlsruhe so unspektakulär verlaufen war, mußte für die Wochenschau zumindest etwas geboten werden. Die Franzosen warfen deshalb die Akten des badischen Innenministeriums auf den Hof und zündeten sie an.


Nachgestellte Fotos

Wie unsere eigenen Recherchen im Haus der Geschichte Baden-Württemberg ergeben haben, gibt es nur ganz wenige Photos, Filme konnten wir bisher nicht finden, die den Alltag bei Kriegsende zeigen. Unser Bild vom Kriegsende ist deshalb von Kämpfen und zerstörten Städten geprägt. Nun ist es unzweifelhaft. daß bei Kriegsende viele Städte auch im Südwesten zerstört waren. Es sei nur an Pforzheim, Heilbronn, Friedrichshafen, Ulm, Stuttgart, Mannheim, Karlsruhe, Bruchsal oder Freiburg erinnert. Aber die Mehzzahl der Gemeinden des Landes hatte den Krieg äußerlich weitgehend unbeschadet überstanden. In einzelnen Landkreisen, vor allem im Süden des Landes, waren nur wenige Wohnungen zerstört worden. In den Landkreisen Ravensburg, Saulgau und Sigmaringen beispielsweise wurden nur 0,1% der Wohnungen zerstört. In fast allen übrigen Kreisen lag der Zerstörungsgrad unter 10%. Selbst in den vom Luftkrieg hart betroffenen Städten Freiburg, Karlsruhe und Stuttgart blieben zwei Drittel bis drei Viertel der Wohnungen, wenn auch häufig eingeschränkt, bewohnbar.

Die Macht der Bilder, vielleicht aber auch die Erinnerungen an die besonders schrecklichen Ereignisse des Luftkrieges und der Kämpfe im März/April 1945 haben dazu geführt, daß der Südwesten wie ganz Deutschland im Bewußtsein auch vieler Jugendlicher eine einzige Trümmerwüste war.

Nun könnte man sagen, diese Differenzierungen zum Kriegsende und zur Nachkriegszeit seien nicht weiter von Bedeutung oder gar nur eine Debatte unter Spezialisten. Die Wiedervereinigung und die damit einhergehenden Probleme erfordern nun jedoch ein genaueres Wissen um unsere westdeutsche Geschichte. An zwei Beispielen soll dies verdeutlicht werden, nämlich an dem Umgang mit der Entnazifizierung und der wirtschaftlichen Entwicklung vor und nach 1945.


Entnazifizierung

Die vor allem von den Amerikanern zunächst sehr konsequent betriebene Entnazifizierung stieß von Anbeginn an auf hinhaltenden Widerstand auf deutscher Seite. Die Arbeit der Spruchkammern, die praktisch ein ganzes Volk politisch beurteilen sollten, wurde nie positiv eingeschätzt. Bereits 1948 berichtete die Spruchkammer Heilbronn, daß die Bevölkerung, die der Entnazifizienzng schon immer kritisch gegenübergestanden hatte, inzwischen jedes Interesse verloren habe. "Der Krebsschaden war", wie es wörtlich im Abschlußbericht hieß, "daß kaum einer mehr den Mut fand, selbst gegen einwandfrei festgestellte Aktivisten belastend aufzutreten, oft auch dann nicht, wenn er sich sogar früher schon einmal gegen den Betroffenen mit konkreten Behauptungen festgelegt hatte."

Vielleicht ist es angesichts der unterschiedlichen Einstellung in den alten und neuen Bundesländern zum Umgang mit der Stasi-Vergangenheit nicht unwichtig, daran zu erinnern, daß im Mai 1951, also sechs Jahre nach Kriegsende, das Ausführungsgesetz zu Art. 131 Grundgesetz verabschiedet wurde, das fast allen Nazi-Belasteten die Rückkehr in öffentliche Ämter ermöglichte. Kurze Zeit darauf hat eine Allparteienkoalition im baden-württembergischen Landtag das Ende der Entnazifzierung und die vollständige Sperre aller Akten per Gesetz beschlossen. Erst seit wenigen Jahren ist es möglich, die fast 50 Jahre alten Akten für wissenschaftliche Zwecke zu benutzen. Dies ist kein Plädoyer für eine Schließung der Stasi-Akten. Vielmehr sollte die Erinnerung an den eigenen, sehr problematischen Umgang mit der Erinnerung an den eigenen, sehr problematischen Umgang mit der Vergangenheit zu mehr Verständnis für die Sorgen und Nöte der Menschen in den neuen Bundesländern führen. Zu moralischer Überheblichkeit besteht wahrlich kein Anlaß.


Wirtschaftliche Entwicklung

Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Vergleich zwischen den wirtschaftlichen Startchancen in den Westzonen 1948/49 mit denjenigen der neuen Bundesländer 1990. Herr Kollmer hat bereits einiges zum Wirtschaftswunder in den alten Bundesländern ausgeführt. Nach der Wiedervereinigung glaubten nicht wenige, auch angesichts der riesigen Transferleistungen, daß sich ein solches Wirtschaftswunder in kürzester Zeit im Osten Deutschlands wiederholen müßte. Nun würde es hier zu weit führen, alle damit zusammenhängenden Probleme aufzuzählen. Hervorheben möchte ich die unvollständige oder falsche Erinnerung an die eigene Vergangenheit, die zu dieser Fehleinschätzung beitrug. Die Voraussetzungen der neuen Bundesländer waren nämlich 1990 schlechter, als die der alten Bundesländer 1948.

Die deutsche Industrie gehörte 1945 in zahlreichen Branchen, Chemie, Maschinenbau, Optik etc., technologisch zur Weltspitze. Die alliierten Bombenangriffe hatten in etwa nur soviel Industrieanlagen zerstört, wie während des Krieges neu hinzugekommen waren. Das heißt, daß das deutsche Industriepotential 1945 gegenüber der Vorkriegszeit kaum geschmälert worden war. Dazu kam, daß die deutsche Wirtschaft während des Dritten Reiches privatwirtschaftlich organisiert war. Die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft, das Privateigentum an Produktionsmitteln, war also bereits vorhanden.

Die DDR-Wirtschaft war dagegen in Staatsbetrieben organisiert und große Teile der Industrieanlagen waren veraltet. In keiner wichtigen Branche gehört die DDR technologisch zur Weltspitze. Auch deshalb waren die Chancen für den Aufschwung Ost schlechter als für das Wirtschaftswunder nach 1948/49.


Zurückhaltende Bewertung

Als Konsequenz aus den Ergebnissen der Alltagsgeschichtsforschung und den Umbrüchen des letzten Jahrzehnts schlägt Jürgen Kocka eine 'Politische Sozialgeschichte' vor, die sich allerdings von ihrer Vorgängerin der sechziger und siebziger Jahre wesentlich unterscheidet. "Die politische Sozialgeschichte der neunziger Jahre, wird vielmehr", nach den Worten Kockas, "die kulturelle Dimension, das kulturelle und soziale Wissen, die Lebensformen und die Deutungen der Menschen als politikbedingende und politikbeeinflußte Momente ernst nehmen und überhaupt der Geschichte der Erfahrungen und Erwartungen viel Gewicht einräumen - ein dauerhaftes Ergebnis des letzten Jahrzehnts, teilweise auch ein produktives Ergebnis der alltagsgeschichtlichen Herausforderung." Die Geschichte der Strukturen, Prozesse und Entscheidungen muß in Verbindung gebracht werden mit ihren ganz unterschiedlichen Konsequenzen auf das Schicksal der einzelnen Menschen, deren Verhalten hinwiederum auf diese Strukturen und Prozesse ganz wesentlich Einfluß nimmt.

Insofern ist auch ein Zeitzeuge, dessen individuelle Erfahrungen den allgemeinen Entwicklungen entgegenlaufen, eine wichtige Erfahrung gerade auch für Schülerinnen und Schüler. Damit erkennt man nämlich, daß es die allgemeine Erfahrung für alle nicht gibt. Das Schicksal eines Kreisleiters nach 1945 ist kein 'normales' Schicksal, aber diese Erfahrung trägt vielleicht zu einem differenzierteren Verständnis von Geschichte überhaupt bei.

Dies verhindert auch einfache, monokausale Erklärungsmuster. Historische Entwicklungen sind komplex. Aber eine Vertrautheit damit vermittelt, wie Hans-Ulrich Wehler vor einigen Jahren schrieb, "ein Gespür für die Härte von Konflikten, für den Egoismus von Interessen, für die Widerstandsfähigkeit von Institutionen, für die Widerspenstigkeit der Realität, die sich dem gewissermaßen vollständigen Verständnis immer wieder entzieht - nicht zuletzt schärft sie das Urteil, was die Verführbarkeit von Menschen, die stets gegenwärtige Gefahr der Entartung und des Verrats zivilisatorischer Gesittung angeht." Historisches Wissen besitzt "die unschätzbare Fähigkeit, zu einem skeptischen, realitätsnahen Urteil und Verständnis von Problemen anzuhalten."


Literatur:

Winfried Schulze, Hrsg., Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Eine Diskussion, Göttingen 1994.

Hans-Ulrich Wehler, Aus der Geschichte lernen? Essays, München 1988.