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"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

 

Einleitung




Inhaltsverzeichnis     


Auch nach über einem halben Jahrhundert gehört die Ermordung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen durch das nationalsozialistische Regime zu denjenigen Verbrechen der NS-Diktatur, denen sich das menschliche Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen nur schwer zu nähern vermag. Wie nur noch der "Holocaust" steht die Tötung von Hilfsbedürftigen und Wehrlosen im Rahmen des sogenannten "T4"-"Euthanasie"-Aktion für das Ende jeglicher Humanität während der Zeit des Dritten Reiches.

In einer abgeschiedenen Gegend in der Nähe von Münsingen auf der Schwäbischen Alb (Kreis Reutlingen) liegt das Schloß Grafeneck. Hier vollzog sich mit der Ermordung von 10.654 Menschen - Männern, Frauen und Kindern -, eine der grausamsten Barbareien der NS-Diktatur.

Die Bedeutung des Ortes Grafeneck geht durch die Geschehnisse des Jahres 1940 weit über lokale und regionale Bedeutung hinaus. Zu einer Vernichtungsanstalt umfunktioniert und mit einer Gaskammer ausgestattet - der ersten der Menschheits- und Weltgeschichte überhaupt, in der industriell gemordet wurde - war Grafeneck der Ort, an dem am 18. Januar 1940 die systematische Tötung von Menschen im nationalsozialistischen Deutschland begann und die sogenannte NS-"Euthanasie"-Aktion T4 ihren Anfang nahm. Mit der Erfassung aller jüdischen Patienten in den psychiatrischen Einrichtungen Württembergs und Badens und deren Tötung in Grafeneck sowie der späteren Übernahme der Technologie und des Personals der Gasmordanstalten begann hier auch der Weg in den "Holocaust", der Ermordung der deutschen und europäischen Juden.

Für die anderen fünf "T4"-Vernichtungsanstalten des NS-Staates besaß Grafeneck eine Vorbildfunktion. Südwestdeutschland mit Württemberg, Hohenzollern und Baden war die erste Region Deutschlands, die von der "Euthanasie"-Aktion erfaßt wurde. Diese Tatsachen begründen die zentrale und einzigartige Bedeutung Grafenecks für das heutige Bundesland Baden-Württemberg und die Bundesrepublik Deutschland.

Von den sechs im Nationalsozialismus im Rahmen des "Euthanasie"-Programms existierenden Vernichtungsanstalten war Grafeneck die einzige, die vor ihrer Beschlagnahmung, einen kirchlichen Träger hatte. In Grafeneck war dies die Samariterstiftung Stuttgart, die dem Landesverband der Inneren Mission und somit der Evangelischen Landeskirche Württtemberg angehörte. Von den 10.654 in Grafeneck ermordeten Menschen stammten über 800 aus evangelischen Einrichtungen der Behindertenhilfe im heutigen Baden-Württemberg.

Untrennbar ist der Ort Grafeneck verknüpft mit der Landesgeschichte Baden-Württembergs, mit all seinen Landesteilen, seinen Städten und Ortschaften.

Die Opfer von Grafeneck stammten aus über 40 Einrichtungen Süddeutschlands, hauptsächlich aus Baden, Württemberg und Hohenzollern, aber auch aus Bayern.

Für alle diese Einrichtungen, die heute zum allergrößten Teil noch existieren, ist Grafeneck der historische Bezugspunkt schlechthin.

Jeder der vier Regierungsbezirke in Baden-Württemberg, jeder der Stadt- und Landkreise, alle größeren, aber auch eine ungeheure Zahl mittlerer und kleiner Gemeinden Baden-Württembergs haben Opfer der NS-"Euthanasie" zu beklagen. An dieser Stelle sollen lediglich die Heimatorte der Opfer einer einzigen Einrichtung, Stetten im Remstal, aufgezählt werden:

Stuttgart, Karlsruhe, Reutlingen, Vaihingen/Enz, Neuenstein, Eningen/Achalm, Cannstatt, Esslingen, Oberurbach, Ludwigsburg, Ennabeuren, Wimpfen, Heilbronn, Ottenbronn, Pleidelsheim, Sindelfingen, Zuffenhausen, Schorndorf, Göppingen, Untertürkheim, Altensteig, Neckargartach, Kirchheim/Teck, Geislingen/Steige, Strümpfelbach, Ebersbach/Fils, Biberach/Riß, Gültstein, Feuerbach, Schnaitheim, Kornwestheim, Bietigheim, Metzingen, Holzgerlingen, Brackenheim, Neuffen, Rottweil, Waldenbuch, Pfullingen, Heidenheim/Brenz, Stetten i.R., Neuenbürg, Schwäbisch Gmünd, Leutkirch, Ulm, Heimsheim, Tuttlingen, Marbach/Neckar, Gaildorf, Calw, Möhringen, Beutelsbach, Öhringen, Münchingen, Tübingen, Böblingen, Crailsheim, Nufringen, Untertürkheim, Freudenstadt, Haigerloch, Herbrechtingen, Calmbach, Süssen, Eltingen, Aalen, Trossingen, Hemmingen, Kleingartach, Schramberg, Nürnberg, Bolheim, Loßburg, Bietigheim, Giengen/Brenz, Aufhausen, Neustadt, Geißelhardt, Hohenhaslach, Tamm, Hausen ob Lontal, Schwenningen, Gschwend, Kuchen, Nagold, Winnenden, Großaspach, Künzelsau, Asselfingen, Unterensingen, Markgröningen, Mannheim, Hirsau, Schrozberg, Entringen Öhringen, Eschach, Unterböhringen, Magstadt, Sulzbach/Murr, Diefenbach, Hechingen, Aldingen/Neckar, Heuchlingen.

Der Aufbau der vorliegenden als Loseblattsammlung konzipierten Handreichung folgt einer Dreiteilung. Der erste Teil befaßt sich mit den historischen Grundlagen der "Euthanasie"-Verbrechen im nationalsozialistischen Deutschland insbesondere des Südwestens. Im Mittelpunkt steht hierbei der zentrale Ort des Verbrechens: Grafeneck. Verdeutlicht werden soll neben der lokalen und regionalen Dimension die Einbettung der Thematik in die "Gesamtgeschichte des Dritten Reiches". Teil zwei gibt methodische und didaktische Anregungen und Hinweise für die Einbeziehung des historischen Stoffes in den Unterricht unter den verschiedensten, nicht zuletzt aktualisierenden Fragestellungen. Der dritte und letzte Teil stellt in einer Auswahl Materialien, wie Schaubilder und Statistiken, Texte und Bilder bereit.


 


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