Baustein

"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

2.3 Reaktionen auf die "Euthanasie"

Die Öffentlichkeit und die "Euthanasie"




Inhaltsverzeichnis     


Was die einheimische Bevölkerung anging, so steht fest, daß die meisten, sofern sie sich dafür interessierten, recht genau wußten, was in Grafeneck vorging und warum täglich dichte Rauchschwaden und beißender Geruch vom Schloß herabzogen.

Bald fingen in Münsingen Geschichten an zu kursieren, wonach auch gesundheitsgeschädigte Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg der "Gnadentod" ereile. Dieser schlechte Vaterlandsdank soll damals u.a. auch Unruhen unter den in Münsingen stationierten Truppen hervorgerufen haben.

Insgesamt verharrten die Münsinger und die Bewohner der umliegenden Ortschaften nicht im Widerstand, wie sie es nach Kriegsende gerne behaupteten. So profitierten z.B. Münsinger Geschäftsleute recht gut von den Aufträgen aus der Tötungsanstalt, reparierte ein namhaftes Autohaus die Wagen des Fahrzeugparks oder nahm die Molkerei täglich die Grafenecker Milch in Empfang, die doch von Kühen eines wegen Seuchengefahr abgeriegelten Geländes stammte.

Grausiger Humor ging damals um. Flüsterwitze ließen passiven Widerstand bestenfalls ahnen. Man drohte sich mit Sätzen wie "Auch du gehst den Kamin hoch!" oder "Du kommst noch mit dem grauen Wagen fort!" Die meisten schüchterten freilich solche Sprüche eher ein und ließen eventuelle Gedanken an Widerstand schnell im Keim ersticken.

Dem Sohn eines Juden geriet ein Flugblatt in die Hand, das ihn als "lebensunwert" und potentielles "Euthanasie"-Opfer abqualifizierte (M 38).

Wie der eher passive Widerstand der Albbevölkerung in der Praxis aussehen konnte, mag an zwei Beispielen deutlich werden: Wenn die grauen Busse tagsüber - was seltener vorkam - an Bauern vorbeifuhren, die auf dem Feld arbeiteten, nahmen die Männer die Mütze vom Kopf und unterbrachen die Arbeit. Ähnlich das Verhalten derjenigen, die im Zug saßen, der nach Münsingen fuhr und am Bahnhof Marbach vorbeikam. Wenn dort das Schloß Grafeneck ins Blickfeld geriet, verstummten die Gespräche im Zuge und schauten alle wie gebannt hinauf zum Schloß.

War das Verhaltensspektrum der Öffentlichkeit auch weitgehend von Anpassung und Unterwerfung geprägt, so gab es doch auch Einzelfälle von Mut und verbalem Widerstand. Vor allem tauchten immer wieder Angehörige von Patienten auf, die sich nach dem Verbleib ihrer Angehörigen erkundigten (M 33, 35). Zahlreich waren auch die Proteste dagegen, daß eine Anstalt ihre Patienten herausgab, ohne die Angehörigen zu benachrichtigen und ohne mitzuteilen, wohin man die Kranken gebracht hatte. Manche waren wütend darüber, daß man sie erst nach dem Tod verständigte, andere resignierten.

Auf bei ihnen eingehende Schreiben mit Vorwürfen reagierten die Tötungsanstalten in der Regel höflich (M 36), wurden aber die Leute bei ihren Anfragen zu deutlich, verbat sich Grafeneck "ganz energisch derartige unverschämte Verleumdungen" und forderte z.B. dazu auf, "diese Verdächtigungen binnen acht Tagen mit dem Ausdruck des Bedauerns zurückzunehmen." Andernfalls, so drohte man, werde man die Gestapo informieren.

Vergeblich hat sich der Vater der Briefschreiberin Helene, selbst praktischer Arzt, für sein Kind eingesetzt, Eingaben in Stuttgart und Berlin gemacht, von dort auch positive Zusagen erhalten, schließlich aber auch die Mitteilung der "Euthanasie"-Anstalt Brandenburg, seine Tochter sei an einem Anfall von Atemlähmung gestorben. Der Brief zeugt nicht nur von großer seelischer Kraft der Schreiberin, sondern ist auch ein beredtes Beispiel dafür, wie wenig bei einer solchen Kranken, die lediglich an epileptischen Anfällen litt, die Rede sein konnte von "leeren Menschenhülsen" und "Ballastexistenzen". Tragik und Zynismus im Falle der Helene: Kurz nach der Todesmeldung erreichte den Vater die Mitteilung, seine Tochter sei von einer "Verlegung" ausgenommen.

In den "Leipziger Neuesten Nachrichten" erschienen im September 1940 eine Reihe von Anzeigen, wonach auffällig viele Menschen plötzlich und unerwartet in Grafeneck und anderen "Euthanasie"-Orten gestorben und bereits eingeäschert seien (M 37).

In dieser Form stummen Protests hieß es: "Nach langer Ungewißheit erhielt ich von Grafeneck die unfaßbare Nachricht...." oder "Nach Wochen langer Ungewißheit erhielten wir die unfaßbare Nachricht vom plötzlichen Tod ...." Auch das Ehrenkreuz der Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg bildete man ab und drückte damit aus, daß auch verdienten Soldaten der "Gnadentod" nicht erspart geblieben war.


 


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