Baustein

"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

 

 

Vorgeschichte und Erklärungsversuche




Inhaltsverzeichnis     


Der ungeheuerliche Vorgang der Tötung von Anstaltspatienten im Nationalsozialismus besitzt eine lange Vorgeschichte. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden, ausgehend von sozialdarwinistischen Vorstellungen, Ideen der Rassenhygiene und der Erbgesundheitspflege (Eugenik) propagiert. Dem Staat wurde die Aufgabe zugewiesen, die natürliche positive Selektion bzw. Auslese zu steuern und zu verstärken. Eine Radikalisierung erfuhren diese Vorstellungen während der Weimarer Republik durch den Vorwurf, daß Fürsorge und Sozialgesetzgebung diese natürliche Selektion verhindere. Sie gipfelte schließlich in dem perfiden Vorwurf, die Tüchtigen und Starken hätten ihr Leben während des Ersten Weltkrieges für den Staat geopfert und die deutsche Bevölkerung habe gehungert, während die Insassen der Heil- und Pflegeanstalten ("Irrenhäuser") die notwendigen Nahrungsmittel aufgezehrt und potentielle Lazarettbetten blockiert hätten. Hieraus entwickelten sich Forderungen, die Träger von angeblich "erblicher Minderwertigkeit" an der Fortpflanzung zu hindern. Dies sollte zuerst über Zwangssterilisierungen gewährleistet werden, eskalierte dann aber im weiteren Verlauf, in der Foederung nach der "Vernichtung lebensunwerten Lebens". Eine Zäsur von nicht zu unterschätzender Bedeutung stellt hierbei der Beginn des Zweiten Weltkrieges dar.

Hiermit deutet sich schon der argumentative Zusammenhang verschiedener Rechtfertigungsmuster an. Einerseits ist dies die Rassenhygiene, deren erklärtes Ziel es war, den deutschen "Volkskörper" zu reinigen. "Nicht mehr der leidende Mensch stand im Zentrum psychiatrischen Handelns, sondern die überindividuelle Sozialstruktur: Der Staat, die Nation, das Volk" oder aber: die Rasse. Derartige Überlegungen verdeutlichen auch den Zusammenhang von "Heilen und Vernichten" in nationalsozialistischer Zeit, denn die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" bedeutete innerhalb dieses sich wissenschaftlich gebenden Gedankengebäudes, die Stärkung und Gesundung von Volk und Rasse. "Heilen und Vernichten" stehen in diesem Denken nicht nur in einem untrennbaren Zusammenhang, sondern sie werden vielmehr identisch.

Andererseits tauchten zeitlich parallel dazu andere Begründungsmuster auf, die die "Ausmerze lebensunwerten Lebens" zu legitimieren suchen. Es waren dies finanzelle, ökonomische, nahrungspolitische aber auch angeblich militärische ‚Notwendigkeiten‘, die schließlich den unmittelbaren Anlaß für die "Vernichtung lebensunwerten Lebens" darstellten. Der Ermordung von Anstaltspatienten in den Jahren 1940/41 in der "Aktion T4" lag im Kern eine utilitaristische, ökonomische und militärische, mit anderen Worten zweckrationale Vernunft zugrunde. So lag die "Logik" der Planer bei der "Beseitigung nutzloser Esser" in der Einsparung von Nahrungsmitteln, der Entlastung der öffentlichen Finanzen, der Freisetzung von Ärzten und Pflegepersonal, der Umwandlung von Heil- und Pflegeanstalten in Lazarette und Krankenhäuser sowie in der Möglichkeit zur Umstrukturierung der Anstaltspsychiatrie insgesamt - organisatorisch hin zu einer Verdrängung kirchlicher und privater Träger, inhaltlich zur intensiveren Betreuung therapiefähiger, d.h. arbeitsfähiger Anstaltspatienten.

Als sicher gilt, daß der Reichsärzteführer Wagner bereits 1935 auf dem Reichsparteitag in Nürnberg an Hitler herantrat, um von diesem eine Ermächtigung zur "Vernichtung lebensunwerten Lebens" zu erlangen. Hitler lehnte dieses Ansinnen mit der Begründung ab, "daß, wenn ein Krieg sein soll, er diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchfuhren werde", weil "die Befreiung des Volkes von der Last der Geisteskranken" im Krieg möglich ist und, "wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut ..., der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt". Ferner meinte Hitler, daß "Widerstände, die von kirchlicher Seite zu erwarten wären, in dem allgemeinen Kriegsgeschehen nicht diese Rolle spielen würden wie sonst".

In einer Rede, gehalten am 3. April 1940 vor den versammelten Oberbürgermeistern des deutschen Gemeindetages, unterrichtete Viktor Brack, einer der Hauptorganisatoren der "Aktion T4", über die bereits angelaufenen Mordaktionen:

"In den vielen Pflegeanstalten des Reichs sind viele unheilbar Kranke jeder Art untergebracht, die der Menschheit überhaupt nichts nützen. Sie nehmen nur anderen gesunden Menschen die Nahrung weg und bedürfen oft der zwei- und dreifachen Pflege. Vor diesen Menschen müssen die übrigen Menschen geschützt werden. Wenn man heute schon Vorkehrungen für die Erhaltung gesunder Menschen treffen müsse, dann sei es um so notwendiger, daß man diese Wesen zuerst beseitigte und wenn das vorerst nur zur besseren Erhaltung der in den Heil- und Pflegeanstalten untergebrachten heilbaren Kranken wäre. Den freiwerdenden Raum brauche man für alle möglichen kriegsnotwendigen Dinge: Lazarette, Krankenhäuser, Hilfskrankenhäuser. Im übrigen entlastet die Aktion die Gemeinden sehr, denn es fallen bei jedem einzelnen Falle die künftigen Unterhalts- und Pflegekosten weg".

Während des Nürnberger Ärzteprozesses machte derselbe Viktor Brack folgende Aussage:

"Letzten Grundes bezweckte Hitler [...] jene Leute auszumerzen, die in Irrenhäusern und ähnlichen Anstalten verwahrt und für das Reich von keinem irgendwelchen Nutzen mehr waren. Diese Leute wurden als nutzlose Esser angesehen, und Hitler war der Ansicht, daß durch die Vernichtung dieser sogenannten nutzlosen Esser die Möglichkeit gegeben wäre, weitere Ärzte, Pfleger, Pflegerinnen und andere Einrichtungen für den Gebrauch der Wehrmacht freizumachen."


 


Copyright ©   2000  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de