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"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

4 Materialien

M37 - M42




Inhaltsverzeichnis     


M 37 Todesanzeigen

M 38

Sie sind vom Gauleiter als Träger lebensunwerten Lebens erkannt worden und haben sich infolgedessen beim Krematorium sowieso, Schacht sowieso zur Liquidierung einzufinden und Anmachpapier ('Völkischer Beobachter') mitzubringen. Füße sind vorher zu waschen, damit sie nicht gen Himmel stinken.

Flugblatt, zit. nach: Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat, Frankfurt/M. 1983, S. 254,
Anm. 108

M 39 Brief des Landesbischofs Wurm

19.Juli 1940

Sehr geehrter Herr Reichsminister!

Seit einigen Monaten werden auf Anordnung des Reichsverteidigungsrats geisteskranke, schwachsinnige oder epileptische Pfleglinge staatlicher und privater Heilanstalten in eine andere Anstalt verbracht. Die Angehörigen werden, auch wenn die Unierbringung des Pfleglings auf ihre Kosten erfolgt war, erst nachträglich von der Überführung benachrichtigt. Meist erhalten sie wenige Wochen später die Mitteilung, daß der betreffende Pflegling einer Krankheit erlegen sei und daß aus seuchenpolizeilichen Gründen die Einäscherung hätte stattfinden müssen. Nach oberflächlichen Schälzungen dürften es schon mehrere Hundert Anstaltspfleglinge allein aus Württemberg sein, die auf diese Weise den Tod gefunden haben, darunter auch Kriegsverletzte des Weltkriegs. Durch zahlreiche Anfragen aus Stadt und Land und aus den verschiedensten Kreisen veranlaßt, halle ich es für meine Pflicht, die Reichsregierung darauf aufmerksam zu machen, daß in unserem kleinen Lande diese Sache ganz großes Aufsehen erregt. Zunächst einmal deshalb, weil sich eine der in Betracht kommenden Anstalten, das Schloß Grafeneck, in welches die Pfleglinge eingeliefert werden und wo ein Krematorium und ein Standesamt errichtet worden ist, in Württemberg befindet. Grafeneck ist Eigentum einer Anstalt der Inneren Mission, der Samariterstiftung. die an verschiedenen Orten körperlich und geistig Behinderte seit vielen Jahren aufnimmt und verpflegt. Sie wurde bei Kriegsausbruch auf Weisung des württ. Innenministeriums in das Kloster Reutte in Oberschwaben verlegt; Grafeneck wurde für die Aufnahme der aus anderen Anstallen herbeigeschafften Pfleglinge bestimmt. Das Schloß liegt auf einer Anhöhe der Schwäbischen Alb inmitten eines spärlich bewohnten Waldgebiets. Um so aufmerksamer verfolgt die Bevölkerung der Umgegend die Vorgänge, die sich dort abspielen. Die Krankentransporte, die auf den kleinen Bahnhof Marbach a. L. ausgeladen wurden, die Autobusse mit undurchsichtigen Fenstern, die die Kranken von entfernteren Bahnhöfen oder unmittelbar von den Anstalten bringen, der aus dem Krematorium aufsteigende Rauch, der auch auf größere Entfernungen wahrgenommen werden kann, - dies alles erregt die Gemüter um so mehr, als niemand Zutritt zu dem Schloß bekommt... Es ist gewiß ein großer Schmerz für Eltern, wenn unter ihren Kindern ein nicht vollsinniges ist; aber sie werden, solange Gott dieses Kind am Leben läßt, es ihre ganze Liebe spüren lassen; eine gegenteilige Handlungsweise, die natürlich auch vorkommt, wird durch das Volksempfinden verurteilt. Warum? Weil unser Volk in allen diesen Fragen durch die christliche Denkweise bestimmt wird. Und da die Partei ausdrücklich auf dem Boden eines »positiven Christentums" steht und unter diesem "positiven Christentum« wiederum ausdrücklich und vor allem die ethische Haltung des Christen, besonders auch die Nächstenliebe '.erstanden wissen will, so könnte sie eigentlich die Maßnahmen zur Lebensvernichtung nicht billigen. Wir verstehen deshalb gut, daß die Kreise der Partei, deren Stimme hauptsächlich im "Schwarzen Korps" [SS-Zeitungj zu hören ist, nicht bloß mit dem kirchlichen Christentum, sondern mit jedem Christentum aufräumen wollen, weil es eine Hemmung gegenüber solchen Maßnahmen bedeutet. Sie bestätigen damit die alte, oft gemachte Erfahrung, daß der Bruch mit dem christlichen Glaubensinhalt auch den Bruch mit der christlichen Ethik nach sich zieht. Aber immerhin - bis heute steht der Führer und die Partei auf dem Boden des positiven Christentums, das die Barmherzigkeit gegen leidende Volksgenossen und ihre menschenwürdige Behandlung als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Wird nun aber eine so ernste Sache wie die Fürsorge für hundorttausende leidende und pflegebedürftige Volksgenossen lediglich vom Gesichtspunkt des augenblicklichen Nutzens aus behandelt und im Sinne einer brutalen Ausrottung dieser Volksgenossen entschieden, dann ist damit der Schlußstrich unter eine verhängnisvolle Entwicklung gezogen und dem Christentum als einer das individuelle und das Gemeinschaftsleben des deutschen Volkes bestimmenden Lebensmacht endgültig der Abschied gegeben. Damit ist aber auch § 24 dos Parteiprogrammes hinfällig geworden. Die Berufung darauf, daß nur das konfes-Hionollo Christentum, nicht aber das Christentum als solches bekämpft werde, verfängt hier nicht; denn alle Konfessionen sind dann einig, daß der Mensch oder das Volk die ihm durch das Vorhandensein pflegebedürftiger Menschen auferlegte Last als von Gott auferlegt zu tragen hat und nicht durch Tötung dieser Menschen beseitigen darf.

Ich kann nur mit Grausen daran denken, daß so, wie begonnen wurde, fortgefahren wird. Der etwaige Nutzen dieser Maßregel wird je länger je mehr aufgewogen werden durch den Schaden, den sie stiften werden. Wenn die Jugend sieht, daß dem Staat das Leben nicht mehr heilig ist. welche Folgerungen wird sie daraus für das Privatleben ziehen? Kann nicht jedes Rohheitsverbrechen damit begründet werden, daß für den Betreffenden die Beseitigung eines anderen von Nutzen war? Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr. Gott läßt sich nicht spotten, er kann das, was wir auf der einen Seite als Vorteil gewonnen zu haben glauben, auf anderen Seiten zum Schaden und Fluch werden lassen. Entweder erkennt auch der nationalsozialistische Staat die Grenzen an, die ihm von Gott gesetzt sind, oder er begünstigt einen Sittenverfall, der auch den Verfall des Staates nach sich ziehen würde. Ich kann mir denken. Herr Minister, daß dieser Einspruch als unbequem empfunden wird. Ich wage auch kaum die Hoffnung auszusprechen, daß meine Stimme gehört werden wird. Wenn ich trotzdem diese Darlegungen gemacht habe, so tat ich es in erster Linie deshalb, weil die Angenörigen der betroffenen Volksgenossen von der Leitung einer Kirche einen solchen Schritt erwarten. Sodann bewegt mich allerdings auch der Gedanke, daß dieser Schritt vielleicht doch zu einer ernsten Nachprüfung und zum Verlassen dieses Weges Anlaß geben könnte. Dixi et salvavi unimam rnearn!" Heil Hitler! Ihr ergebener (gez.) D.Wurm

[' Das sage ich zur Rettung meiner Seele! Hesekiel 3.19] BA: R 22.'5021, 81 ff.

M 40

Am 19.Juli habe ich ein Schreiben an Sie gerichtet wegen der planmäßigen Ausrottung der Geisteskranken, Schwachsinnigen und Epileptischen. Seither hat dieses Vorgehen einen ungeheueren Umfang angenommen; neuerdings werden auch die Insassen von Altersheimen erfaßt....Muß das deutsche Volk das erste Kulturvolk sein, das in der Behandlung der Schwachen zu den Gepflogenheiten primitiver Völker zurückkehrt? Weiß der Führer von dieser Sache? Hat er sie gebilligt? Ich bitte, mich in einer so ungeheuer ernsten Sache nicht ohne Antwort zu lassen.

Zweiter Brief des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm vom 5.9.1940 an den Reichsinnenminister Frick, zit. nach: Ernst Klee, Euthanasie im NS-Staat, Frankfurt/M. 1983, S. 249

M 41

Der Erzbischof von Freiburg. 

Freiburg, den I. August 1940

Sc. Exzellenz

Herrn Minister Lammers
Berlin

Reichskanzlei.

Exzellenz, Hochverehrter Herr Minister!

Wir beehren uns, Ew. Exzellen/. Nachfolgendes als dringende Angelegenheit vorzutragen:

Ans den Reihen des Volkes, sowohl Württembergs als Badens, sind wir davon unterrichtet worden, daß in den letzten Wochen schon eine sehr große Anzahl von Geisteskranken und Geistesschwachen in den staatlichen wie auch in den privaten Anstalten der Euthanasie verfallen sind. Namentlich die Angehörigen der Verstorbenen, denen nur die Aschneurne überlassen worden ist, unter Mitteilung einer auffälligen Todesursache, der wenig Glauben geschenkt wird, sind tieferschüttert. Viele der Verstorbenen waren durchaus arbeitsfähig, so daß sie keine Belastung für den Staat gebildet haben. Wir fühlen uns im Gewissen verpflichtet, Ew. Exzellenz dringend zu bitten, doch Ihren weitgehenden Einfluß geltend zu machen, damit das durch das Naturrecht und christliche Gesetz verbotene Verfahren eingestellt wird. Wir denken dabei aus patriotischen Gründen auch an die Wirkung, die das Bekanntwerden obiger Vorgänge in der ganzen kultivierten Welt hervorrufen müßte. Wir erklären uns bereit, auf caritativem Wege für alle die Unkosten aufzukommen, die dem Staat durch die Pflege der zum Tod bestimmten Geisteskranken erwachsen. Wir weisen endlich darauf hin, daß der Krieg mit den Opfern, die er an das Volk stellt, die ungeeignetste Zeit ist. um das Volksgemüt durch die Maßnahmen der Euthanasie zu belasten. Ew. Exzellenz werden verstehen, wie sehr uns diese Angelegenheit auf dem Gewissen liegt und wie herzlich und dringend darum unsere Bitte ist, es möchte unverzüglich diesen Dingen ein Ende bereitet werden. Mit dem Ausdruck unserer ganz besonderen Verehrung und Wertschätzung

gez. Conrad, Erzbischof von Freiburg, Dr. Kottmann, Generalvikar von Rottenburg.

 

M 42 Predigt Bischof von Galens (Ausschnitt)

Ich hatte bereits am 26. Juli bei der Provinzialverwaltung der Provinz Westfalen, der die Anstalten unterstehen, der die Kranken zur Pflege und Heilung anvertraut sind, schriftlich ernstesten Einspruch erhoben. Es hat nichts genutzt. Und aus der Heil-und Pflegeanstalt Warstein sind, wie ich höre, bereits 800 Personen abtransportiert. So müssen wir damit rechnen, daß die armen wehrlosen Kranken über kurz oder lang umgebracht werden. Warum? Nicht weil sie ein todeswürdiges Verbrechen begangen haben, nicht etwa, weil sie ihren Wärter oder Pfleger angegriffen haben, so daß diesem nichts anderes übrig blieb, als daß er zur Erhaltung des eigenen Lebens in gerechter Notwehr dem Angreifer mit Gewalt entgegentrat. Das sind Fälle, in denen neben der Tötung des bewaffneten Landesfeindes im gerechten Krieg Gewaltanwendung bis zur Tötung erlaubt und nicht selten geboten ist. Nein, nicht aus solchen Gründen müssen jene unglücklichen Kranken sterben, sondern darum, weil sie nach dem Urteil irgendeines Amtes, nach dem Gutachten irgendeiner Kommission „lebensunwert" geworden sind, weit sie nach diesem Gutachten zu den „unproduktiven Volksgenossen" gehören. Man urteilt: sie können nicht mehr Güter produzieren, sie sind wie eine alte Maschine, die nicht mehr läuft, sie sind wie ein altes Pferd, das unheilbar lahm geworden ist, sie sind wie eine Kuh, die nicht mehr Milch gibt. Was tut man mit solch alter Maschine? Sie wird verschrottet. Was tut man mit einem lahmen Pferd, mit solch einem unproduktiven Stück Vieh? Nein, ich will den Vergleich nicht bis zum Ende führen -, so furchtbar seine Berechtigung ist und seine Leuchtkraft. Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich hier ja nicht um Pferd und Kuh, deren einzige Bestimmung ist, dem Menschen zu dienen, für den Menschen Güter zu produzieren. Man mag sie zerschlagen, man mag sie schlachten, sobald sie diese Bestimmung nicht mehr erfüllen. Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern. Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von anderen als produktiv anerkannt werden? Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, daß man den „unproduktiven" Mitmenschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden! Wenn man die unproduktiven Menschen töten darf, dann wehe den Invaliden, die im Produktionsprozeß ihre Kraft, ihre gesunden Knochen eingesetzt, geopfert und eingebüßt haben! Wenn man die unproduktiven Mitmenschen gewaltsam beseitigen darf, dann wehe unseren braven Soldaten, die als Schwerkriegsverletzte, als Krüppel, als Invaliden in die Heimat zurückkehren! Wenn einmal zugegeben wird, daß Menschen das Recht haben, „unproduktive" Mitmenschen zu töten - und wenn es jetzt zunächst auch nur arme wehrlose Geisteskranke trifft -, dann ist grundsätzlich der Mord an allen unproduktiven Menschen, also an den unheilbar Kranken, den Invaliden der Arbeit und des Krieges, dann ist der Mord an uns allen, wenn wir alt und altersschwach und damit unproduktiv werden, freigegeben.

Dann braucht nur irgendein Geheimerlaß anzuordnen, daß das bei Geisteskranken erprobte Verfahren auf andere „Unproduktive" auszudehnen ist, daß es auch bei den unheilbar Lungenkranken, bei den Altersschwachen, bei den Altersinvaliden, bei den schwerkriegsverletzten Soldaten anzuwenden ist. Dann ist keiner von uns seines Lebens mehr sicher. Irgendeine Kommission kann ihn auf die Liste der „Unproduktiven" setzen, die nach ihrem Urteil „lebensunwert" geworden sind. Und keine Polizei wird ihn schützen und kein Gericht seine Ermordung ahnden und den Mörder der verdienten Strafe übergeben. Wer kann dann noch Vertrauen haben zu seinem Amt? Vielleicht meldet er den Kranken als „unproduktiv" und erhält die Anweisung, ihn zu töten. Es ist nicht auszudenken, welche Verwilderung der Sitten, welche allgemeines Mißtrauen bis in die Familien hineingetragen wird, wenn diese furchtbare Lehre geduldet, angenommen und befolgt wird. Wehe den Menschen, wehe unserem deutschen Volke, wenn das hl. Gottesgebot: „Du sollst nicht töten", das der Herr unter Donner und Blitz auf Sinai verkündet hat, das Gott, unser Schöpfer, von Anfang an in das Gewissen der Menschen geschrieben hat, nicht nur übertreten wird, sondern wenn diese Übertretung sogar geduldet und ungestraft ausgeübt wird.


 


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