Baustein

Ghettos
Vorstufen der Vernichtung

1939-1944
Menschen in Grenzsituationen

Texte und Unterrichtsvorschläge

Hrsg: LpB, 2000




 

Inhalt

 

Anhang


Zu Baustein 3 - Das Warschauer Ghetto

Das Warschauer Ghetto mit den Augen der
NS-Presse gesehen

und die Stellungnahme des Journalisten dazu - 20 Jahre später.

Es ist rückblickend kaum feststellbar, was aus welchen Motiven heraus verfaßt wurde - was aus Pflicht geschah oder aus Furcht, aus Anpassung oder aus Überzeugung. Erich Peter Neumann war keiner, der häufig antisemitische Vokabeln benutzte, und seine Mitgliedschaft in der NSDAP besagte nicht viel (im Juli 1941 schloß ihn seine Ortsgruppe wegen „Interesselosigkeit und Beitragsrückstand" aus). In einem Bericht über Warschau im März 1941 schrieb er auch eine Passage über das dortige Judenghetto:

„Es läßt sich nicht exakt angeben, ob in diesem Bezirk vierhundert- oder fünfhunderttausend Juden leben. (...) Man muß sich in den Gassen und Straßen des Ghettos aufgehalten haben - dann kann man ermessen, warum es der Warschauer Verwaltung unumgänglich schien, so rasch als möglich eine Trennung zwischen den Juden und den Stadtbewohnern zu ziehen. Auf den engeren Platz beschränkt, prägt sich die anarchische Lebensweise dieser Hunderttausende mit spukhafter Anschaulichkeit ein; es mag wohl kaum einen Ort des Kontinents geben, der einen so plastischen Querschnitt durch die Disziplinlosigkeit und Verkommenheit der semitischen Masse vermittelt. Mit einem Blick kann man hier die ungeheure abstoßende Vielfalt aller jüdischen Typen des Ostens überschauen ; eine Ansammlung des Asozialen, so flutet es aus schmutzigen Häusern und schmierigen Läden, straßauf und straßab, und hinter den Fenstern setzt sich die Reihe der bärtigen, bebrillten Rabbinergesichter fort - ein grausiges Panorama." Am Ende dieser Passage ließ Neumann die antijüdische Politik wie einen Ordnungsvorgang erscheinen: „Die Abgrenzung der Juden hat dem städtischen Leben viel Unruhe genommen. Die Verwaltungsmaschinerie läuft glatter und störungsloser, seit sie sich nicht mehr mit der Unübersichtlichkeit der jüdischen Familien und Stammeszellen beschäftigen muß. Jetzt ist der Ältestenrat dazwischengeschaltet, dem die praktische Auseinandersetzung mit dieser ungefügen Masse zufällt."

„Der Zweck dieses Artikels", rechtfertigte sich Neumann zwei Jahrzehnte danach, „war es allein, mitzuteilen, daß in der polnischen Hauptstadt die Juden zerniert, in ein mittelalterliches Ghetto gesperrt worden waren. Über diesen Vorgang hatte bis dahin niemand berichtet. Die Alternative für den Journalisten lautete damals in vielen Fragen: schweigen oder schreiben. Entschied man sich dafür zu schreiben, mußte man auf formulierte Empörung, auf formulierten Protest schon deshalb verzichten, weil so Geschriebenes nie hätte gedruckt werden können. Man konnte sich nur in das flüchten, was Ernst Jünger etwa zur gleichen Zeit ,Sklavensprache' nannte - und das ohne jede ,moralische' Hemmung, weil man sich zusammen mit der intelligenten Leserschaft des Umstands, Sklave zu sein, ohnehin jederzeit bewußt war."

Aus: N. Frey und J. Schmitz: Journalismus im Dritten Reich, München 1999, 3. Auflage. S. 118 f.

Mögliche Fragen an den Text:

  1. Welche Tatsachen werden berichtet? - Was wird als Tatsache dargestellt?
  2. Welche Bilder sollen im Kopf des Lesers entstehen?
  3. Welche Scheinlogik baut der Artikel auf?
  4. Wie geht der Journalist mit "Ursache und Folge" um?
  5. Ist die Einlassung des Journalisten 20 Jahre später glaubhaft, er habe mit obigem Artikel der Information der Öffentlichkeit gedient? - oder war er einer der "willigen Vollstrecker" der NS-Ideologie? Ist er "belastet" - oder ist er trotz seiner Mitarbeit an einem führenden NS-Blatt geeignet, am Aufbau einer demokratischen Presse mitzuwirken?


Peter Reinhardt
 

 


Copyright ©   2000  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de