Anhang
Zu Baustein 3 - Das Warschauer Ghetto
Das Warschauer Ghetto mit den Augen der
NS-Presse gesehen
und die Stellungnahme des Journalisten dazu - 20 Jahre später.
Es ist rückblickend kaum feststellbar, was aus welchen Motiven heraus
verfaßt wurde - was aus Pflicht geschah oder aus Furcht, aus Anpassung
oder aus Überzeugung. Erich Peter Neumann war keiner, der häufig
antisemitische Vokabeln benutzte, und seine Mitgliedschaft in der NSDAP
besagte nicht viel (im Juli 1941 schloß ihn seine Ortsgruppe wegen
„Interesselosigkeit und Beitragsrückstand" aus). In einem Bericht über
Warschau im März 1941 schrieb er auch eine Passage über das dortige
Judenghetto:
„Es läßt sich nicht exakt angeben, ob in diesem Bezirk vierhundert- oder
fünfhunderttausend Juden leben. (...) Man muß sich in den Gassen und
Straßen des Ghettos aufgehalten haben - dann kann man ermessen, warum es
der Warschauer Verwaltung unumgänglich schien, so rasch als möglich eine
Trennung zwischen den Juden und den Stadtbewohnern zu ziehen. Auf den
engeren Platz beschränkt, prägt sich die anarchische Lebensweise dieser
Hunderttausende mit spukhafter Anschaulichkeit ein; es mag wohl kaum
einen Ort des Kontinents geben, der einen so plastischen Querschnitt
durch die Disziplinlosigkeit und Verkommenheit der semitischen Masse
vermittelt. Mit einem Blick kann man hier die ungeheure abstoßende
Vielfalt aller jüdischen Typen des Ostens überschauen ; eine Ansammlung
des Asozialen, so flutet es aus schmutzigen Häusern und schmierigen
Läden, straßauf und straßab, und hinter den Fenstern setzt sich die
Reihe der bärtigen, bebrillten Rabbinergesichter fort - ein grausiges
Panorama." Am Ende dieser Passage ließ Neumann die antijüdische Politik
wie einen Ordnungsvorgang erscheinen: „Die Abgrenzung der Juden hat dem
städtischen Leben viel Unruhe genommen. Die Verwaltungsmaschinerie läuft
glatter und störungsloser, seit sie sich nicht mehr mit der
Unübersichtlichkeit der jüdischen Familien und Stammeszellen
beschäftigen muß. Jetzt ist der Ältestenrat dazwischengeschaltet, dem
die praktische Auseinandersetzung mit dieser ungefügen Masse zufällt."
„Der Zweck dieses Artikels", rechtfertigte sich Neumann zwei Jahrzehnte
danach, „war es allein, mitzuteilen, daß in der polnischen Hauptstadt
die Juden zerniert, in ein mittelalterliches Ghetto gesperrt worden
waren. Über diesen Vorgang hatte bis dahin niemand berichtet. Die
Alternative für den Journalisten lautete damals in vielen Fragen:
schweigen oder schreiben. Entschied man sich dafür zu schreiben, mußte
man auf formulierte Empörung, auf formulierten Protest schon deshalb
verzichten, weil so Geschriebenes nie hätte gedruckt werden können. Man
konnte sich nur in das flüchten, was Ernst Jünger etwa zur gleichen Zeit
,Sklavensprache' nannte - und das ohne jede ,moralische' Hemmung, weil
man sich zusammen mit der intelligenten Leserschaft des Umstands, Sklave
zu sein, ohnehin jederzeit bewußt war."
Aus: N. Frey und J. Schmitz: Journalismus im Dritten Reich, München
1999, 3. Auflage. S. 118 f.
Mögliche Fragen an den Text:
- Welche Tatsachen werden berichtet? - Was wird als Tatsache
dargestellt?
- Welche Bilder sollen im Kopf des Lesers entstehen?
- Welche Scheinlogik baut der Artikel auf?
- Wie geht der Journalist mit "Ursache und Folge" um?
- Ist die Einlassung des Journalisten 20 Jahre später glaubhaft, er
habe mit obigem Artikel der Information der Öffentlichkeit gedient? -
oder war er einer der "willigen Vollstrecker" der NS-Ideologie? Ist er
"belastet" - oder ist er trotz seiner Mitarbeit an einem führenden
NS-Blatt geeignet, am Aufbau einer demokratischen Presse mitzuwirken?
Peter Reinhardt
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