Baustein

Ghettos
Vorstufen der Vernichtung

1939-1944
Menschen in Grenzsituationen

Texte und Unterrichtsvorschläge

Hrsg: LpB, 2000




 

Inhalt

 

Baustein 8

Kinder und Jugendliche in Theresienstadt
 

Klassenstufe: 9 bis 13  
Zeitaufwand: j 2 Unterrichtsstunden
Themen: Leben im Ghetto
Kinder und Jugendliche in der Grenzsituation
Strategien der Selbsterhaltung
Lernen und Ziele
Arbeit im Ghetto
Werte und Vorstellungen der Schülerrepublik „Schkid"
Reportagen über Einrichtungen, Zustände, Lebensverhältnisse in Theresienstadt in einer „Schülerzeitschrift"
Vergleich mit „normalen" Schülerzeitschriften

 

Was bin ich?
Zu welchem Volk gehöre ich?
Ich, auf ziellosen Irrwegen ein Kind.
Ist meine Heimat der Ghettowall
oder ist sie das Land mit den Knospen so lind,
vorwärts stürmend, lieblich und klein -
Will Böhmen, will die Welt meine
Heimat sein?
Ich stehe hier mit meiner Seele ein und
sage:
Bin ein Mensch dieser Welt, nun
vorwärts denn!


Hanuš Hachenburg (1930 - 1944)

Theresienstadt, die frühere Festungsstadt in Nordböhmen, wurde 1941 zu einem großen geschlossenen Lager, in das - als Zwischenstation - die jüdische Bevölkerung vor allem aus den böhmischen Ländern, aber auch aus Deutschland oder Österreich, gebracht wurde, ehe sie der Transport in die Vernichtungslager brachte.

Tausende von Kindern und Jugendlichen lebten im Lauf der vier Jahre zwischen den Wällen des von ihnen so genannten Ghettos. Viele von ihnen waren durch die gewaltsamen Eingriffe in ihr Leben verwaist, andere von ihren Familien durch das Lager oder im Lager getrennt. Für sie versuchte die jüdische Selbstverwaltung unter den verheerenden Bedingungen des Ghettos erträgliche Lebensumstände zu schaffen, was Unterbringung und Ernährung, aber auch die emotionale und geistige Betreuung betraf. An wenigen Beispielen sollen ihre Lebensumstände dargestellt werden.

In seinem Vorwort zu dem Buch, dem die meisten dieser Beispiele entstammen (Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und Zdenek Ornest. Hanau 1995.), schreibt Václav Havel:

„Das Theresienstädter Ghetto ist ein Symbol der Grausamkeit und Hoffnungslosigkeit. Dieses Buch [...] ist jedoch kein Symbol des Verderbens. [...] Die in diesem Buch zusammengetragenen Texte, besorgt von denen, die überlebt haben, erfüllen den Leser mit Hoffnung. [...] Lesen wir aufmerksam, was uns die Theresienstädter Kinder mit ihren Gedichten, Erzählungen und Reportagen mitteilen. Lernen wir von ihnen den Glauben an die Wahrheit, die Liebe zum Zuhause, das zugleich Heimat ist, lernen wir Festigkeit in den Ansichten und Tapferkeit, mit welcher sie dem ständig gegenwärtigen Tod entgegentraten." (S. 10f.)

Stellvertretend für sie alle sollen die Jungen aus Heim 1 im Block L417 stehen, im Lauf der Jahre etwa hundert, von denen nur fünfzehn die Befreiung erlebten.

Das Heim I für ältere Jungen (bis 16) hatte einen Erzieher, Walter Eisinger, der in einem Nebenraum mit den Jungen wohnte. Den Tagesablauf schildert Kurt Jirí Kotouc später so:

„Täglich mußten ungefähr 40 Jungen zu verschiedenen Arbeiten im Ghetto gehen. [...] Um sechs oder sieben Uhr gab es den Weckruf, dann Waschen unter einem eiskalten Wasserstrahl, Aufräumen der Pritschen, Aufteilung der Tagesdienste - Aufsicht und Aufräumen in den Räumlichkeiten und auf den Korridoren, dem WC, dem Hof. Dann Frühstück und Antritt zum »Appell«. Alle Heime mußten im Treppenhaus antreten, und der Leiter des L 417 Ota Klein trug eine Art »Tagesbefehl« vor. Dann erst begann der Unterricht. Aus Raummangel auch in den Heimen, aber vor allem auf dem Dachboden, wo keine so große Gefahr eines Einfalls der SS bestand. Wo immer unterrichtet wurde, hatte stets ein Junge Wachdienst. Jede Klasse konnte im Fall einer Kontrolle durch die SS irgendeine andere Tätigkeit vortäuschen, etwa Aufräumen. [...] Von den acht oder zehn Lehrern waren nur zwei oder drei professionelle Pädagogen. Es gab keine Schulhilfsmittel. [...] Unterrichtet wurde etwa drei bis vier Stunden täglich [...] Wie alle Kinder waren auch wir manchmal recht ausgelassen, akzeptierten aber dennoch die Losung unserer Lehrer, daß wir hinter den Schulen in der Freiheit nicht zurückbleiben dürfen. [...] Seiner Wirksamkeit [des Unterrichts] wurde ich mir nach der Rückkehr aus dem Lager bewußt, als ich wieder in eine normale Schule kam. Tatsächlich war ich nur ganz unwesentlich zurückgeblieben.

Nach der Expedition mit dem Eßnapf um das Mittagessen, für das man [...] Schlange stehen mußte, folgte noch die Wiederholung des durchgenommenen Stoffes, allerdings schon ohne die Anwesenheit der Lehrer. Es konnte aber auch eine andere Beschäftigung sein, am liebsten war uns Körpererziehung in Form von Fußballwettspielen auf dem Hof, oder es gab das unangenehme „große Reinmachen". Wirkliche Freizeit gab es erst am späten Nachmittag vor dem Abendessen, ungefähr zwischen 16 und 18 Uhr. Etliche Kinder hatten noch ihre Eltern in Theresienstadt oder wenigstens irgendwelche Verwandte und besuchten sie in dieser Zeit in den verschiedenen Kasernen. Nach dem Abendessen wurden die Heime mehr oder weniger zu abgeschlossenen Welten, in denen sich die Kinder vor dem Schlafen [...] unterhielten. In den Heimen für Jüngere begann die Nachtruhe übrigens sehr bald, aber wir älteren »bummelten«. Wir haben auch die berühmten Theresienstädter Dachbodenvorstellungen gesehen - Kabarette, Theaterstücke, Rezitationen, Konzerte. Ich erinnere mich auch an Expeditionen, bei denen wir in der Dunkelheit Kohle stehlen gingen. [...] Auf den Pritschen wurde dann nach der um 22 Uhr verkündeten Nachtruhe in der Dunkelheit noch lange gequatscht." (Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und Zdenek Ornest. Hanau 1995, S. 39f.)

Angeregt durch ihren Erzieher, den Lehrer Walter Eisinger, gründeten die Zwölf- bis Sechzehnjährigen eine Selbstverwaltung, die feierlich mit Fahne und Hymne (eine Strophe hieß: „Für uns ist ein Bruder jedermann / ob ein Jude oder Christ / wir treten Schulter an Schulter an / Jungen der Republik Schkid") am 18. Dezember 1942 proklamiert wurde. Die Grundsätze, nach denen sie zusammenleben wollten, hatten sie in dem Buch „Die Republik Schkid" gefunden, von denen Eisinger ihnen erzählte. Schkid war eine Abkürzung für schola imeni Dostojewskowo, der Name einer Schule für obdachlose Kinder in Petersburg nach der Revolution. In dieser Schule hatte es verschiedene Zeitschriften gegeben, und auch dies Beispiel griffen die Jungen aus Heim 1 auf. Sie waren die ersten und wollten vorn sein, also nannten sie ihre Zeitschrift VEDEM - zu deutsch: »wir führen...«

Diese Zeitschrift war ausschließlich die Sache der Jungen. Ihre Lehrer schrieben nur hie und da Beiträge. Jeden Freitag Abend setzten sie sich zusammen und jeder, der in der Woche etwas geschrieben hatte, stand auf und las seinen Beitrag vor.

Die Zeitschrift wurde jeweils in einem Exemplar aufgelegt und wanderte von einem Leser zum anderen. Die erste Nummer ist mit dem 18.12.1942 datiert, die letzte erschien wahrscheinlich am 30.7.1944. Insgesamt - mit den Abbildungen - liegen 800 Seiten Text vor, von denen die ersten 190 in Maschinenschrift, die übrigen in Handschrift auf Din A4-Blättern geschrieben sind. Es war jedes Exemplar also ein Original und ein Unikat, und selbstverständlich war es vor den deutschen Bewachern zu verstecken.

Auch in anderen Heimen sind solche Zeitschriften entstanden, allerdings keine vom Umfang und der langen Erscheinungsdauer von VEDEM.

Vor die Reportagen, Feuilletons, Gedichte und Zeichnungen der Jungen seien noch zwei Auszüge aus den Erinnerungen Lotte Guthmanns aus Wiesbaden (eines bei der Ankunft in Theresienstadt sechzehn Jahre alten Mädchens) gestellt, die einmal etwas über die Arbeit im Ghetto aussagen, zum anderen aber auch über die unglaubliche Fähigkeit, einander auch in dieser Lage eine Freude, sogar ein Fest zu bereiten.

Arbeitshinweise:

Denkbar wäre eine Bearbeitung der Beiträge in Gruppen, entweder durch Analyse einzelner Texte und Illustrationen innerhalb einer Gruppe oder durch Untersuchung aller Texte nach Einzelaspekten (s. Thematik). Das hängt von der Klassenstufe, also dem möglichen Grad an Abstraktion, und von der zur Verfügung stehenden Zeit ab.

Auszüge aus der Schülerzeitung VEDEM zitiert nach:

Ist meine Heimat der Ghettowall? Gedichte, Prosa und Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt. hrsg. von Marie Ruth Krízková, Kurt Jirí Kotouc, und Zdenek Ornest. Hanau 1995, S. 159f., 22, 52, 92, 104f., 102f., 86f., 85f., 126, 128, 121, 134, 135. Das einleitende Gedicht (H. Hachenburg), ebenda, S. 15.

Barbara Heckel

 


Lotte Guthmann

Arbeit im Ghetto

Zu Anfang wurde jeder in die Arbeitskolonne eingeteilt, zum Putzen oder anderen täglich sich ändernden Gruppenarbeiten. Wenn wir erst vom Arbeitsprogramm erfaßt wären, so sollten wir Augen und Ohren offen halten nach Möglichkeiten, die entweder mit der Verpflegung oder mit der Verwaltung zu tun hätten. Die meisten dieser Dienste wurden von den Häftlingen gehalten, die schon lange in Theresienstadt waren. Diese Leute hatten die ärgsten Zeiten überlebt und halfen sich gegenseitig oder persönlichen Bekannten, »bessere« oder weniger gefährliche Arbeit zu verrichten.

Die Arbeit in dem Sägewerk war z.B. gefährlich. Dort wurden Betten und Bänke für den Lagerbedarf hergestellt. Die Maschinen waren nicht im besten Zustand, und die neuankommenden Arbeiter waren ungenügend geschult und dieser Arbeit oft nicht gewachsen. Eine meiner Nachbarinnen hat später dort gearbeitet und sie erzählte mir, sie habe bei Arbeitsschichtwechsel mehrere Finger neben der Säge gefunden. Niemand hat ihr das erläutert. Wahrscheinlich hatte ein Kollege oder eine Kollegin einen Betriebsunfall während der vorgehenden Schicht. Aber das Leben war so wertlos, daß niemand weiter darauf achtete.

Die Arbeit in der Glimmerfabrik hatte irgend etwas mit Kriegsvorbereitungen zu tun. Man hantierte mit Asbest und ähnlichen gesundheitsschädlichen Materialien. Diese Arbeit war »ungesund«, man riskierte Krebs und anderer Erkrankungen, aber dafür gab es für diese Arbeit etwas erhöhte Brotrationen. Krebs später im Leben oder andere Erkrankungen waren aber für uns nicht so furchterregend wie die laufenden Abtransporte, denn keiner von uns machte sich Hoffnungen, einmal später ein reifes Alter zu erleben. So riskierte man schon gerne irgendwelche Krankheiten in der (wohl nie zu erlebenden) Zukunft, im Austausch gegen etwas mehr Brot in der Gegenwart, denn der tägliche Hunger schmerzte mehr als die Furcht vor einer späteren Erkrankung. [...]

Landwirtschaftsarbeit war »gut«. Man konnte manchmal Rüben, Gurken, Bohnen oder eine Kartoffel stehlen und sich damit etwas bei der Verpflegung helfen. Allerdings wurden die Arbeitskolonnen beim Ein- und Ausmarsch von der Lagerwache am Lagertor genauestens kontrolliert, und wenn man mit einer Kartoffel oder einer Rübe erwischt wurde, so gab es harte Strafen.

Arbeitsplätze oder Wohnquartiere wurden ständig frei durch die häufigen Abtransporte, durch Erkrankung oder Tod der anderen Häftlinge. Eugenie erklärte uns, warum es notwendig wäre, sich um solche frei werdenden Plätze zu bemühen: Es war die einzige Möglichkeit, sich das Leben etwas zu erleichtern und mit einiger Berechtigung hoffen zu können, diese harte Zeit zu überleben. [...]

Am Nachmittag meldete ich mich zur Arbeitskolonne. Ich wurde zur Putzarbeit eingeteilt in einer Gruppe von Häusern, wo Alte und bettlägerige Häftlinge wohnten. Wir konnten aber nicht richtig putzen, denn es gab - wie gewöhnlich - kein Wasser. So fegten wir die Gänge und halfen den Leuten in ihren Zimmern aufzuräumen. Mir wurde gesagt, ich solle mich am nächsten Morgen beim »Jugendeinsatz« (für Insassen unter 18 Jahren) in der Unterkunft L 218 melden. Dort war eine Gruppe von Häusern als Unterbringung für junge Männer von etwa 12 bis 18 Jahren zugeteilt worden. Im Hinterhof war das Büro zum Einsatz der Jugendlichen in die Arbeitseinsatzprogramme des Lagers. [...]

(a.d. Erinnerungen von Charlotte Guthmann-Opfermann, in Begegnungen 3, Stationen, Wiesbaden 1993, S. 94-97.)

 


Geburtstag im Ghetto

Mein Geburtstag im April 1944 kam nahe, und ich hörte rund um mich herum Getuschel von den 38 Kameradinnen, mit denen ich in dem kleinen Zimmer zusammenlebte. Sie hatten, wie ich später erfuhr, je eine Scheibe Brot von ihrer Wochenration gespendet und an Karla Kohn für ihren Vater, Rechtsanwalt Kohn aus Berlin, abgegeben. Rechtsanwalt Kohn hatte seine Geige mit ins Lager bringen dürfen; denn beim Abtransport von Berlin hatte er wie unsere Wiesbadener Freunde an einem »Command Performance« Konzert teilgenommen. Jetzt spielte er abends nach der normalen Arbeit im Rahmen der Lager-Freizeit-Gestaltung in einem Streichquartett in den Kasernenhöfen.

Für diese Vorführungen mußte man, genau wie für die Brauseanstalt und für die Lagerwäscherei, eine Eintrittskarte haben, und die gab es nur von der Arbeitseinsatzstelle. Sie waren begrenzt erhältlich, und es war ein großes Ereignis, wenn man solche Karten erhielt. Und diese Musiker waren in unser kleines Zimmer gekommen, um mir zum Geburtstag ein Sonderkonzert zu geben!

Die anderen Musiker und Herr Rechtsanwalt Kohn hatten sich die Scheiben Brot in Zahlung geben lassen und spielten mir zu Ehren zum Geburtstag ein kleines Konzert, zumeist Mozart.

Meine Eltern und mein Bruder waren auch verständigt worden und kamen zu dem großen Ereignis. Mein Vater litt sehr an Gelenkschwellungen (Hungerödemen) und sah lange nicht mehr so fesch und forsch aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Er war in den wenigen Monaten sehr alt geworden. [...]

Er hielt eine sehr formelle Dankrede in meinem Namen für meine Zimmerkameradinnen, deren Brotspende dies ermöglicht hatte. Und für die Musiker. Wie geehrt er sich für mich fühle. Solche Geburtstagskonzerte gebe es doch normalerweise nicht für gewöhnliche Sterbliche. Eine solche kulturelle Erfahrung wie dieses kleine Hauskonzert spende uns allen Mut und Hoffnung auf ein besseres Leben. Vielleicht sei es wirklich möglich, diese Zeit zu überleben. Dieses Erlebnis und diese schöne Stunde miteinander könnten wir nie vergessen. Es war wunder-wunderschön.

Henny hatte mir aus ein paar Papierfetzen einen kleinen »Gedichtband« zusammengebastelt, mit Versen von Rilke und Hölderlin, Hugo von Hoffmannsthal und Brentano, ganz aus dem Gedächtnis und mit Tintenstift von der Wäschekennzeichnung geschrieben. Das Ganze eingebunden in einem lustigen Stofflappen von irgend Jemandes ehemaligen Sommerkleid. Es war ein traumhaft schöner Geburtstag mitten in all dem Elend, dem Hunger, den vielen Erkrankungen, dem ständigen Abschiednehmen von Toten und von Abtransportierten, die - wir wußten das doch trotz aller gegenteiligen Beteuerungen - dem Tod entgegengingen. Irgendwie versuchten wir alle zu vergessen, daß man uns hierher gebracht hatte, um unserem Leben durch Hunger oder Krankheit oder Abtransport ein Ende zu bereiten.

(a.d. Erinnerungen von Charlotte Guthmann-Opfermann, in Begegnungen 3, Stationen, Wiesbaden 1993, S. 113, 116f.)

 



VEDEM - Schülerzeitung im Ghetto

Die Schwarzen und wir

Vor kurzem las ich das Buch von Harriet Beecher Stowe, »Onkel Toms Hütte«. Sicher kennt ihr alle dieses Buch, es ist die Lebensgeschichte einiger schwarzer Sklaven in Amerika. Es sind darin viele Schrecken der schwarzen Sklaverei beschrieben, wie Prügel und Hunger. Am meisten beeindruckte mich jedoch die Zersplitterung der Familien. Im Lager der Sklaven gab es zahlreiche Familien, die auf die Versteigerung warteten. Ihr einziger Wunsch war, gemeinsam irgendeinem Herrn verkauft zu werden. Allein selbst diesem ihrem wirklich kleinsten Anspruch und Wunsch wurde nicht Rechnung getragen. Jeder von ihnen wurde anderswohin verkauft, so daß sie einander vielleicht nie mehr wiedersahen. So wurden die Sklaven verkauft und so ging man mit ihnen um, mit den Schwarzen in Amerika des neunzehnten Jahrhunderts, das heißt, drei Jahrhunderte nach der Entdeckung Amerikas.

Worin unterscheiden wir uns von den damaligen Sklaven und unsere Zeit von jener? Wir leben hier in Theresienstadt im Lager der Sklaven, sind ähnlich wie die Schwarzen Prügeln und Hunger ausgesetzt. Das einzige, wodurch wir uns vielleicht von den damaligen Verhältnissen unterscheiden, ist die nicht regelmäßige und grundlose Zersplitterung der Familien. Aber auch dazu ist es gekommen. Am 29.I.1944 wurde ein Transport junger und älterer Männer berufen, von Söhnen, Vätern, Brüdern, Verwandten. Auch wir Juden, die betroffenen Männer, haben ähnlich wie die Schwarzen, die Toms und die anderen, unser Schicksal ruhig und stolz ertragen, haben ihm ins Auge gesehen. Als sie wirklich am 2.III.1944 den vorbereiteten Zug bestiegen, der sie irgendwohin in eine unbekannte Ferne bringen sollte, stand ich mit ungezählten anderen an der Ecke, um vielleicht zum letzten Mal viele Bekannte zu sehen, andere ihre Verwandten. Da rief der Sklavenhalter in grünem Anzug und grüner Mütze den Oberaufseher herbei, er solle diese Hunde an den Zug heranlassen, damit sie sich von den Abfahrenden verabschieden könnten. Bald darauf fuhr der Zug ab. In ganz Theresienstadt verbreitete sich die Nachricht von der Anständigkeit und dem Mitgefühl des Sklavenhalters, der seinen Untertanen die Möglichkeit gab, sich von ihren Kindern, Eltern, Brüdern und anderen, ihnen über alles Teuren, zu verabschieden.

Wodurch unterscheiden wir uns also wirklich von jenen ungebildeten schwarzen Sklaven, heute, in der Epoche des größten kulturellen Aufschwungs in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts? Könnte man das Buch »Die Mansarde des Herrn Kohn« nicht etwa mit »Onkel Toms Hütte« gleichsetzen?

Hanuš Pollak

 


 

Theresienstadt

Das bißchen Schmutz im schmutzigen Gemäuer
und ringsum das bißchen Draht
und 30 000, die schlafen
bis sie eines Tages erwachen
und an diesem Tag die Erfahrung machen
wie ihr eigenes Blut verrinnt.

Einst war ich ein Kind - noch vor zwei Jahren
wollte weg und in andere Welten fahren.
Bin nicht mehr das Kind - sah Feuersglut,
weiß, was Angst ist und das Ringen um Mut
kenne Tage ohne Licht und Worte wie Blut!
Fort ist der Spuk aus den Kindheitstagen!

Aber ich weiß, heut schlafe ich nur
und werde zurückkehren in der Kindheit Flur,
in die Kindheit, die wie eine Rose blüht,
wie ein Glockenschlag den Traum durchzieht,
wie eine Mutter, die ihr kränkelndes Kind
mit allem, was sie hat, in die Arme nimmt.

Wie schrecklich eine Jugend, die als Last
im Herzen Rache trägt, den Feind nur haßt.
Wie schrecklich eine Jugend, die in sich trägt
für manche Gutes, Flüche für andre erwägt.
In weiter Ferne schlummert mein Kindheitsland
die Pfade des Baumgartens an Mutters Hand.
Dort, wo einst mein Vaterhaus stand,
dem heute nur bittrer Hohn zugewandt,
dort in den Gärten, wo die Welt schön einst war
in die mich meine Mutter gebar _
damit ich sie mit meinen Tränen benetze.
Liege auf Stroh, eine Kerze neben mir
und begreife langsam und wirklich erst hier
welch winziges Geschöpf ich doch war
ebenso winzig
     wie der Choral -
             jener 30 000

Ha- (Hanuš Hachenburg)

 


 

Sport in Theresienstadt


Der Dresdener Hof ist vom Dachboden bis zur Erde von Menschen erfüllt, keine Stecknadel könnte durchfallen. Auf dem Spielfeld tummeln sich vierzehn Spieler. Es gibt das Wettspiel Kleiderkammer - Köche. Der linke Flügel der Kleiderkammer, Náci Fišer, greift an. Im Publikum Unruhe und Erregung. Schon ist er in der Nähe des Tors, er schießt, aber der Torwart der Köche fängt den Ball mit einer Robinsonade. Großer Applaus des Publikums. Die Angriffe wechseln, das Publikum nähert sich dem Siedepunkt, der tritt ein, als sich die eine Seite selbst ein Tor schießt.

Das Wettspiel ist beendet. Das Publikum schreitet in lebhafter Debatte den Unterkünften zu. Da kommt auf einmal die Frage auf, wie es wäre, wenn die Ghettomannschaft in böhmischen Wettbewerben spielen würde. Gewiß, alle sehen ein, daß sie nicht besser wäre als ein durchschnittlicher Divisionsklub, viele stufen sie noch viel niedriger ein. Aber was tuts, in Theresienstadt befinden wir uns im geschlossenen Ghetto und eine dicke Mauer trennt uns von der übrigen Welt. Kleiderkammer, Ghettowache, Köche sind Mannschaften von Ligaformat, die um die Ghettomeisterschaft kämpfen. Und bei allen Mängeln des Theresienstädter Fußballs glaube ich, daß er auch seine erheblichen Vorteile hat. Warum werden in Prag die großen Wettspiele Sparta-Slavia ausgetragen - etwa um dem Publikum guten Fußball vorzuführen? Nein, der Sport wur
de zum Profit Hunderter Menschen, zur Existenz von Tausenden. An ihm verdienen Unternehmer, Veranstalter, Spieler, Richter. Die Klubs spielen nicht um das Primat, sondern um Geld, Richter und Spieler werden bestochen. Die Kicker kämpfen nicht aus Liebe für ihren Klub, sondern um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Betrachten wir nun einmal den Fußball hier in Theresienstadt. Was bekommen die Spieler des Siegerklubs der Theresienstädter Liga? Was die Veranstalter des Wettspiels, wenn die Dresdener Kaserne mit dem Publikum vollbesetzt ist? Nichts. Hier kämpfen die Spieler mit echtem Elan für ihren Klub. Sie spielen, um zu spielen, und nicht für Geld. Und ich glaube, daß hier weitaus mehr Opferwilligkeit an den Tag gelegt wird als sonstwo. Beim Wettspiel Kleiderkammer-Köche trat Glückner mit einer Mittelohrentzündung und hohem Fieber an und war dennoch einer der besten Spieler auf dem Feld. Beim Wettkampf Hagibor Prag - Wien gab es ein out, der Richter pfiff jedoch für Hagibor eine Ecke. Der linke Flügel Prags, Franta Leiner, schoß wie ein richtiger Sportler ins out.

Und wenn man hier in Theresienstadt, in dieser umgekehrten Welt, so spielen kann, ginge das nicht auch anderswo? Und so wie manche Dichter l`art pour l`art rufen, so rufen wir: Sport für Sport und nicht für Geld!

Akademie (Autor unbekannt)
 


 

Zwei alltägliche Fälle im Ghetto Theresienstadt

Es ist kalt. Die Theresienstädter Straßen liegen unter Schnee, der jedoch schon festgefroren ist in dem starken Frost. Ich schlendere langsam auf dem Gehsteig und beobachte das Leben auf der Straße. Plötzlich fällt mir ein etwa achtzigjähriger Greis auf, mit weißem Haar und weißem Vollbart. Würde ich ihn nach seiner Gangart beurteilen, würde ich ihn als kaum Vierzigjährigen ansehen. Er schritt schnell aus, mit einem Eßnapf in der Hand, wahrscheinlich ging er sein Mittagessen holen. Da rutschte er mit einem Mal auf dem unbestreuten eisbedeckten Gehsteig aus. Er schlug mit dem Kopf direkt auf das Pflaster auf und blieb liegen. Die Vorbeigehenden eilten dem Alten zu Hilfe und einer von ihnen, bei dem ich dank des Aeskulapzeichens erkannte, daß er Arzt war, untersuchte den Greis, konnte jedoch nur den Tod feststellen.

Einige Tage nach diesem Vorfall machte ich mich in einen Block auf. Ich betrat dort einen der vielen Räume. Gräßliche Luft umwehte mich, an den staubigen
Wänden standen zwei Reihen von Holzpritschen. Als ich weiterging, sah ich dort viele alte Männer und Frauen mit ausgemergelten Gesichtern liegen. Manche stöhnten leise. Ich trat zu dem Mann in weißem Kittel, der mit zwei Schwestern Krankendienst hatte, und fragte ihn, was mit diesen Menschen los war und wo ich mich eigentlich befand. Er sagte: »Junge, das ist das Krankenzimmer für Alte. Hier gibt es am meisten Pneumonien. Du weißt ja, wir sind in Theresienstadt, sie frieren in den ungeheizten Räumen, legen sich nieder, bekommen Lungenentzündung und in ein paar Tagen sind sie weg.« Der Arzt endete und eilte davon.

Ich bin nicht gerade sensibel veranlagt, aber als ich später über diese beiden im Ghetto gewiß recht alltäglichen Fälle nachdachte, war ich dem Weinen nahe. Bisher war mir das Fürchterliche von Theresienstadt nie so richtig zum Bewußtsein gekommen, erst jetzt. Und abermals war ich um eine Lebenserfahrung reicher.

Don Herberto (Herbert Fischl)

 


 

Das Zentralbad


Wenn ich einen roten oder weißen Zettel mit dem Buchstaben M oder J erhalte, nehme ich Handtuch, Seife, Waschlappen und begebe mich ins Hohenelbe-Zentralbad. Dort stelle ich mich in den Haufen von Männern oder Jungen, die warten, bis sich das Tor öffnet, um einzutreten. Sind es Männer, so höre ich hier die neuesten Berichte über den Sport oder die Mädchen in Theresienstadt und so ähnlich. Auf einmal geht die Tür auf, der Haufen setzt sich in Bewegung und ich mit ihm. Vor mir taucht ein Mann auf, der meinen Zettel sehen will, ihn kontrolliert und mich dann mit den Worten entläßt: »Nimm die Holzpantoffeln und verschwinde!« Ich mache ein paar Schritte, als mich ein Junge aufhält und auffordert, den Raum zu betreten. Wenn ich das tue, zeigt sich vor mir eine Reihe von Bänken und Kleiderhaken. Ich ziehe mich aus, denn es gibt hier nur Personen meines Geschlechts und niemanden, vor dem ich mich schämen müßte. Dann gehe ich zu dem Mann, der Haare und Körper
untersucht, und wenn der mich entläßt, unter die Dusche. Später hörte ich, wie man von ihm als dem Lausaufseher oder so ähnlich sprach. Als ich mich mehr dafür interessierte, erfuhr ich, er sei ein älterer Arzt, der keine Praxis mehr betreibe und in der Abteilung Gesundheitswesen beschäftigt war. Wenn ich mit den letzten komme, ist keine Dusche mehr frei und ich bin auf die Gnade meiner Mitmenschen angewiesen. Das Zentralbad hat zwei Duschräume und ein Bassin, in das man nur selten kommt. In jedem Raum bedient ein Junge den Wasserhahn; er dreht ihn zweimal in Intervallen von sieben Minuten auf. In der Pause dazwischen seift man sich ein. Wenn das Baden zu Ende ist, fließt kaltes Wasser, unter das sich nur die wenigen Mutigen wagen. Manche Jungen gehen immer abends baden, denn dann kann man, wenn man Glück hat, auch ohne Zettel ins Bassin. - Weil ich nicht weiß, was ich noch beschreiben könnte, schließe ich meine Reportage.

Medik Šnajer (Jirí Grünbaum)

 


 

Streifzüge durch Theresienstadt

Bei dem Wort Kinderküche sehen wir im Geist die Ausgabestelle auf dem Hof L 318 vor uns. Die eigentliche Kinderküche macht den Eindruck eines dunklen Loches in die Unterwelt, wo Köche und Köchinnen in weißen Kitteln herumflitzen und von wo Dampfschwaden aufsteigen.

Ganz anders schien uns das alles, Šnajer und mir, als wir sie gründlich besichtigten, mit dem Chefkoch Rabl sprachen und uns von ihm alles erklären ließen. Darauf mußten wir längere Zeit warten. Inzwischen liefen vor unseren Augen Gestalten mit schweren Mehlsäcken und anderer Nahrung vorbei, mollige Köchinnen mit Tabletts mit Buchteln, die robuste Figur von Herrn Bachner, muskulöse Träger mit schwarzem Kaffee, und zwischen all dem schritt nonchalant Herr Karvan umher, der Kommandant der Kinderbäckerei, in einem grauen Gummimantel und mit zurückgekämmten Haaren. Mitunter flog wie eine weiße Fledermaus Chefkoch Rabl vorbei.

Endlich machte letzterer nach längerem Umherlaufen halt, blickte sich um, ob noch etwas zu tun wäre, und sagte schließlich: »So, Jungen, endlich habe ich für euch Zeit.« Und mit dieser Eröffnung begann unser Interview:

»Wieviel Personal beschäftigt die Kinderküche?«

»Vierundfünfzig Personen einschließlich der Bäckerei und der Träger.«

»Was für ein Inventar haben Sie?«

»Fünf Kessel, davon drei Rauch- und zwei Dampf
kessel (Druck 0,4 atm). Dann haben wir noch ein Konditoreibackrohr und einen Ofen. Was das Geschirr anbelangt, achtzehn Tröge und zwölf Fässer.«

»Wie viele Personen verköstigt diese Küche?«

»Dreitausend Kinder aus den Kasernen und Blocks.«

»In welcher Menge wird hier gekocht?«

»Am Morgen zum Beispiel dreihundert Liter Kaffee, zweihundertfünfzig Kilo Hirse, mittags eintausendachthundert Liter Suppe, abends eintausendfünfhundert Liter.«

»Wie bald vor der Ausgabe muß das Kochen beginnen? Gibt es auch Nachtschichten?«

»Je nachdem, worum es sich handelt, manchmal muß man um zwei, manchmal um einen Tag früher beginnen, selbstverständlich wird auch nachts gearbeitet. Vor kurzem haben wir bis sechs Uhr früh sechshundertdreißig Kilo Spinat zerschnitten.«

»Das war damals zu den Knödeln, damals gab es so große Spinatportionen, nicht wahr?«

»Sicher habt ihr nicht einmal daran gedacht, wieviel Arbeit wir hatten, diesen Spinat zu rupfen und zu reinigen.«

Wir schwiegen verlegen. Die Arbeit von Köchen ist mitunter wirklich schwer und unangenehm. Aber in der Küche herrscht eine prima Laune, hier wird gewitzelt und manchmal kommt auch ein Lied auf. In dieser Hinsicht ist Herr Karvan einzigartig.

Unsere Fragen waren beantwortet, wir dankten Herrn Rabl und gingen heim.

Akademie (Autor unbekannt)


 



Josef Kraus (geb. 1931 - umgekommen in Theresienstadt).
Stadt, Buntstifte, 300*215 mm. Jüdisches Museum Prag
 

Streifzüge durch Theresienstadt

 

Die Zentralleichenkammer befindet sich fast an der Grenze von Theresienstadt. Sie ist tief in den Schanzen untergebracht. Ihr Eingang sieht wie ein Höllentor aus. Von außen dringt nur durch die Schießscharten schwaches Licht ein. Jeden Augenblick kommt knarrend ein Gefährt mit einer Leiche angefahren und dahinter weiß gekleidete Träger. Ihre Schritte hallen im Souterrain wider. In den Sackgassen der Korridore sind Brettersärge gestapelt. Manche sind voll, zum Abtransport vorbereitet, andere sind leer. Die warten noch auf ihre Bewohner. Dieses Bild bot sich meinem Blick, als ich diesen düsteren Ort besuchte. Überall herrschte Stille, auch die Bediensteten, die hinten im Korridor arbeiteten, sprachen flüsternd. Auf allem lastete der drückende Schauer des Todes. Schließlich kam ich bis ans Ende des Korridors. Dort verpackten die Angestellten gerade eine Leiche. Der Anblick war grausig, weil die Umrisse so offensichtlich waren und dabei war die ganze Gestalt so bewegungslos und reglos. Als sie die Leiche eingepackt hatten, legten sie sie in den Sarg und schlossen den Deckel. All das beaufsichtigte ein Rabbiner. Ich schaute eine Weile zu und entschloß mich dann endlich, über alles Herrn Dr. Bock zu befragen, den Leiter dieser Endstation auf dem Weg aller Bewohner des Ghettos.

»Die Zentralleichenkammer existiert schon seit dem 12. August 1942, und seither haben 21 000 Leichen diesen Korridor passiert.«

»Und wie viele davon sind an Infektionskrankheiten gestorben?« erkundigte ich mich.
»Das registrieren wir nicht, ich weiß nur, daß 120 an Typhus gestorben sind.«

»Was passiert mit einem Toten, wenn er stirbt? Wie spielt sich das ab?«

»Die meisten sterben im Krankenhaus. Nach der Leichenbeschau durch den Arzt wird die Leiche dann sofort hierher gebracht. Hier wird sie dann nach den religiösen Gebräuchen gewaschen, in ein Leintuch gehüllt und in den Sarg gelegt. Alles unter der Aufsicht der Rabbiner. Nach der Einäscherung im Krematorium wird die Urne gefüllt, für die wird jetzt in den Schanzen ein Urnenhain angelegt.«

»Wie sind wohl die Gefühle der Bediensteten, die ständig mit Leichen arbeiten? Gehen sie mit ihnen schon wie mit Ziegeln um oder wirklich wie mit Verstorbenen?«

»Das ist die einzige Beschäftigung, bei der sie nicht an die Belohnung denken können, und trotzdem nehmen sie diesen letzten Dienst für die Verstorbenen ernst und versehen ihn auch ordentlich. Das zeigte sich auch im letzten September. Da mußten sie auf einmal 4000 Leichen forttragen, und selbst damals versagten sie nicht. Es war nicht die physische Kraft, die sie auf den Beinen hielt, das war etwas mehr.«

»Ich danke Ihnen sehr, Herr Doktor, für diese Information, aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten«, sagte ich, empfahl mich und verließ diese Unterwelt und kehrte in den strahlenden Tag zurück.

-nz (Petr Ginz)

In Theresienstadt starben bis Ende April 1945 insgesamt 33 430 Häftlinge. Die meisten dieser Opfer wurden im Theresienstädter Krematorium verbrannt, das seit Oktober 1942 in Betrieb war.
 


 

Einiges über das Krematorium und die Kremation


So manchem von euch geht wohl die Frage durch den Kopf: Was ist eine Kremation und wie sieht wohl ein Krematorium aus? Ich will euch also zuerst etwas über die Kremation sagen.

Vom modernen Standpunkt aus ist die Kremation oder die Verbrennung in jeder Hinsicht hygienischer. »Warum?« wird jeder von euch fragen. Im Grab zersetzt sich das Fleisch und verschwindet im Laufe von zehn Jahren vollkommen und übrig bleibt nur das Skelett.

Bei der Kremation wird jedoch das Fleisch im Laufe von wenigen Minuten verbrannt. Der interessanteste Teil des Krematoriums ist der Ofen, der auf 800 bis 1200 °C angeheizt wird. Die neueste und überhaupt beste Heizeinrichtung ist die Beheizung mit Rohöl. Für das Anheizen eines Ofens benötigt man sechs bis neun Liter Rohöl. Damit die Temperatur im Ofen nicht vergrößert wird oder 1200 °C überschreitet, gibt es im Ofen zehn Einrichtungen, die kalte Luft hineinpressen. Wenn dann die Temperatur unter 800 °C sinkt, schließt sich die Luftzufuhr, so daß die Temperatur abermals steigt. Der Ofen ist mit 10 cm dicker Schamotte ausgelegt. Bei der Kremation wird folgender Vorgang eingehalten: Die Leiche wird zuerst auf einen schweren Eisenwagen gelegt, der sich hinten auf einem erhöhten Boden befindet, und wird dann durch eine Hintertür in den Ofen geschoben. Dort entledigt sich der Wagen selbst seiner Last und kehrt in einigen Sekunden zurück.

Wie bekannt, setzt sich der Körper aus 75 Prozent
Wasser zusammen, und wenn er in eine große Glut gerät, beginnt das Wasser im Körper zu kochen, wodurch sich die Leiche bewegt. Wenn das ganze Fleisch schon verbrannt ist und zur Hälfte auch die Knochen und nur ein kleineres Häufchen übrig ist, schiebt es der Dienst mit einem etwa 4 Meter langen Schürhaken in den mittleren Teil des Ofens, wo die Knochen weiter verbrannt werden. Oben wird dann eine neue Leiche eingelegt, und so können zwei auf einmal verbrannt werden. Wenn die Knochen genügend verbrannt sind, schiebt sie der Dienst wieder in den unteren Teil, den man Rost nennt. Unter dem Rost befindet sich eine Pfanne, in die die Reste geschüttet werden und wo man sie auskühlen läßt. Eine Leiche wird etwa 25 bis 40 Minuten verbrannt. Es ist interessant, daß die Verbrennung einer Frau nur ungefähr die Hälfte der Zeit benötigt wie die eines Mannes. Sicher wird euch auch interessieren, wie die Leichen hier, im Krematorium von Theresienstadt, verbrannt werden und wie die hiesige Einrichtung aussieht. Auch das kann ich euch sagen. Hier in Theresienstadt wurde das Krematorium vor einem halben Jahr eingerichtet. Es ist somit das jüngste Krematorium im ganzen Protektorat. Was die Verbrennung anbelangt, so werden Leichen, die an Infektionskrankheiten verstorben sind oder die verlaust waren, mit den Särgen verbrannt. Die Asche wird dann in Papierurnen mit einem Ausmaß von 22 × 18 verstaut, und die werden im »Urnenhain« in der einstigen Bierbrauerei gelagert. Aber darüber mehr das nächste Mal.

Blesk (Zdenek Taussig)

 

Zdenek Taussig
(Ge. 1929 - überlebt).
Brennofen.
Illustration zur eigenen Reportage „Einiges über das Krematorium und die Kremation". Feder, Pinsel, Aquarell, 200*142 mm. Gedenkstätte Theresienstadt
 


 

Sensation, Sensation!


Eine schwedische Kommission wird die Hauptstadt der jüdischen Reservation Theresienstadt besuchen. Der Jüdische Bonkesrundfunk1 teilt mit, daß am 6.XII. ein Besuch von höherer Stelle die Zentralstelle der Juden in Böhmen aufsuchen wird. Als Einzelheiten wurde uns berichtet: Erstens, am Besuchstag wird es zum Frühstück eine große Buchtel und eine beliebige Menge von weißem Kaffee geben, etwas für die Siechen, zum Mittagessen eine doppelte Portion Kartoffeln und Fleisch, zum Abendessen Knödel mit Tunke. Zweitens, die Kommandantur hat eine große Verschönerungsaktion2 angeordnet. Drittens, am Besuchstag soll schon von halb neun Uhr absolute Ordnung herrschen, zu welchem Zweck es gestattet ist, den ganzen Vortag zu lüften und Bettzeug, Decken und Matratzen zu klopfen.

Am 5.XII.1943. Nach dem bekannten Sprichwort: »Was du morgen kannst besorgen, das verschiebe nicht auf heute« finden alle Vorbereitungen erst am letzten Tag statt. Durch die Straßen läuft entsetzt die Straßenreinigung, die Hundertschaft3 streicht die Zäune mit einer für das Auge angenehmen rotbraunschwarzen Farbe an, die Arrangeure machen neue Auslagen, die Jugendleiter laufen in den Heimen herum, alte Weiber bummeln in den Straßen und suchen jemanden, dem sie ein paar neue Bonkes mitteilen oder mit dem sie streiten könnten. Im Schaufenster Damenbekleidung glänzt zum Beispiel eine schöne Papiermenorah mit der Aufschrift Chanuka 5704 (dort sollte für die schwedische Kommission eine Erklärung stehen, was Chanuka ist), während im Schaufenster Herrenbekleidung in Abbildungen mit Text eingehend der Einkauf von Herrn X. in dem Kleidergeschäft beschrieben ist - hier muß hinzugefügt werden, daß er nackt kam, nur mit einem Stück Strohsack bedeckt und mit Punkten

und Geld, und daß er als perfekter Theresienstädter Kavalier fortging. In den Küchengeräten gibt es wiederum im Schaufenster eine Menge Geschirr mit tschechischen Aufschriften: Reis, Gries, Semmel, Mohn und mehr. Für uns durchwegs unerreichbare Dinge.

Am 6.XII.1943 beginnen wir abermals mit einem Sprichwort: »Der Mensch denkt, die Proviantur ändert«, denn zum Frühstück gibt es statt der erwarteten Buchtel mit weißem Kaffee nur den echten schwarzen warmen Ersatzkaffee Melta, versüßt nur mit der Erinnerung an die gestrigen Bonkes vom süßen Kaffee. Der Vormittag verlief in angespannter Erwartung, allein es blieb nur dabei. Mittags gab es das beliebte Essen des Volkes Israel, das schon Moses bei seiner Wanderung durch die Wüste kannte - Graupenmanna. Am Nachmittag erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Aber der schwedische Besuch läßt offenbar auf sich warten. Ein gewisser Knabe aus L 417 erklärte, als er sah, daß der Besuch nicht kommt, verdrießlich: »Da hätte ich mich gestern auch nicht waschen müssen!«

Aber wir wollen uns nicht mehr mit der Schilderung von Einzelheiten aufhalten und beenden unsere Reportage kurz. Es sei nur bemerkt, daß zur allgemeinen Enttäuschung der Besuch nicht eintraf, und zum Abendessen gab es nur Extraktsuppe. Damit schließen wir unsere Reportage und hoffen, daß wir keine Schande ernten.

P.S. Die Erwarteten kamen am 7. XII. in die Viktorka fressen.

Hanuš Weil und František Feuerstein

1 Ironisch: Jüdische Latrinennachricht

2 Vor Ankunft der Delegation des Internationalen Roten Kreuzes

3 Arbeitskommando


 

Das ist keine Bande

oder Wie bei uns gefilmt wird

(Komödie in drei Akten)

»Den Juden in Theresienstadt soll es angeblich schlecht gehen«, sagt eines schönen Tages der leitende Direktor für die Judenfrage seinem Sekretär. »Und überhaupt«, fährt er erbittert fort, »in der Auslandspresse soll es schon irgendwelche Nachrichten über das Elend dieser Juden gegeben haben. So geht das einfach nicht weiter, daraus wird noch ein internationales Problem und wir werden ganz unmöglich sein. Und unsere Leute dort - was weiß man denn.« »Aber was wollen Sie dagegen tun, Herr ..., wir können ihnen doch nicht mehr Essen oder besseres Wohnen einrichten, das geht doch nicht, das wäre gegen unsere antisemitischen Prinzipien.« »Hm, das ist eben schwer«, antwortet niedergedrückt Herr X., »ich glaube, daß uns nichts anderes übrigbleibt.« »Ha, ha, Hurrah, ich habs schon, wir werden einen Film drehen (Sie kennen sich doch in Filmtricks aus) und werden ihn allen Nörgelstaaten zuschicken, die ihre Nase dorthin stecken, wo sie nichts zu suchen haben.« »Na, ich weiß doch, daß ich einen prima Sekretär habe, ich werde verlangen, daß Sie einen höheren Rang und eine Auszeichnung für besonders einleuchtende Einfälle erhalten.«

Das war das Vorspiel.
Und dann ging alles recht schnell.

Es gab eine Wochenschau, die Herren Regisseure Pecenka, Fric usw., also die großnasigen, dicken und bebrillten Herren, antreten zum Filmen. Und freundlich dreinblicken, zufrieden, als ob Sie eine Gans essen würden. Na, du stinkender Jude, wie schaust du drein, hier, ich klebe dir eine Ohrfeige, und schon regnet es Ohrfeigen, Stöße und Fußtritte von irgendeinem grünen Bengel auf den Kopf eines machtlosen Greises. Oder: Alte Mütterchen wurden als Hundertschaft zum Baden abkommandiert. Ich bitte Sie, ich kann nicht, ich habe Rheuma, Durchfall ... Reiß deine Knochen zusammen, alte Jüdin, gehst ins Wasser und basta. Und das Großmütterchen, das nicht einmal schwimmen kann, muß ins Wasser, ob es will oder nicht.

Ein weiterer Akt des verehrten Films.

Orthodoxe Juden und Rabbiner wurden in die Stadtkapelle1 geschickt und mußten im Rhythmus von Jazz im Takt herumspringen. Ach Herjeh, und das Essen! Die Juden lecken sich die Lippen nach all den herrlichen Torten und Buchteln (natürlich wenn die Kamera auf sie gerichtet ist), dann hat man ihnen beinahe den Magen ausgepumpt. Die besten Kabaretts, der Kinderpavillon2, alles wurde gefilmt, selbstverständlich »mit einem natürlichen Lächeln auf den Lippen«. Das war das Zwischenspiel.

»Da hatten Sie aber einen guten Einfall mit dem Filmen, Herr ..., sehen Sie, und es ging ohne Vergrößerung des Fressens, ohne Verbesserung der Lebensbedingungen, und in den Augen unserer befreundeten Feinde sind wir rehabilitiert.«

Und das war das Ende.

Don (Herbert Fischl)

1 »Stadtorchester«, für den Propagandafilm der Nazis aufgestellt

2 Kinderpavillon, für den Propagandafilm der Nazis aufgestellt
 


 

Die Mütze (Feuilleton)

Zeichner unbekannt.
Ghettowache. Ayuarell, 145*210 mm. Jüdisches Museum, Prag
 

Eine kleine bedeutungslose Mütze, und doch ist sie hier in Theresienstadt von großer Bedeutung. Es genügt, auf die Straße hinauszutreten und alle Mützen zu beobachten, und dabei erkennt man stets etwas über ihren Besitzer. Eine hohe Schildmütze mit einem oder zwei gelben Streifen zeigt klar, daß ihr Besitzer ein Ghettowachmann ist, ein Hüter der Theresienstädter Ordnung. Auch Feuerwehrleute, die noch kein Feuer gelöscht haben und auch kaum löschen werden, erkennen wir an ihrem Käppi. Wenn ihr einem Mann in weißer Mütze begegnet, schaut zu, seine Gunst zu erwerben, denn wißt, daß dieser zumeist dickliche Mann ein Koch ist. Wenn ihr seine Bekanntschaft macht, habt ihr die Garantie, nicht Hungers zu sterben. Ihr dürft jedoch den Koch nicht mit einem Leichenträger verwechseln, die sind ähnlich gekleidet. Und wenn ihr schließlich ein Wollmützchen mit einem Stubbelchen oben erblickt, dann wißt ihr gleich, daß sein ehrenwerter Besitzer ein Bewohner der Jugendkaserne I. ist. Unter diesem Mützchen verbirgt der Arme seine Platte, die ihm der grobe Friseur kurzgeschoren hat. Ein modisches Damenhütchen bedeckt die dreifarbigen Haare eines jungen Fräuleins, einer Dame oder Oma. Vorne sind die Haare blond, in der Mitte schwarz und hinten schimmern die grauen durch.

Menschen, die mit einem Transport ankommen oder abfahren, haben auf dem Kopf eine bis fünfundzwanzig warme Mützen. Deutsche Juden wiederum zeichnet eine Vorliebe für besondere Schildmützen aus, wie sie von den Tschechen (mit Ausnahme Baron Münchhausens) nicht getragen werden.

Was ich hier schrieb, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was über die Mützen in Theresienstadt erzählt werden könnte. Weil ich jedoch nicht mehr Platz habe, schließe ich.

Abszeß (Jirí Bruml)


Liedtext

Oho, ohe, das Schiff schwimmt auf der See,
im Winde sich das Segel bläht
Oho, Pirat, bald ist's zu spät,
Ohe, Pirat, das Messer raus!
Oho, ohe, oho, ohe
Raus mit dem Rum,
Kehr die Flasche um!

Ohne Ahnung naht das Schiff.
Die Matrosen im Seil erwarten den Pfiff
denn sie haben uns nun erblickt,
die Segel angezogen, die Messer gezückt
Oho, ohe, oho, ohe
Raus mit dem Rum,
Kehr die Flasche um!

Doch vergeblieh ist ihr Mühen
vor uns können sie nicht fliehen
Wir springen schon zu ihnen aufs Deck -
vor uns Piraten Iäuft keiner weg!
Oho, ohe, oho, ohe
Raus mit dem Rum,
Kehr die Flasche um!

Tüchtig sind wir Piraten
vollbringen mutige Taten!
Die goldene Beute ist reich und bunt.
Das eroberte Schiff bohrt sich in den Grund.
Oho, ohe, oho, ohe
Raus mit dem Rum,
Kehr die Flasche um!


Amtieren in Magdeburg1

Ȇbersiedeln? AUSGESCHLOSSEN!
Wie ist der werte Name?
Wie bitte, Sigismund Edelstein2
Sie wollen SEINER Kusine Opa sein?
Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?
Hier ist Ihr Übersiedlungsschein!«
 

Josef Taussig

1 Magdeburger Kaserne

2 Das Epigramm benützt den Namen des Ältestenrats im Ghetto, Jakub Edelstein

(9.11.1943 verhaftet, im Dezember nach Auschwitz deportiert, dort am 20.6.1944 mit Frau und Sohn erschossen)

 


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