Baustein 12
Das Berliner Scheunenviertel
- das „freiwillige" Ghetto
Mischket Liebermann: Aus dem Ghetto in die Welt. Berlin, 3. Aufl.
1995
Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. Köln 1985
Äußerungen zur „Ghetto-Mentalität" von Tucholsky u. a.
Klassenstufe: |
10-13 |
Zeitaufwand: j |
1-2 Unterrichtsstunden |
Themen: |
Zur Vorgeschichte der NS-Ghettos
Zur heutigen „Ghetto"-Bildung
Gründe für Ghettobildung
historische Ghettos
„freiwillige" Ghettos
Juden auf Wanderschaft
Lage der Juden in Osteuropa zu Beginn des 20. Jahrhunderts
„Mitnahme" des Schtetl / Begriff und Erscheinungsformen
Konfrontation mit der westlichen Moderne
Vorteile, Gefahren und Folgen des Ghettolebens |
In der Reichshauptstadt Berlin entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts
und besonders mit dem Ersten Weltkrieg verschiedene dichtbesiedelte und
in der Zusammensetzung der Bewohner geschlossene Quartiere, von denen
das „Scheunenviertel" nördlich des früheren Spandauer Tores, zwischen
Rosenthaler Straße und dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz als „Ghetto"
der zugewanderten Juden aus Osteuropa galt.
„Es waren Flüchtlinge. Man kennt sie allgemein unter dem Namen »Die
Gefahr aus dem Osten«. Pogromangst schweißt sie zusammen zu einer Lawine
aus Unglück und Schmutz, die, langsam wachsend, aus dem Osten über
Deutschland rollt. ... Sie stammen aus der Ukraine, Galizien, Ungarn.
Hunderttausende sind zu Hause Pogromen zum Opfer gefallen.
Hundertvierzigtausend fielen in der Ukraine. Überlebende kommen nach
Berlin. Von hier aus wandern sie nach dem Westen, nach Holland, Amerika,
und manche nach dem Süden, nach Palästina", schrieb Joseph Roth, selbst
Jude aus Galizien, 1920 ( J. Roth, Juden auf Wanderschaft, Köln 1985,
S.47ff) über sie.
Eine Statistik aus dem Jahr 1925 nennt Zahlen und Herkunftsländer (s.
u.).
Mischket Libermann, die Autorin des ersten Auszugs, hat selbst im
Scheunenviertel gelebt. Sie kam 1914, neunjährig mit ihrer großen
Familie (8 Kinder) aus dem „Städtele Tytschin" in Galizien nach Berlin.
Ihr Vater war ein orthodoxer Rabbi, der bald die Synagoge in der
Grenadierstraße leitete.
„Er war ein vielbeschäftigter Mann. Immer in Bewegung, von früh bis
spät. Was er tat? »Dienstleistung« würden wir heute dazu sagen. Ach was!
Er war ein ganzes Dienstleistungskombinat in einer Person. Er bediente
die Schäfchen seiner Gemeinde von der Geburt bis zum Grabe. Er nahm
Beschneidungen vor an acht Tage alten »Männern«. Dreizehnjährige segnete
er ein. Er vollzog Trauungen, Scheidungen, Beerdigungen, war Vorbeter in
der Synagoge und Richter im Ghetto." (Mischket Liebermann: Aus dem
Ghetto in die Welt. Berlin, 3. Aufl. 1995, S. 21)
Nennt Joseph Roth als einen Grund für die Ghettobildung die
„Pogromangst", so kennt Mischket Liebermann noch andere. Zunächst
wollten die bereits in Berlin ansässigen und schon arrivierten,
teilweise auch assimilierten Juden nichts mit den „armen Verwandten" zu
tun haben. Viele von ihnen waren selbst noch Bewohner des Ghettos und
durchaus nicht „reich" geworden, wie man es sich in der Heimat
vorgestellt hatte. Hinzu kam, gerade bei den orthodoxen Juden, noch
etwas anderes:
„Die eingewanderten Juden schlossen sich hermetisch von der Außenwelt
ab. Sie lebten wie Moses auf dem Berge Sinai, streng nach den zehn
Geboten und Hunderten von Verboten, die sie sich selber auferlegten. Bei
uns im Hause des Rabbi Pinchus-Elieeser ging es besonders strenggläubig
zu. Ein Ghetto im Ghetto. Nichts fürchtete mein Vater so sehr wie die
Assimilation seiner Kinder. Um sie zu verhindern, ersann er die
unmöglichsten Sachen. Wir durften zu Hause nicht einmal Deutsch
sprechen. »Hast dir schon deutsche Zähne eingesetzt?« ironisierte er." (Mischket
Liebermann: Aus dem Ghetto in die Welt. Berlin, 3. Aufl. 1995, S. 7f.)
Joseph Roth schildert in seinem großen Bericht „Juden auf
Wanderschaft" um 1920 auch die Station „Scheunenviertel". (Text 2)
1937, aus dem Pariser Exil, stellt Roth im Nachwort zur Neuauflage sich
die Frage, weshalb die Juden Verfolgung, Demütigung, Existenzverlust
erdulden. „Die Fähigkeit sie zu ertragen, ist der größere Teil des
Unglücks." Und er kommt zu dem Schluß: „Von den Juden, die heute noch in
Deutschland leben, wird höchstwahrscheinlich nur noch ein unwesentlicher
Bruchteil auswandern können, - und wollen. Denn auch nach einer
hundertjährigen Emanzipation und einer Schein-Gleichberechtigung, die
etwa 50 Jahre gedauert hat, besitzen die Juden, wenn auch nicht die
göttliche Gnade, leiden zu können wie ihre gläubigen Brüder, so doch die
merkwürdige Fähigkeit, Unsagbares zu erdulden. Sie werden bleiben, sie
werden heiraten, sich vermehren, ihre Finsternisse und Bitterkeiten
vererben - und hoffen, daß eines Tages »alles anders« werde." (Joseph
Roth: Juden auf Wanderschaft. Köln 1985, S. 82f.)
Kurt Tucholsky drückte die von Roth angedeutete in Jahrhunderten
der Verfolgung und des Ghettos erworbene und vererbte Leidensfähigkeit
der Juden in seinem letzten Brief an Arnold Zweig kurz vor seinem
Freitod am15. Dezember 1935 bitter und provokant so aus:
„Das Judentum ist besiegt, so besiegt, wie es das verdient - und es ist
auch nicht wahr, daß es seit Jahrtausenden kämpft. Es kämpft eben nicht
... Nein, liebe Freunde. Getto ist keine Folge - Getto ist Schicksal."
(aus: Andreas Nachama / Gereon Sievernich (Hg.): Jüdische Lebenswelten.
Berlin 1991, S. 632)
Arbeitshinweise
- Lektüre, Diskussion
- Zusammentragen von Material: Quellen und Fotos (z. B. in
Salamander, Rachel (Hg.): Die jüdische Welt von gestern. 1860-1938.
Text- und Bild-Zeugnisse aus Mitteleuropa. Wien 1990) zum
Scheunenviertel, aber auch zu anderen historischen oder
zeitgeschichtlichen Ghettos (s. o.,); Joseph Roth über Wien in Juden
auf Wanderschaft.
- Darstellen eines historischen Ghettos nach eigener Wahl (in Form
einer Wandzeitung, eines Plakats, einer Lose-Blatt-Sammlung)
- Erarbeiten der Unterschiede zu den nationalsozialistischen
„Ghettos" (tabellarische Gegenüberstellung, repräsentative
Einzelschicksale) Herausarbeiten des Lagercharakters der NS-Ghettos
- Diskussion der Sätze von Tucholsky
- Angst als Ursache von Ghettobildung (Angst der Mehrheit vor dem
Fremden, Anderen - auch Angst innerhalb der Minderheit, daher Abschluß
nach außen).
Barbara Heckel
Ausländische Juden in Berlin (1925)
Ein Viertel aller in Berlin lebenden Juden war 1925 ausländischer
Staatsangehörigkeit. Diese stammten überwiegend aus Polen, Rußland und
Galizien. Sie unterschieden sich als „Ostjuden" wesentlich von den
deutschen Juden. Die Behörden verweigerten ihnen auch nach
jahrzehntelangem Aufenthalt fast immer die deutsche Staatsbürgerschaft.
Insgesamt lebten in Großberlin 1925 172.672 Juden, das waren 4,3% aller
Einwohner.
Staatsangehörigkeit |
absolut |
in %
aller jüdischen Ausländer |
Polen |
17423 |
39,7 |
Österreich |
5326 |
12,1 |
Tschechoslowakei |
2137 |
4,9 |
Ungarn |
1904 |
4,3 |
Rumänien |
1634 |
3,7 |
Rußland (UdSSR) |
5185 |
11,8 |
Litauen |
868 |
2,0 |
Lettland |
849 |
1,9 |
Estland |
43 |
0,1 |
Staatenlose |
5037 |
11,5 |
andere |
3432 |
7,8 |
|
43838 |
99,8 |
aus: Hilker-Siebenhaar, Carolin (Red.): Juden in Berlin: 1671-1945. Ein
Lesebuch. Berlin 1988, S. 191.
Mischket Liebermann: Aus dem Ghetto in die Welt
Ja, auch in Berlin gab es ein Ghetto. Ein freiwilliges. Lange vor
Hitler. Genauer - bis zur Hitlerei. Denn dann gab es die unfreiwilligen.
Und die Gaskammern.
Das Ghetto lag in der Grenadierstraße und ihrer Umgebung. Zwischen dem
Bülowplatz, dem heutigen Luxemburgplatz, und der Münzstraße.
Ausgerechnet in dieser Gegend hatten sich die Ostjuden niedergelassen,
die 1914 vor den Kriegswirren aus Galizien geflüchtet waren. Was heißt
ausgerechnet. Natürlich hatte das seine guten Gründe. Hier gab es die
billigsten Wohnungen und die wenigsten Antisemiten. Einer folgte dem
anderen nach. Bald wohnten sie Haus an Haus, Tür an Tür. Im
Zusammenrücken glaubten sie Schutz zu finden, und wer weiß, vielleicht
auch ein Stückchen Heimat. Viele Berliner verließen allmählich das
Scheunenviertel.
Und auch so manche der Ostjuden zogen eines Tages wieder fort von hiert.
Wenn sie das »große Los« gewonnen, daß heißt, wenn sie gute Geschäfte
gemacht hatten und reich geworden waren. Dann siedelten sie sich in den
Vierteln der Reichen an und versuchten, deren Lebensweise nachzuahmen.
[...]
Doch die meisten der Ostjuden blieben im Ghetto. Und blieben, was sie
waren: arme Schlucker. Mit unheimlich vielen Kindern. Sie rackerten sich
ab, um die zahlreichen Mäuler irgendwie satt zu kriegen.
Das Berliner Ghetto umgaben keine Mauern, und doch war es eine
abgeschlossene Welt. Es hatte seine eigenen Gesetze, seine Sitten und
Gebräuche. Die orthodoxen Juden wachten darüber, daß sie streng
eingehalten wurden. Es gab eine eigene Versorgung. Alles mußte ja
koscher (rein, nach bestimmten rituellen Vorschriften zubereitet) sein.
Die enge Grenadierstraße war voller kleiner Läden: Fleischwaren,
Kolonialwaren, Grünkram, zwei Bäckereien, na und die Fischhandlung. Die
durfte auf
keinen Fall fehlen. Denn was ist ein Sabbat ohne gefüllten Fisch! Eigene
Handwerker, Schuster, Schneider, Trödler, Hausierer waren da. Und eine
koschere Gaststätte mit einer vorzüglichen Küche. Doch im Mittelpunkt
standen die zwei Bethäuser mit ihren beiden Rabbinern, den Vorbetern und
den Schlattenschammes, den Synagogendienern.
Das Ghetto konnte sich sogar rühmen, eine eigene Diebes- und Hehlerbande
zu haben. Eines Tages wurde bei uns eingebrochen. Das heißt, man
brauchte gar nicht einzubrechen, die Wohnungstür stand stets offen. Bei
uns war den ganzen Tag ein Kommen und Gehen. Mein Vater war nämlich
einer der Rabbiner im Ghetto. Es kränkte ihn sehr, daß man es gewagt
hatte, ihn, den »Vertreter Gottes auf Erden«, zu bestehlen. Er ließ sich
den Bandenboß kommen. Jeder wußte, wo er wohnte. Sogar die Polizei wußte
es. Aber er ging aus allem wie ein Unschuldslamm hervor. [...]
Eine besondere Kaste bildeten die Schnorrer (Bettler) im Ghetto. Die gab
es in Scharen. Jeder von ihnen hatte eine bestimme Familie, bei der er
Monat für Monat erschien und Geld kassierte. Pünktlich auf den Tag. So,
als sei es sein Gehalt. Bekam mal einer keins, machte er Rabatz. Unser
hauseigener Schnorrer jagte uns Kindern immer einen Schreck ein, wenn er
kam. Er war ein großer, hagerer, einäugiger Mann, trug einen schwarzen,
verwilderten Bart und Schläfenlocken. Sein Kaftan war fettig und voller
Löcher, er selber frech und aufdringlich. Wenn meine Eltern ihn einen
Monat vertrösten mußten, weil sie selber nicht wußten, wie sie den
nächsten Tag zurechtkommen würden, wetterte er los: »Warum soll ich
Ihnen das schenken? Wer schenkt mir denn was!« Er glaubte tatsächlich,
ein Recht darauf zu haben. Das Betteln betrachtete er als seinen Beruf.
(aus: Mischket Liebermann: Aus dem Ghetto in die Welt. Berlin, 3. Aufl.
1995, S. 5-7.)
Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft
Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt
freiwillig nach Berlin?
Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen
länger verweilt. Berlin hat kein Getto. Es hat ein jüdisches Viertel.
Hierher kommen die Emigranten, die über Hamburg und Amsterdam nach
Amerika wollen. Hier bleiben sie oft stecken. Sie haben nicht genug
Geld. Oder ihre Papiere sind nicht in Ordnung.
(Freilich: die Papiere! Ein halbes jüdisches Leben verstreicht in
zwecklosem Kampf gegen Papiere.)
Die Ostjuden, die nach Berlin kommen, haben oft ein Durchreisevisum, das
sie berechtigt, zwei bis drei Tage in Deutschland zu bleiben. Es sind
schon manche, die nur ein Durchreisevisum hatten, zwei bis drei Jahre in
Berlin geblieben.
Von den alteingesessenen Berliner Ostjuden sind die meisten noch vor dem
Kriege gekommen. Verwandte sind ihnen nachgereist. Flüchtlinge aus den
okkupierten Gebieten kamen nach Berlin. Juden, die in Rußland, in der
Ukraine, in Polen, in Litauen der deutschen Okkupationsarmee Dienste
geleistet hatten, mußten mit der deutschen Armee nach Deutschland. [...]
In Berlin kann auch ein Hausierer Karriere machen. Er wird sich
schneller assimilieren als seine Standesgenossen in Wien. Berlin gleicht
die Verschiedenen aus und ertötet Eigenheiten. Deshalb gibt es kein
großes Berliner Getto.
Es gibt nur ein paar kleine Judenstraßen, in der Nähe der Warschauer
Brücke und im Scheunenviertel. Die jüdischste aller Berliner Straßen ist
die traurige Hirtenstraße.
So traurig ist keine Straße der Welt. Die Hirtenstraße hat nicht einmal
die hoffnungslose Freudigkeit eines vegetativen Schmutzes.
Die Hirtenstraße ist eine Berliner Straße, gemildert durch ostjüdische
Einwohner, aber nicht verändert. Keine Straßenbahn durchfährt sie. Kein
Autobus. Selten ein Automobil. Immer Lastwagen, Karren, die Plebejer
unter den Fahrzeugen. Kleine Gasthäuser stecken in den Mauern. Man geht
auf Stufen zu ihnen empor. Auf schmalen, unsauberen, ausgetretenen
Stufen. Sie gleichen dem Negativ ausgetretener Absätze. In offenen
Hausfluren liegt Unrat. Auch gesammelter, eingekaufter Unrat. Unrat als
Handelsobjekt. Altes Zeitungspapier. Zerrissene Strümpfe. Alleinstehende
Sohlen. Schnürsenkel. Schürzenbänder. Die Hirtenstraße ist langweilig
vororthaft. Sie hat nicht den Charakter einer Kleinstadtstraße. Sie ist
neu, billig, schon verbraucht, Schundware. Eine Gasse aus einem
Warenhaus. Aus einem billigen Warenhaus. Sie hat einige blinde
Schaufenster. Jüdisches Gebäck, Mohn
beugel, Semmeln, schwarze Brote liegen in den Schaufenstern. Ein
Ölkännchen, Fliegenpapier, schwitzendes.
Außerdem gibt es da jüdische Talmudschulen und Bethäuser. Man sieht
hebräische Buchstaben. Sie stehen fremd an diesen Mauern. Man sieht
hinter halbblinden Fenstern Bücherrücken.
Man sieht Juden mit dem Talles unterm Arm. Sie gehen aus dem Bethaus
Geschäften entgegen. Man sieht kranke Kinder, alte Frauen.
Der Versuch, diese Berliner langweilige, so gut wie möglich
saubergehaltene Straße in ein Getto umzuwandeln, ist immer wieder stark.
Immer wieder ist Berlin stärker. Die Einwohner kämpfen einen
vergeblichen Kampf. Sie wollen sich breitmachen! Berlin drückt sie
zusammen.
Ich trete in eine der kleinen Schankwirtschaften. Im Hinterzimmer sitzen
ein paar Gäste und warten auf das Mittagessen. Sie tragen die Hüte auf
dem Kopf. Die Wirtin steht zwischen Küche und Gaststube. Hinter dem
Ladentisch steht der Mann. Er hat einen Bart aus rotem Zwirn. Er ist
furchtsam.
Wie sollte er nicht furchtsam sein! Kommt nicht die Polizei in diesen
Laden? War sie nicht schon einige Male da! Der Schankwirt reicht mir auf
jeden Fall die Hand. Und auf jeden Fall sagt er: »Oh, das ist ein Gast!
Sie sind schon so lange nicht dagewesen!« Niemals schadet eine herzliche
Begrüßung.
Man trinkt das Nationalgetränk der Juden: Met. Das ist der Alkohol, an
dem sie sich berauschen können. Sie lieben den schweren, dunkelbraunen
Met, er ist süß, herb und kräftig. [...]
Das Kabarett fand ich zufällig, während ich an einem hellen Abend durch
die dunklen Straßen wanderte, durch die Fensterscheiben kleiner
Bethäuser blickte, die nichts anderes waren als simple Verkaufsläden bei
Tag und Gotteshäuser des Morgens und des Abends. So nahe sind den Juden
des Ostens Erwerb und Himmel; sie brauchen für ihren Gottesdienst nichts
als zehn erwachsene, das heißt über dreizehn Jahre alte
Glaubensgenossen, einen Vorbeter und die Kenntnis der geographischen
Lage, um zu wissen, wo Osten ist, der Misrach, die Gegend des Heiligen
Landes, der Orient, aus dem das Licht kommen soll.
In dieser Gegend wird alles improvisiert: der Tempel durch die
Zusammenkunft, der Handel durch das Stehenbleiben in der Straßenmitte.
Es ist immer noch der Auszug aus Ägypten, der schon Jahrtausende anhält.
Man muß immer auf dem Sprung sein, alles mit sich führen, das Brot und
eine Zwiebel in der Tasche, in der anderen die Gebetriemen. Wer weiß, ob
man in der nächsten Stunde nicht schon wieder wandern muß.
aus: Joseph Roth: Juden auf Wanderschaft. Köln 1985, S. 47-51.
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