Eugen Baacke / Dr. Ralf Krüger / Bruno Zandonella

Einleitung


Sind es die mageren Jahre, die dazu anregen, das eigene Schäfchen ins Trockene zu bringen, oder trägt schwindendes Unrechtsbewußtsein bei, daß kriminelle Vorteilsnahme wächst? Keine Woche vergeht ohne alarmierende Schlagzeilen, die belegen, wie Wirtschaftskriminalität zum "Werteverfall" beiträgt, zumal "Weiße-Kragen-Täter" auch vor den Türen der Top-Etagen nicht haltmachen.

Die Banken im Fadenkreuz der Staatsanwälte. Kriminelle Energie bis hinauf in den Vorstand (Süddeutsche Zeitung Nr. 1, S. 20 vom 01.01.1997) - Organisiertes Verbrechen schädigt EU durch Zollbetrug um Milliarden (SZ Nr. 27, S. 19 vom 03.02.1997) - Korruption bei Mißmanagement. Sicherheitsexperte warnt vor ausufernder Wirtschaftskriminalität (SZ Nr. 45, S. 19 vom 24.02.1997), dann Namen wie European Kings Club, Schneider, Graf, Lopez de Arriortua, zugleich eine Häufung von Betrugs-, Bau-, Steuer-, Korruptions-, Subventions- und Schmiergeldaffären: all dies Belege für eine gesamtgesellschaftliche Schadensbilanz, deren gigantische Ausmaße erst langsam sichtbar werden.

Solche und ähnliche, uns immer wieder alarmierenden Schlagzeilen sind längst keine vorübergehende Erscheinung mehr. Sie begegnen uns seit Jahren, sind zum permanenten Phänomen geworden. Anfangs mochte sich mancher Beobachter damit beruhigen, daß gesellschaftlicher Wandel eben auch im Bereich der Kriminalität neue Erscheinungsformen zur Folge hat. In den neuen Bundesländern ist z.B. die sogenannte Vereinigungskriminalität als für einen politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozeß typischer Fall der Wirtschaftskriminalität gesehen worden.

Das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Wirtschaftskriminalität ein Ausmaß und eine Qualität annehmen kann, die Gefahren für die Grundlagen einer freien Marktwirtschaft heraufbeschwört. Zumindest auf Dauer gefährden Kostenvorteile illegaler wirtschaftlicher Betätigung legal operierende Mitbewerber. Mit deren Ausscheiden am Markt entfallen aber zugleich Arbeitsplätze. Den gleichen Effekt bewirken spezielle Formen der Wirtschaftskriminalität, wie z.B. die mit Firmenzusammenbrüchen verbundene Untreue zum Nachteil des eigenen Unternehmens.

Zugleich mehren sich gerade bei der Wirtschaftskriminalität Zweifel daran, ob staatliche Reaktionen noch die erforderliche Wirkung zeigen. Der Umfang der bei Wirtschaftsdelikten notwendigen Ermittlungen scheint Polizei und Staatsanwaltschaft langsam aber sicher zu überfordern. Die prozessuale Gestaltung der Strafverfahren ermöglicht darüber hinaus Beweiskraft reduzierende und strafmilderne Verfahrensverzögerungen. Selbst neue gesetzgeberische Mßnahmen erfüllen zumindest bisher nicht die in sie gesetzten Hoffnungen. So greift die Geldwäschesanktion trotz eines nahezu unverhältnismäßigen administrativen Aufwandes bei Banken, Polizei und Justiz praktisch nicht. Angesichts der Belastung von Polizei und Justiz drohen die bereits offen als "deal" bezeichneten Absprachen zwischen Justiz und Verteidigung die strafrechtlichen Sanktionen zu einem für den Wirtschaftskriminellen kalkulierbaren Kostenfaktor verkümmern zu lassen.

Angesichts solcher Phänomene werden berechtigte Fragen laut, ob der Staat auf dem Gebiet der Wirtschaftskriminalität noch seiner Pflicht zum Rechtsgüterschutz entspricht und ob er dem Verfassungsauftrag zur Gewährleistung des Sozial- und Rechtstaatsprinzips noch genügt, oder ob die gesellschaftlich gerade noch vertretbare und verkraftbare Grenze notwendigerweise hinzunehmender Kriminalität im Bereich wirtschaftlichen Handelns nicht bereits überschritten ist.

Nach dem internationalen Symposium "Europa im Griff der Mafia?" am 25. Oktober 1993 im Rathaus Stuttgart und nach dem Seminar "Organisierte Kriminalität als Herausforderung an Justiz und Gesellschaft" in Zusammenarbeit mit dem Justizministerium Baden-Württemberg vom 16. bis 19. Mai 1994 folgte die Expertentagung "Grenzenlose Geschäfte. Wirtschaftskriminalität in Deutschland und Europa" vom 12. bis 14. Juni 1995, wiederum im Haus auf der Alb in Bad Urach, deren Ergebnisse in dieser Dokumentation vorgestellt werden.

Gerade die über den engeren fachlichen Rahmen der Strafverfolgung hinaus wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch relevanten Aspekte der Wirtschaftskriminalität sind es, die es der Landeszentrale für politische Bildung angezeigt erscheinen ließen, die Situation der Wirtschaftskriminalität und ihrer Bekämpfung im Gespräch mit Wissenschaftlern und Praktikern zu analysieren, um die Ergebnisse über die Fachkreise hinaus der Öffentlichkeit zu vermitteln.

Gerade in wirtschaftlich so schwierigen Zeiten wie heute muß klar werden, daß normative Standards, die unsere Gesellschaft und Kultur prägen, auch Gradmesser für unsere Wirtschaftsordnung sein müssen. Die demokratische Grundordnung kann nur durch die Verwirklichung der Freiheits- und Gleichheitsrechte und der damit verbundenen Anerkennung von Verteilungsgerechtigkeit gesichert werden.