Raimund Speidel

Verwaltung im Umbruch: Mehr Mut zur Bürgernähe !


Raimund Speidel, geb. 1946. Diplom-Verwaltungswirt (FH), 5 Jahre Kämmerer der Gemeinde Zimmern o. R.. Seit 1972 Bürgermeister der Gemeinde St. Johann, Landkreis Reutlingen (5.100 Einwohner). Mitglied im Regionalverband Neckar-Alb, Obmann der Bürgermeister im Landkreis Reutlingen, Ehrenamtlicher Richter der Fachkammer beim Verwaltungsgericht Sigmaringen, Gastdozent bei verschiedenen öffentlichen bzw. sozialen Institutionen.

Das Thema der Arbeitsgruppe beinhaltet für die Gemeinden im ländlichen Raum und für die dort lebenden Menschen zwei ganz unterschiedliche Aspekte, nämlich

- die Aufgaben der Gemeinde als weitgehend autonome Selbstverwaltungskörperschaft (Vermutung der Allzuständigkeit). Diesen sehr weitgehenden politischen Gestaltungsbereich mit seinen bürgerschaftlichen Mitgestaltungsmöglichkeiten bezeichnet man auch als 'Wiege der Demokratie'. Als überschaubare Institution und unmittelbarer Lebensraum vermittelt sie den Menschen das Miteinander in allen Variationen. Demokratie wird erlebbar!

- die klassische örtliche (Gemeinde-) Leistungs- und Ordnungsverwaltung als Dienstleistungseinrichtung für die Bürger.

Beide Bereiche sind durch gemeinsames 'Produktmanagement' (Gemeinde, Organe) und gemeinsame 'Produktionsmittel' in derselben 'Firma' ohne äußerlich deutlich wahrnehmbare Grenzen vernetzt. Das spiegelt sich auch in diesem Aufsatz nieder, der aus den Erfahrungen einer 25jährigen kommunalpolitischen Tätigkeit schöpft. Deshalb erwartet den Leser keine neue wissenschaftlich empirische Arbeit, sondern das Ergebnis einer Arbeitsgruppe, die sich interdisziplinär mit einem ganzheitlichen Ansatz mit den Entwicklungschancen und Möglichkeiten des ländlichen Raumes befaßt.

Umbruch signalisiert immer 'Wandel - Veränderung - neues Denken'.

"Umbrüche gab es schon immer. Die Möglichkeit einer gewaltigen Mobilität, die Bevölkerungsentwicklung und die Bewegung der Nachkriegsjahre, die Konzentration in fast allen Lebensbereichen haben auch im Dorf früherer Prägung viel in Bewegung gebracht, was diese Einheit unter der Kirchturmspitze vereinte, oft sogar total veränderte. Man denke nur an die landwirtschaftliche, industrielle und soziologische Entwicklung mit allen Konsequenzen, z. B. auch die Gemeindegebietsreform.

Fast alle Strukturen veränderten sich. Der gemeinsame Werthorizont ist nicht mehr. Wir sind eine Gesellschaft mit vielen Horizonten geworden. Es ist soweit gekommen, daß fast jeder Mensch nur mehr ein loses Gefüge von Lebenshorizont über sich hat, das ihm noch den Eindruck einer ziemlichen Unverlässlichkeit und Wandelbarkeit erweckt. Die Menschen formulieren das so: Man weiß nicht mehr recht, was eigentlich gilt, worauf es ankommt und wer noch recht hat.

Freilich in diesem Zusammenbruch des gesellschaftsüberspannenden generellen Lebenshorizontes verblieb doch so etwas wie ein dörflicher Lebenshorizont. Die Eigenart eines Dorfes ist, daß sein Horizont noch ein bißchen stabiler ist, daß von den maßgeblichen Leuten des Dorfes, besonders von Kirchen aus, leichter zu restabilisieren ist. Darin besteht auch eine gewisse Unterschiedlichkeit zur Stadt. Der allgemeine Lebenshorizont ist im Dorf leichter zu erstellen, weil die dafür maßgeblichen Komponenten präsenter, hautnäher, erlebbarer und vielleicht auch durchsetzungsfähiger sind." (Prof. Dr. Kroner: Neue Altenkultur auf dem Lande.

Die bisher klassische Trennung zwischen Ordnungs- und Leistungsverwaltung auf den Rathäusern ist kein Problem des Bürgers, sondern eher der Theorie. Dienstleistungen werden von dem Bürger - zu Recht - schnell, unkompliziert, kundenorientiert und möglichst preiswert erwartet. Bei der Daseinsvorsorge und in Zukunftsfragen erwartet er breite demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten, wenn es auch manchmal mühsame Arbeit ist. Denn nicht zuletzt sind Bürgermeister und alle Kommunalpolitiker mit verantwortlich für die Atmosphäre und den sozialen Frieden in unseren Städten und Gemeinden.

Von Kommunalpolitikern als Generalisten und Pragmatiker erwartet man einerseits realitätsbezogene Lösungen, andererseits brauchen sie für eine gute Kommunalpolitik konzeptionelle Grundlagen für die zu erreichenden Ziele. Schlagworte der Medien und in der Fachliteratur: "Verwaltung 2000 - neues Steuerungsmodell - Lean Management - Dezentrale Ressourcenverantwortung - Stadtmarketing - Corporate Identity" treffen den Bürger oft wie Keulenschläge und gehen eher dem Wissenschaftler als dem Praktiker zur Hand. Man behauptet, die Deutschen hätten eine der besten Verwaltungen der Welt, aber vielen ist sie eher unheimlich.

"Es gibt inzwischen genügend Schulungsprogramme und Handlungskonzepte für Mitarbeiter in der Ordnungs- und Leistungsverwaltung, wie z.B. Verwaltungsleitbild, äußeres Erscheinungsbild, Aufbau- und Ablauforganisation, Umgang und Schreibstil, Informationsverhalten, Workshops, Kundenschulung, Konflikt- und Beschwerdemanagement." (Rudolf Jourdan, Kommunalpraxis Nr. 11/96.)

Viel wichtiger ist der gesellschaftspolitische und soziologische Ansatz, d. h. das Hineindenken in die Bedürfnisse und Sorgen der Bürger, um mit ihnen gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Andererseits braucht der Bürger die Bewußtseinserweiterung und das Verständnis für die aktuellen Sorgen seiner Gemeinde. So ist Kooperation und Loyalität notwendig, um eine Art neue kommunale Partnerschaft zu begründen oder, um dies plastisch werden zu lassen, das Sitzen in 'ein und demselben Boot' zu vermitteln.

Gerade in den kleineren ländlichen Gemeinden bieten sich aufgrund ihrer Überschaubarkeit und der vielfältigen Vernetzungs- und Begegnungsmöglichkeiten große Chancen, denn man kennt sich und begegnet sich.

Ein von oben übergestülptes Verwaltungshandlungskonzept scheitert oftmals an der Individualität und Mentalität der einzelnen Gemeinden und ihrer Bürger. Verwaltungshierarchien haben beim Bürger wenig Chancen, weil die kurze räumliche und menschliche Distanz den Umgangsstil prägt, denn der Kunde erwartet freundlich, höflich, rücksichtsvoll, verständnisvoll, zuvorkommend und hilfsbereit bedient zu werden. Fazit: Kundenorientiertheit sollte eigentlich selbstverständlich sein. Das beginnt mit dem Denken bei den Beteiligten.

Eine Partnerschaft zwischen Leistungsanbietern und Leistungsempfängern ist die Basis dazu. Partnerschaft bedeutet gegenseitige Verpflichtung und Verständnis für die jeweiligen Möglichkeiten und deren Grenzen. Der Bürger ist selbstverständlich wohlgelittener Kunde und Verwaltungsmitarbeiter sind nicht nur bezahlte Steuerkostgänger und deshalb immer gut für Negativbeispiele (s. Beamtenwitze). Auch sie wollen Anerkennung für ihre Leistung.

Ein weitaus wichtigerer Bereich als die reine Verwaltungsebene ist das bürgerschaftliche Miteinander im Bereich der Daseinsvorsorge. Gemeint ist das Verhältnis des Bürgers zur Kommunalpolitik, seine Mitarbeit an aktuellen und künftigen Aufgaben sowie das gemeinsame Tragen von gesellschaftspolitischen Entwicklungen und demokratischen Prozessen.

Nicht nur die Finanznot aller öffentlichen Hände zwingt auch die Gemeinden zur ökonomischen Effizienz sondern erfordert ebenfalls eine neue kommunale Partnerschaft. Mehr Bürgersinn und Ideen anstelle von Geld sind gefragt!

"Viele Menschen sehen im Staat immer noch eine Art Sozialagentur, eine Serviceeinrichtung, bei der man sich wie ein Verbraucher verhält. Oben wirft man Münzen in den Apparat, um unten Berechtigungsscheine aller Art in Empfang zu nehmen." (Wolfgang Schäuble)

"Sind wir an den Verwöhnungstendenzen nicht selber schuld? Die öffentliche Hand ist kein Animier- und Auffangbetrieb für alle Wechselfälle des Lebens. Bürgerschaftliche Einrichtungen müssen vielmehr von denjenigen mitgestaltet und mitgetragen werden, die sie auch benutzen. Man fühlt sich dann mehr verantwortlich und betrachtet dann das Ganze als seine ureigenste Sache.

Welches sind nun die Wege zu mehr Bürgernähe?

Gemeinsame Politik an konkreten Objekten, auf konkrete Situationen bezogen erlebbar machen. Diese Linie verringert Vorurteile, vermittelt Transparenz.

Warum?

Die Medien präsentieren uns täglich entweder neue Mißstände, wie Korruptionen, Betrügereien von Mandatsträgern oder berichten immer wieder über dieselben Kriegsherde in aller Welt. Der Bürger als Konsument erlebt 'Entscheidungsträger' als nicht handlungsfähig, wir stumpfen ab - Ohnmacht - Resignation. Folge: Wir reduzieren uns auf überschaubare Größen in unserem Leben - Nahziele - Wohlbefinden - Reisen - sich etwas gönnen - wer weiß, was noch kommt! Genau in diese reduzierte Welt gehört unser Thema.

Wer bereit ist für Neues, verringert die Gefahr, sich ausschließlich nur auf eingefahrene, bewährte Gleise zu verlassen - stoppt Routine - trainiert Flexibilität - wirkt letztendlich auf jeden motivierend.

Das sind eigentlich die klassischen Vorteile einer Dorfgemeinschaft, in der sich noch viele für das Ganze verantwortlich fühlen.

Da gibt es sehr viele kleine, aber wirkungsvolle Lösungsansätze: Bürgerinitiativen sind im Grundsatz positive Partner der Kommunalpolitik. Leider ist oftmals die Atmosphäre zur Gemeinde dann primär gereizt, wenn einseitige Interessen kompromißlos verteidigt werden. Dem zuvorzukommen ist wichtig, um einer konfliktfreien Lösung willen. Voraussetzung: Streitkultur, Konfliktfähigkeit, keine Machtbezogenheit, sondern um der Sache willen ein ausgewogenes Ergebnis zu erzielen.

Mitarbeit wird oft heute gemieden und gescheut in Institutionen, weil geglaubt wird, sich auf Jahre zu verpflichten (Beispiel Vereinsrituale). Deshalb 'befristete Bürgereinbeziehung' ohne Rituale bis zur 'Lösung' - dann Auflösung der Bürgerbeteiligung bis evtl. zu nächsten Aktion. Das verlangt, daß die Kommunalpolitiker im Interesse ihrer Gemeinden und der zu leistenden Arbeit evtl. umdenken. Nicht immer nur fertige, teure und einzigartige obrigkeitsfundierte Lösungen anbieten und dann jammern, man habe eigentlich gar kein Geld." (Ernst Ebel, Neue Formen der Bürgerbeteiligung, S. 1.)

Auch Mangelerscheinungen müßten genauso wie Wohlfahrtswirkungen von allen solidarisch getragen und nicht, wie oft, egozentrisch verteidigt bzw. gefordert werden. Der bessere Part von Bürgermeister und Gemeinderat wäre: Alles, was dem Gemeinwohl, auch wenn es sich um Minderheiten handelt, dienen kann, tatkräftig im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe und, wenn möglich, mit öffentlichem und privatem Sponsoring fördern. Dabei sind der kommunalen Phantasie, abgesehen vom Geld, keine Grenzen gesetzt.

Das Dorf kann mit seiner Überschaubarkeit und Kommunikationsfreudigkeit fast unerschöpflich viel für die Gestaltung des Dorfes als Lebensform tun, denn das Dorf ist eine gute Lebensform und ein guter Lebensraum, der es dem Menschen ermöglicht, dort als Person zu leben. Das Dorf ist ein gemeinsames Unternehmen zur wechselseitigen Förderung des Lebens. Fazit: Viele dezentrale und kleine, vor allem initiierte und unterstützte Aktivitäten sind vielfältiger und interessanter als nur die üblichen bestellten teuren und gerasterten Lösungen. Neue Formen von öffentlichen Veranstaltungen, Bürgerversammlungen zur Information und Erlebnis sind notwendig. Aufgrund des gehobenen Bildungsstandards bieten sich für höhere Anforderungsprofile gute Chancen. Das gemeinsame Ziel müßte es sein, daß der ländliche Raum nicht nur als Restraum im Vergleich zu den städtischen Verdichtungsräumen gesehen wird, weil die große Geschichte schon immer in den Metropolen geschrieben wurde, sondern weil dort, wo fast die Hälfte der Bevölkerung unseres Landes wohnt, diese Menschen auch Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse haben, wie es auch der Landesentwicklungsplan apostrophiert. Die Finanzen spielen dabei nicht die entscheidende Rolle, denn mit Phantasie und gleichgesinnten Menschen zu arbeiten befriedigt viel mehr.

 

Anschrift des Verfassers:

Bürgermeister

Raimund Speidel

Bürgermeisteramt

Schulstraße 1

72813 St. Johann

 

Ein paar gibt es in jedem Jahrgang. Die singen keine Heimatlieder und sind in keinem Verein. Stecken keinen Maibaum und haben noch nie eine Tracht getragen. In den Festzelten sitzen sie neben dem Ausgang. Jeder bestellt abwechselnd eine Runde. Frühmorgens haben sie dann eine ganze Zugfahrt in die nächste Großstadt versoffen, bis auf den letzten Pfennig. Sie könnten jetzt nicht einmal mehr einen leeren Koffer tragen geschweige denn einen verständlichen Satz zusammenbringen für einen Abschiedsbrief an ihre Mutter. Um sie nicht zu zertreten, umgehn sie auf dem Heimweg in Schlangenlinien die Sterne, die sich in den Rinnsteinen und Wasserlachen spiegeln. Es mindert die Trostlosigkeit nicht, daß sie sich vielleicht in die Bedienung verliebt haben. In die mit den schwarzen Locken.

Walle Sayer: Glockenschläge (1990)