Ulrich Klemm

Erwachsenenbildung als Entwicklungsfaktor


Dr. Ulrich Klemm, geb. 1955. Diplom-Pädagoge. Seit 1984 Fachbereichsleiter für ländliche Bildungs- und Kulturarbeit an der Ulmer Volkshochschule, 1988 Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins für Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg e.V., 1989 Mitbegründer und Redakteur der Zeitschrift für Regionalentwicklung PRO REGIO. Seit 1993 Lehrbeauftragter für Erwachsenenbildung an der Universität Augsburg im Studiengang Diplompädagogik. Publizistische Tätigkeiten als Autor, Herausgeber, Redakteur (Zeitschrift für Entwicklungspädagogik - ZEP) und Verleger in den Bereichen Alternativ- und Antipädagogik, Montessori-Pädagogik, Entwicklungspädagogik, Anarchismusforschung, ländliche Bildungs- und Kulturarbeit.

Ich möchte in meinem Vortrag eine Lanze für die Erwachsenenbildung brechen, d.h. ich möchte Ihnen die Erwachsenenbildung im ländlichen Raum als einen Partner in der Raum-, Regional- und Dorfentwicklung vorstellen, der sowohl über personelle, infrastrukturelle als auch inhaltliche Ressourcen und Kompetenzen verfügt.

Diese These erscheint zunächst auf den ersten Blick vielleicht als kühn und überschätzend, wenn wir uns ein gängiges Bild von der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum vor Augen führen, das sie uns gleichsam als eine entpolitisierte Sprachen-, Bastel-, Yoga- oder Familien-Schule für Frauen mittleren Alters erscheinen läßt.

Obgleich dieses Bild durchaus empirische und auch realistische Züge hat, denke ich allerdings, daß damit nur die halbe Wahrheit über ländliche Erwachsenenbildung gesagt wird und es gerade heute ansteht, ihre Aufgaben und ihr Selbstverständnis angesichts gesellschaftlicher Realitäten neu zu definieren.

- Ich möchte mit Ihnen in diesem Sinne über die These diskutieren, daß Erwachsenenbildung im ländlichen Raum durchaus mehr kann und auch können muß, als sie derzeit in vielen Fällen vorgibt, und daß sie eine bislang nur wenig beachtete Bedeutung im Kontext des Strukturwandels des ländlichen Raumes haben kann und muß.

- Ich möchte Sie weiterhin gerne davon überzeugen, daß öffentlich subventionierte Erwachsenenbildung - sei sie von Heimvolkshochschulen, Volkshochschulen, Landfrauenverbänden oder von kirchlichen Einrichtungen getragen - weit mehr ist und sein kann als eine flächendeckende Freizeiteinrichtung mit einem hohem individuellen Erlebniswert.

Anders und pointiert gesagt: Diese Einrichtungen müssen mehr denn je, um ihren öffentlichen Bildungsauftrag erfüllen zu können und damit auch in den Genuß öffentlicher Subventionen zu kommen, ihren gesellschaftlichen Charakter neu bestimmen und zeigen, daß ihr Angebot einen signifikanten Gemeinwohlcharakter trägt und nicht nur einen individuellen Erlebniswert steigert.

- Ich möchte der Politik, der Verwaltung, aber auch der Raum-, Siedlungs- und Landschaftsplanung sowie der Wirtschaft Erwachsenenbildung als einen Partner anbieten und vorstellen, wenn es darum geht, die Zukunft für den ländlichen Raum zu denken, Entwicklungen zu begleiten und Innovationen umzusetzen.

- Ich möchte außerdem aber auch selbstkritisch nach dem oftmals selbstverschuldeten Fremdbild einer trägen, unbeweglichen und wenig innovativen Weiterbildungsschule im ländlichen Raum fragen.

- Andererseits geht es damit auch um die Stärken und die Professionalität ländlicher Erwachsenenbildung, die sie zu einem Entwicklungsfaktor und Entwicklungspartner werden läßt.

- Und ich möchte vor allem für eine neue Vernetzung werben, gleichsam für ein 'Bündnis für die Region' zwischen Politik, Verwaltung, Planung und Erwachsenenbildung.

Ziel sollte es werden - und hier werde ich deutlich normativ und stelle einen Anspruch an die Erwachsenenbildung - Erwachsenenbildung im ländlichen Raum als einen innovativen Standort- und Entwicklungsfaktor im wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Bereich auf lokaler und regionaler Ebene neu zu definieren und zu diskutieren.

Mit dieser Forderung und Zielrichtung bewege ich mich jedoch keineswegs im akademischen Elfenbeinturm oder am 'grünen Tisch' der Theorie. Meine These von der notwendigen Öffnung der Erwachsenenbildung im ländlichen Raum hin zu einem Entwicklungs- und Standortfaktor für die Provinz korrespondiert mit der bereits seit vielen Jahren vorliegenden Forderung nach einer innovativen Regionalentwicklung und Raumordnungspolitik, die die Bürger/-innen in den Mittelpunkt von Planungsinstrumenten und -zielen stellt. Wenn beispielsweise in den von der Europäischen ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung aufgestellten Grundsätzen zur europäischen Zusammenarbeit eine integrierte Entwicklung ländlicher Räume gefordert wird, daß der Mensch bei einer erfolgreichen Entwicklung in den Mittelpunkt gestellt werden muß und der "Schlüssel für jede positive Entwicklung" (Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung 1996) im Menschen liegt und deshalb Regionalentwicklung verstärkt den Willen zur Selbsthilfe fördern, Planung im Dialog von Betroffenen und Experten - von unten nach oben - erstellt werden muß und durch Kommunikation und Bürgerbeteiligung eine Leitbild- und Wertediskussion ausgelöst werden soll (ebd. 1996), dann sind dies gleichsam programmatische Strategien zur Vitalisierung der Provinz, die wir seit Jahren als Erfahrungswerte vorfinden. Bezogen auf die konkrete Dorfentwicklung schreibt in diesem Sinne ein sächsischer Bürgermeister:

"Dorferneuerung muß in den Köpfen der Bürger beginnen! (...) Dorferneuerung kann nicht einfach angeordnet werden, sie braucht die Aktion und lebt vom Engagement der Dorfbewohner" (in: Sächsisches Staatsministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten 1996, S. 42). Bürgerbeteiligung wird in diesem Kontext als ein Instrument kommunaler Demokratie verstanden, das "mehr Partizipation für die Dorfbewohner" (Rüdiger Voigt 1986, S. 12) ermöglicht und eine "Dezentralisierung der lokalpolitischen Willensbildung" (ebd., S. 13) bedeutet.

An dieser Schnittstelle zwischen politischer Willensbildung, der strategischen Entwicklungsphilosophie für ländliche Räume und den konkreten Planungsinstrumenten kann und soll - so die These - Erwachsenenbildung zu einem Entwicklungsfaktor werden.

Ländliche Erwachsenenbildung befindet sich in einer Phase des Wandels und der Selbstreflexion mit folgenden Tendenzen, die man seit einigen Jahren beobachten kann:

- Neben ihrer klassischen Bedeutung als individuelle Lebenshilfe in den unterschiedlichen gesellschaftlichen und biographischen Feldern und Zusammenhängen schreibt sie sich derzeit selbst eine neue politische, ökonomische und kulturelle Funktion zu, die man allgemein auch mit Gemeinwesenorientierung definieren kann.

- Ländliche Erwachsenenbildung wird so gesehen auch als eine regional orientierte Arbeit verstanden, bei der das Dorf oder die Region zur zentralen Bezugsgröße wird - und nicht ein flächendeckendes Einheitsangebot oder städtische Ansprüche und Normen. Es geht zunehmend mehr um die Profilierung zu einer regionalen Identität.

- Mehr oder weniger bewußt fand bei dieser neuen Leitbilddiskussion die Idee und Strategie der Eigenständigen Regionalentwicklung Eingang in die Diskussion, die die Vorstellung von der Förderung der sogenannten 'endogenen Potentiale' für die Region zu einem zentralen Faktor gesellschaftlicher Entwicklungen macht.

An dieser Stelle sehe ich auch das zentrale Scharnier zwischen Erwachsenenbildung und Verwaltung/Politik und Planung, wo sich unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse bündeln und treffen. Nämlich: Die Förderung und Aktivierung von Menschen bei der gemeinsamen Bewältigung regionaler Entwicklungen. Es geht darum, regionale humane, kulturelle, ökonomische und politische Ressourcen für die Entwicklung nutzbar zu machen. Hier liefert die Erwachsenenbildung von ihrem Selbstverständnis her das inhaltliche Know-how und die personellen Ressourcen.

So gesehen übernimmt die Erwachsenenbildung hier die Aufgabe eines Moderators für die Vermittlung zwischen unterschiedlichen und individuellen Erwartungen, Hoffnungen und allgemeinen Trends bzw. sogenannten politischen Sachzwängen.

- In diesem Zusammenhang steht eine vierte Beobachtung, die die methodisch-didaktische Ebene ländlicher Erwachsenenbildung betrifft. Ich denke, daß wir hier zunehmend wieder eine Öffnung für ein ''Lernen vor Ort'' (Klaus I. Rogge 1991) bzw. für die alte Idee der Gemeinwesenarbeit (Ulrich Klemm 1986) oder, wie der Berliner Erwachsenenpädagoge Lutz von Werder es Ende der 70er Jahren formulierte, für eine "alltägliche Erwachsenenbildung" (1980), finden.

- Diese Trends sind - und dies können wir in den letzten Jahren an verschiedenen Stellen beobachten - die Reaktion von Praktikern der Erwachsenenbildung auf Defizite und Krisenerscheinungen im Kontext ländlicher Erwachsenenbildung.

Diese Defizitbeschreibung geht vor allem auf eine Krise der Einrichtungen und Träger dieser Bildungsarbeit zurück, die der Kollege Anton Rohrmoser aus Österreich vor kurzem in sechs Punkten zusammenfaßte:

- Orientierungskrise, Mangel an zukunftsorientierten Konzepten;

- Kein befriedigendes Strukturmodell (zentralistisch, abhängig von Interessengruppen);

- Keine zufriedenstellenden Ausbildungsmodelle für regionale Mitarbeiter/-innen;

- Mangel an Professionalisierung;

- Zu wenig politische Bildung.

- Bildungs- und Kulturarbeit findet zunehmend mehr außerhalb traditioneller Organisationen statt. (Anton Rohrmoser, 1994, S. 24)

Erstmals für den deutschen Sprachraum wurden diese Defizitphänomene bereits Ende der 80er Jahre angesprochen und finden seitdem zunehmend mehr Eingang in die Diskussion und Praxis. Es war damals die Autonome Provinz Bozen unter der inhaltlichen Federführung von Isidor Trompedeller, die erstmals seit Jahren wieder zu einer internationalen Tagung über ländliche Erwachsenenbildung einlud und 1989 in Goldrain (Südtirol) eine Phase des Wandels und der Selbstreflexion einläutete. Als Ergebnis dieser Tagung wurde perspektivisch ein neues Leitbild eingeklagt, das sich folgender Selbstkritik zu stellen hat:

- Erwachsenenbildung im ländlichen Raum präsentiert sich der Politik als "zu schwammig und zu vage, den engagierten Bürgern zu unverbindlich und den Aufsteigern zu wenig erfolgversprechend" (Autonome Provinz Bozen (Hrsg.) 1990, S. 45).

- Die Krise der ländlichen Erwachsenenbildung ist hausgemacht und liegt in weiten Teilen in ihrer Profillosigkeit: "Zur Zeit sehe ich in der Erwachsenenbildung eine Schar von unauffälligen Veranstaltern, die der Anpassung zum Rollenverhalten der Erwachsenen dienen und höchstens im persönlichen Bereich zu kritischer Orientierung animieren.(...) Wo es um Aktionen geht, wird sie von Bürgerinitiativen überholt, wo es um Freizeit geht, sind die Vereine überlegen" (ebd., S. 46).

- Ein unzeitgemäßes Selbstverständnis äußert sich politisch vor allem darin, daß eine starke Lobby für die ländliche Erwachsenenbildung weitgehend fehlt und vor allem auf kommunaler Ebene nach wie vor viel Überzeugungsarbeit für die Bedeutung allgemeiner und institutionell gebundener Erwachsenenbildung geleistet werden muß.

- Ein zentrales und bis heute gültiges Fazit dieser Diskussion ländlicher Erwachsenenbildung auf dem Lande ist, daß vor allem der Aspekt der politischen Bildung bzw. der Repolitisierung in den Mittelpunkt innovativer und perspektivischer Arbeit gestellt werden muß: "Nirgends sonst kann der Bürger am politischen Geschehen und am Gemeinwesen so beteiligt werden wie im Dorf. Die Überschaubarkeit des sozialen Lebens, der unmittelbare Kontakt zwischen sozialen Gruppen und unterschiedlichen Bevölkerungsschichten kann auf Dorfebene am besten erlebt und im Sinne von solidarischem Verhalten genutzt werden" (ebd., S. 55).

Diese Goldrainer Thesen von 1989, die hier lediglich komprimiert und zusammengefaßt wiedergegeben werden konnten, wurden in den folgenden Jahren an verschiedenen Stellen und in unterschiedlichen Arbeitszusammenhängen immer wieder in ihrer Zielrichtung und Grundaussage bestätigt und markieren heute eine gleichsam realistische und gesellschaftliche Wende im Ensemble ländlicher Erwachsenenbildung.

Wenn ich hier selbstkritisch den Blick auf die ländliche Erwachsenenbildung der letzten Jahre geworfen habe, dann geschieht dies vor dem Hintergrund, deutlich zu machen, daß sich derzeit eine Neuorientierung vollzieht bzw. bereits vollzogen hat, die den gesellschaftlichen Kontext des ländlichen Raumes als Bildungsherausforderung begreift und gleichsam zum Ausgangspunkt für methodisch-didaktische, inhaltliche und bildungspolitische Ziele macht.

Und hier sind wir nun genau an der Stelle, wo Erwachsenenbildung für die Entwicklung des ländlichen Raumes interessant wird bzw. werden muß.

Wir finden in der Erwachsenenbildung ein Instrument vor, das das Potential besitzt, als ein Faktor für den Standort und die Entwicklung des ländlichen Raumes tätig zu werden. Voraussetzung dafür sind, daß

- sie bei politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern als Partner akzeptiert und geschätzt werde

- und zweitens, daß die Träger und Einrichtungen der ländlichen Erwachsenenbildung sich in diesem Sinne auch definieren und profilieren.

Denn: Auch die ländliche Erwachsenenbildung - und nicht nur die städtische - verfügt derzeit über ein professionelles Potential an Mitarbeitern, das über entsprechende methodisch-didaktische und inhaltliche Instrumente verfügt, jedoch über keine finanziellen und politisch-rechtlichen, um Regionalentwicklungen zu initiieren und zu begleiten.

Wie könnte sich diese Idee der Erwachsenenbildung als Entwicklungsfaktor nun konkretisieren bzw. wo liegt der Ansatzpunkt? Was heißt es und was könnte es heißen, wenn Bildungsarbeit als regionale Entwicklungsarbeit verstanden wird?

Hierzu folgende zwei Thesen:

- Strategisch geht es um das Arrangement von Bürgerbeteiligung, es geht um Instrumente zur Moderation und Animation. Die Idee der innovativen Regionalentwicklung, nämlich 'endogene Potentiale' zu aktivieren, wird zu einer zentralen Aufgabe, wenn es darum gehen soll, zukünftige politische, soziale, technische und wirtschaftliche Entwicklungen zu beeinflussen .

Hier liegt eine neue Herausforderung für die ländliche Erwachsenenbildung. Sie erhält eine Schnittstellenfunktion bei der Bündelung und Aktivierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Interessen für die Region bzw. das Dorf.

Das heißt aber auch, daß sich Erwachsenenbildung einmischen muß in den öffentlichen Meinungsbildungsprozeß. Erwachsenenbildung muß hier einen Schonraum verlassen, in den sie sich immer wieder und auch gerne begeben hat. Erwachsenenbildung hat eine aktive gesellschaftliche Funktion und Verpflichtung und ist dem Gemeinwesen bzw. der Region verpflichtet.

Pädagogisch gesehen bedeutet regionale Erwachsenenbildung,

- daß der gesellschaftliche Wandel in seiner Komplexität zum Ausgangspunkt von Bildungs- und Kulturarbeit wird;

- daß sowohl der Einzelne als auch das Gemeinwesen als die wichtigsten 'endogenen Potentiale' zur Förderung von Entwicklung gesehen werden;

- daß das Dorf, die Kleinstadt oder die Region zur methodisch-didaktischen, bildungspolitischen und inhaltlichen Handlungsebene und zum Bezugspunkt wird;

- daß Lernen als ein antizipatorischer und partizipatorischer Prozeß im Sinne des Lernberichts des Club of Rome (Aurelio Peccei (Hrsg.) 1979) verstanden wird, daß Lernen mit einem zeitlichen und räumlichen Zugehörigkeitsgefühl mit der Region verbunden werden muß. Lernen und Bildung werden zu einem Prozeß der Identifikation, wenn man so will, zu einem Prozeß der Heimat-Findung;

- und schließlich geht es um einen Lebensweltansatz, der eine adressatenorientierte Partizipation, eine institutionelle Kooperation und eine geographische Regionalisierung methodisch und inhaltlich verbinden kann.

Wie könnte nun eine solche Bildungsarbeit im Kontext einer Einrichtung konkret aussehen? Ich möchte dazu kurz über drei Projekte aus unserer Praxis an der Ulmer Volkshochschule im Alb-Donau-Kreis berichten, in denen versucht wurde, mit dem Ansatz der Gemeinwesenarbeit handlungsorientiert zu arbeiten.

 

Naturgarten-Kampagne Langenau

Am Beispiel einer gemeindeökologischen Kampagne aus dem Jahr 1990 in einer Kleinstadt mit 12.000 Einwohnern wurde in Kooperation mit dem Landratsamt, der Stadtverwaltung, der örtlichen BUND-Ortsgruppe und der Sparkasse das Ziel verfolgt, in einer gleichsam konzertierten Aktion für ökologische Belange in der Gemeinde zu sensibilisieren. Es ging uns dabei methodisch und inhaltlich um die Absicht, von der ökologischen Information zum ökologischen Handeln kommen. Denn: Das Problem im Bereich des Umweltschutzes ist heute nicht mehr das Wissen um Zusammenhänge, sondern die Frage, wie dieses Wissen in individuelles Handeln und kollektive Politik umgesetzt werden kann. So spielten denn auch klassische Vorträge und Seminare nur eine beiläufige Rolle. Im Mittelpunkt standen vielmehr aktions- und gemeinwesenorientierte Veranstaltungen und Anregungen, z. B. ein

- Wettbewerb 'Naturnaher Gartenbau',

- eine telefonische Hotline-Beratung für den ökologischen Gartenbau,

- eine Natur-Rallye für Kinder ,

- ein Kindergartenbegleitprogramm über den gesamten Zeitraum,

- eine Fotoausstellung 'Grün in Langenau',

- Bodenprobenaktionstage,

- ein Handlexikon als Fortsetzungsmappe für den ökologischen Gartenbau sowie

- ein städtisches Fassaden- und Hofbegrünungs- sowie ein Zisternenförderprogramm.

 

Ziele dieser animations- und handlungsorientierten Angebote waren:

- eine konzertierte Aktion von Verwaltung, Umweltschutz, Bildungsarbeit und Wirtschaft,

- ein längerer, aber absehbarer Aktionszeitraum (1 Jahr),

- ein handlungs- und animationsorientiertes Programm,

- Zielgruppenorientierung auf Gartenbesitzer.

Es ging bei dieser Kampagne u. a. um die Konzentration von finanziellen, inhaltlichen und personellen Ressourcen als eine andragogische und gemeinwesenorientierte Antwort auf die gesellschaftliche Schlüsselfrage des Umweltschutz auf lokaler Ebene. Als zentrales strategisches Instrument im Kontext einer gemeindeökologischen Zielsetzung stand dabei ein lokales Netzwerk unterschiedlicher Kompetenzen im Mittelpunkt.

 

Dorfentwicklung Illerkirchberg

Ein anders Projekt stammt aus den 80er Jahren und ist im Kontext eines Dorfentwicklungsprogramms anzusiedeln. Es ging dabei um die Idee, gemeinsam mit der Gemeindeverwaltung, mit Bürgern und Planern den Prozeß einer Dorfentwicklung über einen Zeitraum von etwa einem Jahr vorzubereiten und zu begleiten. Die Bildungs- und Kulturarbeit der Volkshochschule wurde hierbei als ein Instrument zur Bürgerbeteiligung verstanden. Das Vorgehen sah folgendermaßen aus:

 

Ortsanalyse

 

Orientierungsgespräche

 

Bürgermeister Planer Chronist Vereine/Initiativen/Schulen

 

gemeinsames Planungsgespräch

 

Detailplanung durch die VHS

Fragebogenaktion

 

1. öffentlicher Veranstaltungsblock

Fragebogenaktion

Arbeitsgruppen

 

2. öffentlicher Veranstaltungsblock

 

Die Erwachsenenbildung bzw. Volkshochschularbeit muß folgende Forderungen erfüllen:

- Sie muß inhaltlich integrativ sein, d.h. nicht selektiv, und die Lebensbereiche Arbeit, Freizeit, Wohnen und Politik verbinden.

- Sie muß demographisch-intergenerativ und sozial-integrativ sein und alle im Dorf lebenden Alters- und Sozialgruppen erreichen können.

- Sie muß eine aktivierende Zielsetzung haben, d.h. Reflexions- und Handlungskompetenzen von Teilnehmer/-innen freisetzen können.

- Sie muß sich als Kooperationsagentur und damit als Dienstleistungseinrichtung für dörfliche Aktionen verstehen.

 

An konkreten Aufgaben für die Volkshochschule entstanden daraus:

- Initiierung von Teilprojekten (z. B. Dorfabenden),

- Finden von Kooperationspartnern (z. B. Vereine),

- Entwicklung von Leitideen und Teilzielen (z. B. Dorfplatzgestaltung),

- Definition und Festlegung von Aufgaben,

- Abstecken des Zeitrahmens und seiner Teilschritte,

- Kostenplanung für die Phase der Bürgerbeteiligung,

- Überprüfung und Evaluation des Konzepts und der Teilschritte.

 

Verkehrsprojekt Langenau

Ein drittes Beispiel stammt vom Sommer 1996 und fand im Zusammenhang mit dem bundesweiten Aktionstag 'Mobil ohne Auto' (16. Juni 1996) statt.

Absicht war es bei dieser Aktion, die sich zeitlich auf ein Wochenende konzentrierte, im Verbund und im Schulterschluß von Kommune, Volkshochschule und Umweltschutz (BUND) für das Thema 'Mobil ohne Auto' zu werben und zu sensibilisieren vor dem Hintergrund der örtlichen Situation. Im Mittelpunkt stand dabei die Sperrung eines Teilstücks der Hauptverkehrsstraße, die durch Langenau führt, und deren Nutzung für einen Aktionsvormittag, bei dem Programme für Kinder und Eltern im Mittelpunkt standen.

Ein weiterer Schwerpunkt dieses Aktionswochenendes war die versuchsweise Einrichtung einer Stadtbuslinie, die vom BUND für einen Vormittag finanziert und organisiert wurde.

Ähnlich wie bei den anderen kurz beschriebenen Projekten steht auch bei diesen Aktionen ganz entscheidend die Vorlaufphase im Mittelpunkt, d.h. das Arrangement von Bildungsträger, Kommune, Umweltschutzverband, Vereinen und Einrichtungen der Wirtschaft. Die Volkshochschule hat hierbei die Funktion der Animation und Moderation von 'runden Tischen' für die Bündelung von Interessen bezüglich einer solchen Aktion. Das heißt, die Bildungseinrichtungen bekommen dabei bereits im Vorfeld einer Bürgerbeteiligung die Funktion einer Clearingstelle für Bedürfnisse und Sachzwänge der beteiligten Gruppierungen und Institutionen.

Der Vorlauf für diese Verkehrsaktion betrug ca. ein halbes Jahr und war mit verschiedenen Gesprächen mit dem Bürgermeister, mit Verwaltungsmitarbeitern, dem Gemeinderat, mit dem Einzelhandel und den Vereinen ausgefüllt.

Diese drei Beispiel sollen vor allem den Moderationscharakter von Bildungsarbeit andeuten und die Rolle aufzeigen, die Bildungseinrichtungen im Zusammenhang mit Entwicklungen in der Gemeinde übernehmen können und müssen, wenn sie sich als ein gemeinwesenorientierter Entwicklungs und Standortfaktor definieren wollen.

Halten wir fest: Erwachsenenbildung muß sich heute angesichts des raschen und scheinbar nur schwer kontrollierbaren Strukturwandels im ländlichen Raum nicht nur als ein individueller Entwicklungsfaktor für den einzelnen Mensch verstehen, sondern auch als ein gesellschaftlicher. Dieser Anspruch wurde in der Vergangenheit auch immer wieder formuliert, gleichsam als Dienstleistungsanbieter für die Gemeinde und Region, umgesetzt wurde er allerdings nur bedingt.

 

Zusammenfassend heißt dies:

1. Erwachsenenbildung als regionaler Entwicklungsfaktor heißt Repolitisierung und bedeutet eine gemeinwesen- und regionalorientierte Bildungsarbeit mit den strategischen Zielen:

- Zukunft denken und gestalten,

- regionale Identität stärken,

- Animation zu Initiativen und Kreativität,

- Vernetzung von Themen und Einrichtungen,

- Bündelung von Ressourcen und Kompetenzen,

- ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit,

- Bildung und Kultur als Standortfaktor.

 

2. Erwachsenenbildung als regionaler Entwicklungsfaktor hat als didaktisches Ziel Lernen vor Ort; verstanden als antizipatorisches und partizipatorisches Lernen mit Hilfe einer handlungs- und zielgruppenorientierten Didaktik.

 

3. Für die Einrichtungen der Erwachsenenbildung bedeutet dies:

- sie müssen sich politisch und strategisch im gesellschaftlichen Kontext der Region und des Dorfes neu verorten bzw. legitimieren;

- sie müssen eine Strategie der Vernetzung und Kooperation sowohl mit anderen Erwachsenenbildungseinrichtungen eingehen als auch mit Kommunen, Vereinen, Einrichtungen der Wirtschaft und des Handels etc.;

- sie benötigen eine adäquate Infrastruktur, d.h. die Frage nach einer Personal- und Organisationsentwicklung wird relevant;

- sie benötigen infrastrukturelle, personelle und finanzielle Ressourcen und Kompetenzen für Projekt- und Gemeinwesenarbeit.

 

Folgende Problemfelder sind möglich und realistisch:

a) bei den Einrichtungen: Die Bereitschaft zur Kooperation wird durch einen institutionellen Egoismus der Einrichtungen behindert;

b) bei den Partnern: Die Akzeptanz von ländlicher Erwachsenenbildung als Partner seitens der Kommune, der Politik und der Wirtschaft muß entwickelt und ausgebaut werden;

c) bei der Politik: Die öffentliche Förderung einer Erwachsenenbildung, die sich als gesellschaftlicher Entwicklungsfaktor versteht, ist ungenügend: Das Instrument der leistungsorientierten Förderung von Erwachsenenbildung behindert die professionelle Übernahme öffentlicher Verantwortung im Kontext der Dorf- und Regionalentwicklung.

Wir benötigen sowohl das Know-how der Disziplin Erwachsenenbildung als auch das ihrer Einrichtungen als Standortfaktor im ländlichen Raum. Erwachsenenbildung muß hier im Sinne eines kulturellen Lernmoderators Querschnittsaufgaben der Vermittlung, der Animation und Bündelung von Interessen und Anforderungen bezüglich der Entwicklung ländlicher Räume übernehmen. Hierin liegt sowohl eine Kompetenz als auch eine Aufgabe für die Erwachsenenbildung im ländlichen Raum.

 

Autonome Provinz Bozen (Hrsg.): Internationaler Kongreß 'Erwachsenenbildung auf dem Lande'. Schloß Goldrain (Südtirol), 25.-28.10. 1989. Dokumentation und Bericht. (Bozen o. J. (1990)).

Europäische ARGE Landentwicklung und Dorferneuerung (Hrsg.): Leitbild für Landentwicklung und Dorferneuerung in Europa (Wien 1996)

Ulrich Klemm: Plädoyer für eine gemeinwesenorientierte Provinzarbeit - oder: Annäherung an eine neue Land-Andragogik, in: Pädagogische Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung (Hrsg.): Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung, Ausgabe M. Nr. 19, Februar 1986, S. 16-25.

Aurelio Peccei (Hrsg.): Zukunftschance Lernen. Club of Rome - Bericht für die achtziger Jahre (Wien 1979).

Klaus I. Rogge: Perspektiven für das Gemeinwesen: Lernen vor Ort, in: E. Nuissl u.a. (Hrsg.): Literatur- und Forschungsreport Nr. 27, Juni 1991 (Frankfurt/M. 1991) S. 27-37.

Anton Rohrmoser: Kultur in der eigenständigen Regionalentwicklung, in: vhs Landkreis Kassel (Hrsg.): Dorf: Sozial- und kulturpolitisches Handlungsfeld. Dokumentation einer Fachtagung am 8. und 9. Mai 1992 in Nieste. (Kassel/Wolfhagen 1994) S. 22-42.

Sächsisches Staatsministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten (Hrsg.): Dorfentwicklung in Sachsen. 5 Jahre Modelldörfer (Dresden 1996).

Rüdiger Voigt: Kommunalpolitik im ländlichen Raum. Ein Plädoyer für die Wiederbelebung der lokalen Politik. in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung 'Das Parlament' B 46-47/86 vom 15. November 1986, S. 3-13.

Lutz von Werder: Alltägliche Erwachsenenbildung. Aspekte einer bürgernahen Pädagogik (Weinheim und Basel 1980).

 

Anschrift des Autors:

Dr. Ulrich Klemm

Ulmer Volkshochschule

Kornhausplatz 5

89073 Ulm

 

Volksmusikhitparade

Himmelblaugrüne Bächlein und Wiesengründe,

überall ortskundig ist ein Sonnenstrahl,

es besingen stramm die Jäger der Schürzen

den Glücksschoß der Mütter,

lederhosige Freuden und heimatgetreues Zitherleid,

mit dialektenen Brocken und einem Heileweltzipfel,

einen Strauß Blümleinstrost reicht der Jodelkoller

an den tannenrauschigen Angsttrieb,

der Lieb steckt eine Hochzeitskutschenspeiche

im Herzenskämmerlein,

Zitzen der Heimat sind es und was ihnen entfließt,

ein Schunkelmarschknäuel ist's

und ein Trompetengemuh,

ein Gemütlichkeitsdelirium,

ein Gartenzwergputsch.

 

Walle Sayer: Zeitverwehungen (1994)

 

Bauernstube

 

Ein auf alt gemachter Zeitgeist, Vergangenheitsleihgaben, Rustikales im Rokokostil. Man riecht die Farben der Lackkonservierung. Was hier raumteilend rumsteht, hat noch keinen Holzwurm beherbergt, dem ist kein einziger Auswanderungsgrund anzusehen. Die Bedienungen sind kostümiert mit einer Trachtenandeutung. Hier ist noch nie aus dem Hinterbeutel oder mit dem Milchgeld bezahlt worden. Die Klimaanlage hat einen Landluftfilter. Undenkbar, daß jemand aus Versehen nach der Stallarbeit, mit einem Misthalm an den Schuhen, hereinkäme zu einem Dämmerschoppen. Sogar wo ein Herrgottswinkel hingehört, haben die Innenarchitekten gewußt. So deplaziert wirkt er, als würden darunter geschmackvoll zubereitete Engelsinnereien serviert. Unübersehbar, wie ein Kummet dahängt als Wanddekoration. Würde jemand anfangen zu erzählen, der es einer Kuh noch wirklich angelegt hat, müßten seine Erinnerungsmuren diesen Raum verwüsten.

Walle Sayer: Kohlrabenweißes (1995)