Albert Herrenknecht

Eigenständige Regionalentwicklung - Eine Perspektive zur Entwicklung des Ländlichen Raumes in Baden-Württemberg?


Albert Herrenknecht, Jahrgang 1952. Wohnt in Boxberg-Wölchingen. Mitarbeiter im 'Pro Provincia Institut' (Schwerpunkt: Regionale Forschung im Ländlichen Raum). Vorsitzender des Vereins 'Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg'. Redakteur der vom Verein herausgegebenen 'Zeitschrift für Eigenständige Regionalentwicklung PRO REGIO '.

'Eigenständige Regionalentwicklung - Eine Perspektive zur Entwicklung des Ländlichen Raumes in Baden-Württemberg?' war auch der Titel des im Juni 1988 verfaßten Programmpapiers zur Gründung des Vereins 'Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg'. Diese programmatische Frage möchte ich heute, 1996, nach 8 Jahren Praxis nochmals aufgreifen und in einer Art Zwischenbilanz bewerten.

Bereits in seinem Gründungsjahr 1988 erhielt der junge Verein von höchster politischer Ebene mutmachenden Zuspruch: "Ich glaube, daß es eine gute Idee ist, eine Organisation zu schaffen, die sich die Regionalentwicklung der ländlichen Regionen aus dem dort vorhandenen Potential heraus zum Ziel hat. Ich sehe darin eine wichtige und sinnvolle Ergänzung zur Strukturpolitik der öffentlichen Hand, wie sie z.B. im Strukturprogramm für den ländlichen Raum Ausdruck findet. Für Ihre Arbeit wünsche ich Ihnen Erfolg und vor allem den dafür notwendigen langen Atem."

Diese beinahe prophetischen Sätze schrieb kein geringerer als Erwin Teufel - damals noch Fraktionsvorsitzender der CDU im Landtag von Baden-Württemberg - am 7.11.1988 an den Verein Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg. Und er hatte Recht mit seiner Aufforderung, einen langen Atem zu beweisen, denn es erwies sich als äußerst schwierig, die Landespolitik und insbesondere das Ministerium Ländlicher Raum von der Idee zu mehr 'eigenständiger Regionalentwicklung' zu überzeugen.

Der Trägerverein dieser Idee existiert nach 8 Jahren immer noch als wichtige Denkfabrik für die Idee der 'Eigenständigen Regionalentwicklung' und wirbt - inzwischen bundesweit bekannt und als kompetenter Gesprächspartner geschätzt - weiterhin für die Umsetzung dieser Idee in Baden-Württemberg, und das völlig autonom ohne öffentliche Mittelzuschüsse.

Verwunderlich ist allerdings die weitgehende Ignoranz mit der die Arbeit des Vereins innerhalb der Fachöffentlichkeit in Baden-Württemberg gewürdigt wird. Während die Veröffentlichungen des Vereins bundesweit angefordert werden und in Bayern und Hessen beinahe jedes 'Amt' oder jede 'Direktion für Regionalentwicklung' die PRO REGIO  abonniert hat, gibt es in Baden-Württemberg kein einziges Landwirtschaftsamt oder eine andere ländliche Dienststelle, die diese Publikation bezieht. Innovative ländliche Politik scheint in Baden-Württemberg kein Diskussionsthema zu sein.

Im Gegensatz zur engagierten Arbeit innerhalb des 'Vereins Eigenständige Regionalentwicklung' scheint den zuständigen Landespolitikern heute allerdings zum Thema 'Ländlicher Raum' allmählich auch noch die Puste auszugehen, nachdem ihnen seit Anfang der 90er Jahre bereits schon die Ideen ausgegangen sind.

War in den 80er Jahren Baden-Württemberg noch bundesweit programmatisch und praktisch führend in der Debatte um die Entwicklung des Ländlichen Raumes, so hat Baden-Württemberg heute seine Spitzenstellung längst verloren und ist inzwischen z.B. im Rahmen der Dorfentwicklung drittklassig geworden.

- Während in Hessen in der Dorfentwicklung mit einer 'kulturellen Vorlaufphase' zur Bürgeraktivierung experimentiert wird, in Bayern 'Schulen der Dorferneuerung' zur Schulung der Bürgerbeteiligung existieren und selbst das kleine Bundesland Brandenburg eine 'Landwerkstatt - Schule für Dorf und Flur' - unterhält, betreibt Baden-Württemberg immer noch die alte klassische, architektonische Dorferneuerung ohne Einbindung der neuen Ansätze von kultureller Bürgeraktivierung.

- Während in anderen Bundesländern erkannt wurde, daß Dorfentwicklung mehr ist als bauliche Dorferneuerung und überall Moderationshilfen und Beratungsdienstleistungen als fester Bestandteil ländlicher Entwicklungsstrategien anerkannt sind, hat sich in Baden-Württemberg diese Erkenntnis noch nicht durchgesetzt. Dies ist umso bedauerlicher, als der selbstgewählte Anspruch Baden-Württembergs, ein 'Ministerium Ländlicher Raum' und nicht nur ein 'Landwirtschaftsministerium' zu betreiben, aufgrund dieser Innovationslücken in den Förderprogrammen und der Umsetzungspraxis ständig unterlaufen wird. 'Eigenständige Regionalentwicklung' ist in Baden-Württemberg im Unterschied zu vielen anderen Bundesländern kein Programm der Landespolitik, sondern allein des 'Vereins Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg'.

- Galt innerhalb des Landtagswahlkampfes 1988 und 1992 das Thema 'Ländlicher Raum' noch als ein Schwerpunktthema, so war es im Landtagswahlkampf 1996 nicht nur ein Randthema, sondern ein aus der öffentlichen Debatte beinahe völlig verschwundenes Thema, weil die Politik es versäumt hat, diese Problemstellung durch eine offensive, innovative und intelligente Regionalpolitik wieder positiv in die Schlagzeilen und das öffentliche Bewußtsein zu bringen.

- Wurde Ende der 80er Jahre noch zu großen Kongressen, wie z.B. der 'Fachtagung Ländlicher Raum' vom 6.-7.9.89 in Bad Rappenau geladen und auch in den Regionen auf dem 'Kulturforum Niederstetten' vom 14.-16.9.1989 oder dem 'Forum Ländlicher Raum' am 12.11.91 in Horb-Dettingen der 'kulturelle Aufbruch' geprobt, so ist von dieser Aufbruchstimmung heute nichts mehr zu spüren.

- Die mit viel Pomp im April 1990 verabschiedete 'Kulturkonzeption Ländlicher Raum', die den selbstgestellten Anspruch hatte, die 'Kulturoffensive im Ländlichen Raum' einzuleiten, wurde 1995 sang- und klanglos stillgelegt und damit die Chance zur kulturellen Vitalisierung der Regionen verspielt. Sie hatte aber, wie eine Landtagsanfrage der SPD-Fraktion vom 26.2.1992 zeigt, diesen Anspruch sowieso nicht erfüllt und war zum Großteil zu einem Bauprogramm für Kulturtreffs im ländlichen Raum mutiert.

Nicht genug damit. Neben diesem landespolitischen 'Abschied' aus einer offensiven Politik für den ländlichen Raum in Raten, gab es auch noch regelrechte 'Abstürze' in der ländlichen Raumpolitik: 1991 fühlte sich das Ministerium Ländlicher Raum (MLR) aufgrund der öffentlichen Debatte um 'Neue Wege in der Regionalentwicklung' berufen, selbst 'regionale Entwicklungsgruppen' in vier Kleinregionen ins Leben zu rufen.

Ohne Konzept, ohne ausgebildete Moderatoren, ohne Erfahrung in aktivierender Gruppenarbeit suchte das MLR vier Modellorte (in den vier Regierungsbezirken: Mudau, Lauda-Königshofen, Bad Buchau und eine Gemeinde aus Südbaden) aus und verkündete vor Ort den Bürgern: "Bildet Arbeitsgruppen! Entwickelt Ideen! Macht Vorschläge! Wir prüfen alles und fördern es dann."

Voller Elan gingen die so 'Berufenen' ans Werk und bildeten rege Bürgerarbeitsgruppen zu verschiedenen lokalen Arbeitsfeldern. Trotz anfänglicher Politikskepsis fühlten sich die Bürger zum erstenmal ernstgenommen und kamen vertrauensvoll mit vielen guten Vorschlägen heraus. Dann kam aber die Ernüchterung. Die gemachten Vorschläge wurden zerpflückt: Sie seien zu wenig originell und nicht innovativ genug; anderswo gebe es z.B. schon die bürgergewollte 'Kulturscheune'; das sei nicht förderfähig. Die Bürger fühlten sich hervorgelockt und bloßgestellt; ihr Engagement wurde ins Leere laufen gelassen; die Vertreter des MLR und die Politiker stellten sich in einer Endrunde als reine Blockierer und Abwiegler dar. Die Bürger kamen sich vorgeführt und als 'Ideenspender' mißbraucht vor. Das MLR hatte im 'Feld' geübt und einen massiven 'Flurschaden' angerichtet. Das ganze Programm endete in einem regionalpolitischen Desaster. Das MLR als 'administrativer Regionalentwickler' war vor Ort gescheitert und hatte die Bürger gegen sich aufgebracht. War das eventuell sogar beabsichtigt? Sollte mit diesem dilettantischen Vorgehen die ganze 'Idee der Regionalentwicklung' vielleicht bewußt diskreditiert werden? Um das ganze gescheiterte Projekt im nachhinein zu kaschieren, wurde es im Auftrag des MLR von einer renommierten baden-württembergischen Universität, der Universität Hohenheim, in ein 'Modellprojekt-Gutachten' verpackt und 'abgelegt', anstatt es fachöffentlich auszuwerten, um damit zukünftige Fehler zu vermeiden.

Auch das mit vielen Vorschußlorbeeren bedachte, 1994 verabschiedete 'Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum' (ELR) weist weiterhin gegenüber dem Ansatz der 'Eigenständigen Regionalentwicklung' deutliche strukturelle Defizite aus: Die Fusion der Förderprogramme 'Strukturprogramm Ländlicher Raum' und des 'Dorfentwicklungsprogrammes' hat in Richtung der Eigenständigen Regionalentwicklung nur wenige Verbesserungen gebracht.

Zwar wird über das neue ELR-Programm

- die 'Strukturverbesserung des Ortes in der Gesamtheit' (5.1 der Richtlinie) angestrebt,

- die 'Sicherung der Grundversorgung' (5.1.2) verstärkt,

- die 'Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen in kleinen und mittleren Unternehmen' durch die 'Reaktivierung von Gewerbebrachen und die Errichtung von Gewerbehöfen' (5.1.3) angestrebt, aber es fehlen die Kernpunkte einer 'eigenständigen Regionalentwicklung'.

 

Das 'Entwicklungsprogramm Ländlicher Raum' (ELR) ist kein qualitatives, ökologisches und zukunftsgerichtetes Programm. Dafür fehlen ihm inhaltliche Kriterien, wie sie z.B. im 'Programm zur Ländlichen Regionalentwicklung in Hessen' enthalten sind. Nach diesem Programm werden die geförderten Projekte z.B. danach untersucht

- welchen Beitrag sie zur Lösung von Problemen in der Lebens- und Versorgungsqualität leisten,

- welchen Beitrag sie zur neuen regionalen Wertschöpfung und Sicherung vorhandener regionaler Wertschöpfung beitragen,

- welchen Beitrag sie zur Förderung der regionalen Identität und kulturellen Vielfalt erzielen,

- ob sie regional sozial- und ökologieverträglich sind,

- ob sie einen Regionalcharakter oder eine regionale Bedeutung besitzen und

- ob sie mittelfristig ökonomisch tragfähig sind.

Es ist kein regionales Entwicklungsprogramm: Kleinräumige Regionalprojekte, interlokale Arbeitsteilung, regionale Kooperation sind nicht genuin vorgesehen. Eine Vision zur Stärkung der Region fehlt völlig.

- Instrumente der Bürgeraktivierung und Bürgerbeteiligung sind nicht angedacht. Die 'stillen Potentiale' der Bürger bleiben unberücksichtigt. Mittel zur Bürgeraktivierung, Moderierung der Planung und kulturellen Beratung sind nicht eingeplant.

- Eine Projektförderung von noch nicht-Unternehmern ist nicht beabsichtigt. Die Hilfe fängt bei bestehenden Betrieben, nicht bei Neu-Existenzgründern an.

- Eine Verzahnung von Kultur- und Bildungsarbeit mit der Dorf- und Regionalentwicklung wird nicht angestrebt. Das Programm setzt auf die alten Strategien der 'Infrastrukturvorsorge' und läßt die in der innovativen Regionalplanung längst zur Mindestausstattung gehörenden 'weichen Standortfaktoren' (Kultur, Lebensqualität, Landschaftsattraktivität, Regionalklima, die Dichte sozialer Infrastruktur, die Sozialfürsorge und Ökologie, etc.) unberücksichtigt.

Statt dessen hat das ELR den Ruf eines zusätzlichen 'Bürgermeistermittel-Ergänzungsprogramms', als Extratopf, mit dem noch lokale Spiel- und Gestaltungsräume ermöglicht werden sollen, während der offizielle kommunalpolitische Finanzrahmen allmählich im Gefrierschrank der Sparpolitik erstarrt ist.

Ob allerdings diese Politik, die offene, prozessbezogene und einbeziehende 'Bürgerbeteiligung' durch die reine 'Bürgermeisterbeteiligung' in allen Fragen der Dorf- und Regionalentwicklung zu ersetzen, der richtige Weg ist, in Krisenzeiten mehr Raum(selbst)-verantwortung der Bürger zu fördern, bleibt dahingestellt. Wir halten diesen Weg in Bezug auf die Aktivierung von Selbsthilfepotentialen im ländlichen Raum für eher kontraproduktiv und für einen klaren Rückschritt hinter die Anfänge der Bürgerbeteiligung in den 70er Jahren.

Will die Regionalentwicklung in Baden-Württemberg wirklich eine neue Chance haben - und sie muß angesichts der wenig rosigen Finanzlage eine Perspektive bekommen, da nur aus den Regionen heraus mit der überall propagierten 'dezentralen Ressourcenverantwortung' ernst gemacht werden kann - bedarf es eines deutlichen Zeichens von Seiten der Landespolitik:

- Wir brauchen in Baden-Württemberg eine neue regionalpolitische Initiative: Ein Programm für die 'Region in Aktion', ein Förderprogramm 'Regionalentwicklung 2000'.

- Wir brauchen einen 'runden Tisch' mit allen landesweiten Akteuren für eine neue Regionalpolitik in den ländlichen Regionen mit einer jährlich stattfindenden Standortkonferenz.

- Wir brauchen die Einbeziehung von wichtigen Trägern der 'Regionalentwicklungs-Idee' in Baden-Württemberg - hier seien vor allem der 'Verein Eigenständige Regionalentwicklung Baden-Württemberg' und die 'Landjugend Württemberg-Hohenzollern' und die Verbände ländlicher Erwachsenenbildung genannt, die über wichtige Erfahrungen in der Regionalentwicklung verfügen - in die weitere, noch zu intensivierende regionalpolitische Diskussion. Das endogene Potential für Regionalentwicklung in Baden-Württemberg wurde bisher nicht abgerufen - welch eine Vergeudung von Ressourcen!

- Wir brauchen eine fachoffene Diskussion über die Förderpraxis in den 5b-Regionen Baden-Württembergs, wie sie in anderen Förderregionen Brauch ist.

- Wir brauchen die Wiedereinrichtung von 'regionalen Foren' zur politischen Diskussion in den Regionen über die Zukunft der Regionen.

- Wir brauchen dringend die Förderung und Einbeziehung von bisher brachliegenden regionalpolitischen Ressourcen im Lande (Verbände, Beratungsbüros, Hochschulen) in ein neues Regionalentwicklungsprogramm.

- Wir brauchen den Umbau der Landwirtschaftsämter in 'Ämter für Regionalentwicklung', um sie auf die neue Aufgabe einer ganzheitlichen - nicht nur agrarischen - Landentwicklung vorzubereiten.

Ich wünsche uns eine lebhafte Diskussion über alle diese brennenden Fragen und konstruktive Vorschläge für eine neue, innovative und zukunftsweisende Regionalpolitik in Baden-Württemberg.

 

Anschrift des Verfassers:

Albrecht Herrenknecht

Pro Provincia Institut

Franken-Dom-Straße 74

97944 Boxberg-Wölchingen

  

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Walle Sayer: Glockenschläge (1990)