Baustein

"Zwischen Romantisierung und Rassismus"


Sinti und Roma
600 Jahre in Deutschland

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998



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Inhaltsverzeichnis 


 

Egon Schweiger
Zur Darstellung und Wahrnehmung der Geschichte und Gegenwart
der Sinti und Roma in den Schulbüchern


Ressentiments und gewalttätiger Haß gegenüber den Sinti und Roma sind der manifeste Ausdruck eines gesellschaftlichen Antiziganismus. Seine stereotypen Zigeunerbilder" haben eine jahrhundertealte Tradition und sind in den Alltagsorientierungen der Mehrheitsbevölkerung fest verankert und jederzeit abrufbar. Diese spezifische Wahrnehmungsstruktur, die im Kern eine eigene Dynamik und Entwicklung hat, wird seit Beginn der 90er Jahre wieder verstärkt in der Öffentlichkeit, der Presse und den Medien bis hinein in die Rechtsprechung1 neu belebt, reproduziert und um nuancierte Facetten erweitert.2 Angesichts der erschreckenden Wirksamkeit dieser Wahrnehmungsstruktur - 68% der Bevölkerung lehnen Sinti und Roma offen ab (Emnid 1994) - inklusive der gravierenden Auswirkungen für die Minderheit rücken auch und gerade Schule und Unterricht mit ihrem Bildungsauftrag in den Blickpunkt kritischer Betrachtung. Es gilt nicht nur aufzuzeigen, wie die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma als einer nationalen Minderheit mit einer eigenen kulturellen Identität und Sprache in den Schulbüchern dargestellt werden, sondern auch ob und wenn, auf welche Weise, der Antiziganismus mit seinen Wahrnehmungs- und sozialen Verhaltensmustern pädagogisch bearbeitet wird.

Wer indessen die inhaltlichen und didaktischen Vorgaben in den Schulbüchern Baden-Württembergs untersuchen will, hat sich zunächst zu vergegenwärtigen, daß die Thematik Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma sowie des Antiziganismus in den Bildungsplänen des Landes bisher nicht ausdrücklich aufgenommen wurde.3 Fernab von Oberflächendifferenzierungen stößt man bei der Suche nach tieferliegenden Gründen für diese Leerstellen in den Bildungsplänen auf ein komplexes Bedingungs- und Beziehungsgefüge, das auf den Zusammenhang von Völkermord an den Sinti und Roma und antiziganistischen Vorurteilen und Ressentiments verweist. Die Verleugnung des Völkermordes an den Sinti und Roma und der Antiziganismus berühren ein zweifaches gesellschaftliches Tabu:

- Die Verleugnung des Völkermordes an den Sinti und Roma wie auch die Nichtanerkennung anderer Opfergruppen ist Bestandteil eines Geschichtsverständnisses, das auf einem fehlenden Unrechtsbewußtsein gegenüber dem, was den Opfern geschah, und dem, was die Täter verübten, beruht. Zugleich war der Antiziganismus ein notwendiges Element der Vernichtung der europäischen Sinti und Roma, ohne ihn dadurch bereits hinreichend erklären zu können.

- Die Nichtwahrnehmung der Minderheit mit ihrer eigenen Geschichte und kulturellen Identität steht in einer wechselseitigen Korrespondenz mit der Konstruktion von antiziganistischen Ressentiments und Zigeunerbildern" in der Öffentlichkeit und in den Alltagsorientierungen der Mehrheitsbevölkerung. Diese beziehen sich auf Praktiken gesellschaftlicher Ungleichbehandlung.

Dieses verhängnisvolle Ineinandergreifen der Verleugnung des Völkermordes und projektiven Fremdbildern führten bis heute zu einer verzerrten gesellschaftlichen Wahrnehmung, aus der die Lebenswirklichkeit der Minderheit im wesentlichen ausgeblendet zu sein scheint.

Die jahrzehntelange Verleugnung des Völkermordes an den Sinti und Roma basiert auf dem Verschweigen der Täter und ihrem Versuch, das verübte Unrecht an den Sinti und Roma dauerhaft zu entwirklichen und von der Realität abzuspalten. Die Verleugnung dessen, was in Auschwitz verübt wurde, die fehlende Auseinandersetzung mit der Tat und die Defizite juristischer Kenntlichmachung der Täter waren zwangsläufige Voraussetzungen für eine massive Verschiebung der Schuld von den Tätern hin zu den Opfern: Die Täter bestritten die traumatischen Erfahrungen der Opfer, indem sie sich schließlich selbst zu Opfern erklärten; sie verweigerten den Überlebenden Anerkennung und Entschädigung für das erlittene Unrecht und taten alles dafür, die Existenz der Ermordeten aus dem Gedächtnis und die Existenz der Überlebenden aus der gesellschaftlichen Realität auszublenden.4

Im Kontext eines fehlenden Unrechtsbewußtseins ging mit dem Vergessen und Unsichtbarmachen des Zivilisationsbruches von Auschwitz eine Nichtwahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma einher, die den Völkermord überlebt hatten. Die Negation der Verfolgungsgeschichte der Sinti und Roma sowie ihre reale gesellschaftliche Ausgrenzung im Nachkrieg wurden durch ein schier unerschöpfliches Reservoir von antiziganistischen Vorurteilen und entsprechenden Verhaltensmustern ideologisch begleitet und überlagert. Offensichtlich verlaufen diese quer durch alle gesellschaftlichen Institutionen wie durch das Alltagsdenken und -handeln der Mehrheitsbevölkerung. So wirken bewußt oder unbewußt antiziganistische Einstellungen oder doch zumindest eine erschreckende Indifferenz gegenüber der Minderheit auch in den verschiedenen Bereichen des Bildungssystems.5

Gerade für den gesamten Bildungsbereich gilt es, dieses komplexe Bedingungsgefüge, das sich auf den Zivilisationsbruch, auf den Antiziganismus und die damit verbundenen Auswirkungen für die Lebenswirklichkeit der Minderheit bezieht, zu entschlüsseln, wenn die Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster der Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Sinti und Roma verändert werden sollen. Insofern scheint es keineswegs zufällig, daß in der Forschung, der Hochschulausbildung, der Lehrerfortbildung bis hin zur Vermittlung im Unterricht die gesamte Thematik bis auf den heutigen Tag fast völlig ausgeblendet wurde. Dies bedeutet, daß auch Historiker und Sozialwissenschaftler die gesellschaftliche Nichtanerkennung und Ausgrenzung der Minderheit reproduziert haben und mitverantwortlich sind sowohl für die Nichterforschung der zigeunerfeindlichen" Vorurteile wie auch für die Nichtaufarbeitung der Verfolgungsgeschichte der Minderheit.6

Schulbuchstudien

Auf den Zusammenhang zwischen der Nichtwahrnehmung der Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma und einer stigmatisierenden Hyperkennzeichnung durch antiziganistische Vorurteile wies Torsten Böhmer bereits 1981 und 1983 in seinem Gutachten7, das er im Auftrag des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft erstellte, hin. Der Kern seines Untersuchungsgegenstandes im Sinn einer Bestandsaufnahme bezieht sich auf die Frage, ob und in wie weit die historischen und aktuellen Schicksale, die Traditionen und die soziale Kultur dieser Minderheit im Schulunterricht thematisiert werden, ... wie und in welchen thematischen Rahmenbezügen dies in Schulbüchern und Lehrplänen geschieht und ob die gewählte Art und Weise der Präsentation fundamentierte Einsichten in den Charakter des fortwährend belasteten Verhältnisses der Gesellschaftsmehrheit zu dieser Minderheit der Sinti und Roma zu gewinnen erlaubt." (ebda.1983:1ff).

Als Fazit zum Thema Völkermord an den europäischen Sinti und Roma im Fach Geschichte hielt Böhmer fest: bis auf äußerst wenige Ausnahmen verschweigen Geschichtsbücher die an Sinti und Roma vollführten Massenmorde ebenso vollständig wie die Vielzahl von Zwangsmaßnahmen, die an ihnen ausgeübt worden sind." (ebda.1981:436) Und weiter: Keiner der aufgeführten Einzelfälle von Äußerungen, die sich in genehmigten Schulbüchern fanden, erreicht die Qualität einer wirklichen Ausnahme von der vorwaltenden Regel rigider Verdrängung." (ebda.1981:437). Nur in zehn von insgesamt 253 untersuchten Lehrbüchern waren überhaupt, wenn auch nur marginale Hinweise auf die Vernichtung von Sinti, Roma oder Zigeunern" zu finden gewesen.

Das Landesinstitut für Erziehung und Unterricht (LEU) hat 1996 im Auftrag des Kultusministeriums eine Schulbuchstudie erstellt, welche die im Institut zufällig vorrätigen Bücher auf

1. die Erwähnung der Geschichte und Kultur der Sinti und Roma,

2. die Erwähnung des Völkermords an der Minderheit und schließlich

3. auf diskriminierende Texte

hin zu überprüfen vorgibt.8 Dieser Befund wird auch durch eine Schulbuchanalyse in Hessen bestätigt. Dort werden Sinti und Roma lediglich in fünf von 25 für die Sekundarstufe I relevanten Geschichtsbüchern erwähnt. Alle fünf tun dies ausschließlich im Kontext des Holocaust.9

Die Tatsache, daß in den Schulbüchern Baden-Württembergs nur sehr wenig Informationen vorzufinden sind, wird damit begründet, daß einerseits die Schulbücher aus wirtschaftlichen Erwägungen breit angelegt sein müßten, daß sie sich andererseits, soweit wie möglich an den Lehrplänen orientieren müssen ... In unseren Bildungsplänen von der Grundschule bis zum Gymnasium wird die Minderheitenkultur der Roma und Sinti in ihrer Geschichte und Kultur nicht ausdrücklich angesprochen." (Süß, ebda.1996) Weiterhin wird konstatiert, daß das Wissen ständig zunehme, daher müßten die Unterrichtsbücher in exemplarischer Weise konzipiert werden. Schließlich habe die Schule auch in erzieherischem Sinne zur Verhaltensprägung beizutragen.

Die Frage warum z.B. beim Thema Minderheit in keinem Fall die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in exemplarischer Weise dargestellt wird, bleibt ebenso unbeantwortet, wie die Frage, inwiefern die Kultusbehörden im Sinne der erzieherischen Verhaltensprägung" in der Bekämpfung antiziganistischer Ressentiments und Zigeunerbilder" eine notwendige Aufgabe für die Schule sehen.10

Das Thema Vorurteile gegen gesellschaftliche Randgruppen und Minderheiten sowie die daraus resultierenden sozialen Beziehungen behandeln vornehmlich die Sozialkundebücher. Böhmers ernüchterndes Resultat seiner Analyse lautet hierzu, daß außer der bloßen Nennung - (wie z.B. in dem Schulbuch Thema Politik", Stuttgart 21977 Klett Verlag) wenn etwa gefragt wird: Was wißt ihr über Kommunisten, Zigeuner, Neger?" - (k)eine der soziologisch-sozialpsychologischen Kategorien mit dem Leben der Sinti in Beziehung gesetzt und inhaltlich weiterentwickelt" wird. Es wird nirgends der Versuch unternommen, der Bildung sozialer Vorurteile im status nascendi dadurch entgegenzuarbeiten, daß einige Kenntnisse der sozialen Lage und der Kultur der Sinti und über unsere Schwierigkeiten mit ihr vermittelt werden." (ebda.1981:438). Nach der LEU-Studie 1996 wurde in den untersuchten Sozialkundebüchern in keinem Fall explizit auf die Sinti und Roma eingegangen. (vgl. Süß ebda.1996)

Zusammenfassend an die Adresse der Schulbuchautoren bilanziert Böhmer: Aus der Zusammenstellung der Schulbuchaussagen zur sozialen Lage der Zigeuner in der jüngsten Vergangenheit und in der Gegenwart wird deutlich, daß der kleine Kreis von Schulbuchautoren der Fächer Geschichte und Sozialkunde/Politik, die den etablierten Schulbuchverlagen verbunden sind, das Schicksal dieser Menschengruppe keiner Aufmerksamkeit für wert hält, ..." (ebda.1981:439). Im Klartext heißt dies: die Nichtwahrnehmung und die Geringschätzung der Minderheit im Weltbild der Schulbuchautoren führen zur Marginalisierung bzw. zum völligen Fehlen von Sachinformationen in den Schulbüchern. Dieser Umstand wirkt sich verhängnisvoll für alle SchülerInnen aus; für die Angehörigen der Minderheit ist er jedoch herabsetzend dazu. Ihre eigene kulturelle Identität wird bestritten und entwertet.11

Am deutlichsten wird jenes Beziehungsgefüge von Zivilisationsbruch und Antiziganismus jedoch in den Texten sichtbar, die vorwiegend in Deutschlesebüchern der Orientierungsstufe und der Sekundarstufe I zu finden sind. Böhmer hielt für die Orientierungsstufe zwar fest, daß die dort bereitgestellten Beiträge in offenkundiger Absicht versuchten: der Entstehung von Stereotypen und Vorurteilen bei der Wahrnehmung von `Zigeunern' entgegen zu wirken", er macht aber zugleich deutlich, daß nur eine Geschichte frei von jedem exotischen Klischee sei. (ebda.1983:21)

Für die Sekundarstufe I bilanzierte Böhmer, daß insbesondere die historische Dimension vernachlässigt worden sei; d.h. nur in Ausnahmefällen wurden Quellentexte und Informationen angegeben, die auf die Zwangsmaßnahmen, Entrechtung, Deportation und Vernichtung der Sinti und Roma eingehen. Über die Verfolgungsgeschichte der Minderheit vor dem Nationalsozialismus ist überhaupt nichts zu erfahren (ebda. 1983:58). Weiterhin machte Böhmer auf die erhebliche Diskrepanz zwischen der Lebenswirklichkeit der Minderheit und dem Fremdbild der Autoren aufmerksam.12 Literarische Darstellungen, Selbstbilder und Geschichten, die von Sinti und Roma verfaßt wurden, sind nicht vorzufinden.

Michail Krausnick13 hat mehrfach darauf hingewiesen, daß für Autoren eine Schreibperspektive, die auf wohlmeinender Absicht beruht, nicht ausreicht; zumindest müßten auch die Auswirkungen der Texte auf die SchülerInnen und auf die Minderheit selbst bedacht werden. Darüber hinaus gilt, daß eine wohlmeinende Absicht allein in keiner Weise genügt, um die Struktur eines Vorurteils zu reflektieren und zu einer Erkenntnis der Wirklichkeit zu gelangen. Allzu leicht wird lediglich ein Positionswechsel vorgenommen: aus dem antiziganistischen Ressentiment und Klischee wird dann ein ziganophiles Bild, das ebenso wenig mit der Lebenswirklichkeit der Menschen zu tun hat wie das negative
Egon Schweiger: Sinti und Roma in den Schulbüchern
Stereotyp, das jedoch dessen Träger unter der Hand zum Menschenfreund und Liebhaber der `Zigeuner' transformiert.

Funktionen der Zigeunerbilder"

Zigeunerbilder" bilden eine projektive Folie der Wahrnehmung, Deutung oder Rechtfertigung im Alltagshandeln vieler Menschen. In ihrem Gehalt, ihren Funktionen, ihren Wirkungsweisen zeigen die antiziganistischen Zigeunerbilder" eine ungebrochene Präsenz und Wirkungskraft in den Alltagsorientierungen vieler Menschen. Kollektiv bestätigt, entlasten sie das Individuum bei der Anstrengung, sich selbst vergewissernd ein sinnhaftes Bild von der Welt zu machen, das den anderen in seiner realen Andersheit wahrnimmt. Solche projektiven Bildervorgaben können mit der Wirklichkeit in eins gesetzt werden; dadurch entsteht ein geschlossenes Wahrnehmungssystem. Die Wirklichkeit, die konkreten diskriminierten Menschen werden als unveränderbar gesetzt: das vorgestellte Bild wird zum Seinszustand einer Welt, die so ist oder so sein muß, wie sie gesehen wird. Der Gewinn bei diesem Entlastungsprozeß: die Realität wie das Vorurteil - beide - sind fest zementiert und brauchen nicht mehr überprüft zu werden.

Darüber hinaus korrespondieren diese verzerrten Wahrnehmungsfolien mit antisozialen Verhaltensmustern, die neben der Unveränderbarkeit des Weltbildes auch und gerade die sozialen Beziehungen, Positionen und Machtverhältnisse in der Wirklichkeit installieren. Etikettierung und Stigmatisierung sprechen eine deutliche Sprache: sie diskriminieren, sie entwirklichen, entmenschlichen, verletzen, demütigen, entwerten die Anderen und rechtfertigen die eigene Position.

Antiziganistische Einstellungen haben im Vergleich zum Antisemitismus in den letzten Jahren noch zugenommen:14 Offensichtlich erfüllen sie auch die Funktion, mit dem Bild vom Zigeuner" die Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma unsichtbar zu machen und die wirklichen Menschen zugleich abzuwerten. Die Nichtwahrnehmung der Realität der Minderheit sowie die Existenz von antiziganistischen Vorurteilen, Mythen und Ideologien gehören zusammen.15

Soziale Beziehungen und zerstörte Menschlichkeit

Die Verbindung von Völkermord und antiziganistischem Vorurteil, ihre Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma sowie die damit verbundenen sozialen Beziehungen soll abschliessend beispielhaft an dem Text von Wolfdietrich Schnurre, `Jenö war mein Freund' dargestellt werden.16 Böhmer diskutiert diesen Text, weil er wie keine andere Kurzprosa, die von `Zigeunern' zu berichten weiß, so häufig in Schulbüchern nachgedruckt worden [ist] ..." (ebda.1983:9)

Die oben angeführten Elemente Völkermord, Zivilisationsbruch, Vorurteile, soziale Beziehungen werden in diesem Text angesprochen und auch in Lehrerhandreichungen thematisiert. In dem Lehrerband Lesestücke 617 beispielsweise wird die nationalsozialistische Rassenverfolgung neben dem Thema Freundschaft als zweites inhaltliches Ziel genannt. Die Freundschaft zwischen dem deutschen Schüler und dem Zigeunerjungen einerseits und die nationalsozialistische Rassenverfolgung andererseits sind nicht zwei getrennte Vorgänge, von denen einer vernachlässigt werden könnte: beide Themen werden erst miteinander verstehbar." (1977:65) Bei den Leitfragen bzw. bei den Hausaufgaben finden sich dann lediglich Gegenüberstellungen der verschiedenen (unteilbaren) Welten: bürgerliche Welt kontra Zigeunerwelt". (ebenda. S.66).

Als primäres Lernziel wird die Auseinandersetzung mit dem Thema Freundschaft genannt. So wird z.B. in der Lehrerhandreichung Bausteine Deutsch 6 H (Anm. 18) Schnurres Text in dem Kapitel Gute Freunde besprochen (Lernziele: Erfahrungen, Konflikte mit Freundschaften). Im Lehrerheft Lesezeichen C718 firmiert `Jenö' im Kapitel Freunde und Feinde unter dem Unterkapitel: Bewährung. Diese Bewährung wird in der didaktischen Kommentierung in der Lehrerhandreichung Bausteine Deutsch 619 erläutert. Dort wird die Erzählung beschrieben, als eine Freundschaft inmitten des NS-Terrors, die für einen Augenblick die zerstörte Mitmenschlichkeit wiederherstellt." Weiterhin wird das humane und tolerante Verhalten des Vaters gegenüber der Minderheit und deren Lebensformen hervorgehoben (1994:56).

In der Geschichte `Jenö war mein Freund' muß einzig und allein das Ego des bürgerlichen Erzählers sich gegen Jenö den Fremden und ganz Anderen - schlecht riechend, verlumpt, ungekämmt, klauend, absonderlich in seinen kulinarischen Vorlieben, und schließlich anders in seinen Sitten und Werten - bewähren. Und wir werden sehen, daß es notwendigerweise an der widersprüchlichen Konstruktion seines eigenen Denkens und Verhaltens scheitern muß.

Diese Konstruktion beinhaltet neben Jenös Andersheit - aus der Perspektive sozialer Interaktion - noch einen weiteren Faktor: Jenös Tun und Handeln wird als unausweichlicher Wesenszug und Daseinszustand suggeriert, der maßgebend für das Verhalten des bürgerlichen Kindes zu sein scheint. Völlig konfliktunfähig und ohnmächtig kommt das bürgerliche Ego in keiner Weise gegen Jenö, den ganz Anderen, an. Der Zigeuner" stiehlt das Barometer und stiehlt fast die gesamte Eisenbahn, aber dem Bürgerkind fehlt offenbar der Mut, um die Ungerechtigkeit offen auszusprechen oder sein Eigentum gar zurückzufordern. In keiner Situation vermag es, zu widersprechen oder eine Grenze zu setzen. In dem gesamten Text gibt es kein Sprechen und keinen Streit der beiden Kinder über beispielsweise ihren unterschiedlichen" Umgang mit Eigentum. Erst in der offenen Auseinandersetzung hätte sich ja erst so etwas wie eine soziale Wirklichkeit, also gemeinsame oder unterschiedliche Positionen bilden können.

Die Darstellung solcher Sprachlosigkeit gegenüber dem Offensichtlichen und die Phantasie, den Anderen ohnmächtig erdulden zu müssen, gehören zusammen. In der Tiefenstruktur des Textes wird somit die Basis für einen verzerrten Umgang mit realen Konflikten gelegt, der zu Ohnmacht, Beschämung und Relativierung des Selbst führt. (vgl. Anm. 10, S. 35). Der Unmut, der Ärger über den Diebstahl werden in ein strategisches Tauschgeschäft transformiert. Das gestohlene Barometer wird auf diese Weise gar zum Geschenk umdefiniert, denn beim nächsten Treffen, hatte Jenö mir ein so herrliches Gegengeschenk mitgebracht, daß es unmöglich war, auf das Barometer zurückzukommen".20 Das bürgerliche Ego nimmt seine Gefühle nach innen und verlegt sich auf den Tausch. Die Ursache der Beschämung wird nach außen projiziert: auf den Zigeuner". Bestätigt wird dieser Umstand durch die falsche Toleranz des Vaters: Sie haben andere Sitten als wir", sagte er, es hat ihm eben gefallen. Außerdem hat es sowieso nicht mehr viel getaugt." (Anm. 10. S. 35). Hier wird nicht nur Jenö durch persönliche Eigenschaften zum unmittelbaren Verhaltensmaßstab des bürgerlichen Jungen, sondern durch die Festschreibung einer unveränderbaren ethnischen und kulturellen Andersheit21 seitens des wohlmeinenden Vaters entsteht eine unaufhebbare Differenz. Jenös Handeln und seine andersartige Existenz werden absoluter, ausschließlicher Maßstab für das Verhalten des Bürgerkindes. Der phantasierten Ohnmacht des bürgerlichen Egos korrespondiert die phantasierte Allmacht des Anderen.

Das reale Scheitern der Freundschaft wird vom Autor nicht herausgestellt. Von den Schulbuchdidaktikern jedoch wird die Erzählung im falschen Pathos von Bewährung, von Toleranz und Humanität noch einmal verdreht. Der phantasierten Ohnmacht des bürgerlichen Kindes steht letztlich die reale Ohnmacht von Jenö und seinen Angehörigen (die ganze Bande" Anm. 10 S. 37) gegenüber, als sie deportiert werden. Das bürgerliche Ego indessen wird verschont, es partizipiert nolens volens von der realen Macht der Nationalsozialisten.

Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus

Eine Antwort auf die ethische Frage nach der Qualität der sozialen Beziehungen, die in Schnurres Text skizziert werden, macht daher erst vom Ende seiner Geschichte her Sinn. Ich habe es damals auch nicht gewußt; ich war nur traurig, daß Jenö jetzt weg war", heißt es dort (vgl. Anm. 10, S.37). Im Widerspruch zu dem didaktischen Kommentar, daß für einen Augenblick die zerstörte Mitmenschlichkeit wiederhergestellt wurde" (vgl. ebenda), wird hier die These vertreten, daß die Sprachlosigkeit, die fehlende Anerkennung, der Rückzug auf unveränderbare Kategorien und schließlich auch die damit verbundenen Vorurteile und Verhaltensmuster, die in der Geschichte vorkommen, bereits auf die Beschädigung jener zivilisatorischen Standards hinweisen, die in der Entrechtung, Deportation und Vernichtung der Sinti und Roma zerstört wurden.22

Schnurre selbst will dem eigenen Anspruch nach nicht moralisieren: Ich will keine Wege weisen", schreibt er, Ich will keinen Zeigefinger heben und kein Moralprediger sein. Das sollen andere besorgen." (Anm. 10. S. 28) Und an anderer Stelle fährt er fort: Aber im Grunde hatte ich die Jenö-Geschichte ja auch deshalb geschrieben, um meinem Freund Karl - eben Jenö - ein kleines Denkmal zu setzen. Und etwas besseres kann gar nicht passieren, als wenn Ihr jetzt über Jenö und sein Schicksal sprecht" (Jugendschriften-Warte 32/1980/2:31f; Anm. 1, 1983:11).23

Während Schnurre in gewisser Weise seiner eigenen Lebensgeschichte verhaftet gewesen sein mag, ist es andererseits von beträchtlichem Interesse nach den pädagogischen Absichten und Zwecken der Schulbuchautoren zu fragen, die den Autor wie die Erzählung für ihre Zwecke herangezogen und interpretiert haben.

In der Lehrerhandreichung des Diesterwegverlages (Anm. 9 S. 56) z.B. wird Schnurre mit den Worten zitiert: Ich liebe Minderheiten, besonders Zigeuner". Das mag für den Autor gegolten haben. Ob seine Wertschätzung angesichts der Verleugnung des Völkermords an den Sinti und Roma und der ungebrochenen Kontinuität antiziganistischer Ressentiments von den Schulbuchautoren einfach übernommen und unmittelbar pädagogisch eingesetzt werden kann, darf mit Recht bezweifelt werden. Allzu leicht wird der Eindruck vermittelt, daß nach dem Völkermord - ohne eine Anerkennung des verübten Unrechts und ohne eine glaubwürdige Aufarbeitung - nun konsequenzlos eine positivierte Einstellung gegenüber den im Nazijargon als `artfremden Untermenschen' bezeichneten Sinti und Roma eingenommen werden könnte.

Die dem Text vorangestellte Prämisse verteilt neben der für den Autor verbundenen Wertschätzung klare Positionen. Offenbar soll hier dem Autor - als Mitglied der Mehrheitsgesellschaft - die Position des Menschenfreundes angetragen werden, die auch auf der Erzählebene bestätigt werden soll. Damit wird eine abstrakte Position des Guten Menschen qua Erzähler über die ganze Erzählung gestellt, der sich als Kind gegenüber der fremden, bedrohlichen und andersartigen Minderheit als gut bewährt hat. In dieser abstrakten Position wäre schließlich die zerstörte Menschlichkeit per se wieder hergestellt, wie auch die Positionen Gut und Böse zugewiesen.24 Mit der Wahrnehmung der Anderen und einer wechselseitigen Anerkennung hat dies jedoch nichts zu tun; die Sinti und Roma bilden hier lediglich den Stoff, an dem die Menschenfreundlichkeit z.B. des Vaters exemplifiziert wird. Der Antiziganismus, der sich in und zwischen den Zeilen artikuliert, wird zur unverbindlichen Ziganophilie umgewertet.

Soziale Realität im Spiegel von Nichtwahrnehmung und antiziganistischen Vorurteilen

Torsten Böhmer (1983:9-16) hat bereits auf diskriminierende, abwertende Passagen, auf Fehlinformationen und fragwürdige Bezüge des Textes im Rahmen der Unterrichtsfragen hingewiesen.25 Nicht nur im Denken bleiben die antiziganistischen Vorurteile präsent, wenn es keine alternativen Erkenntnismöglichkeiten gibt. Auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen und in sozialen Beziehungsmustern bilden sie die Basis des Handelns, wenn keine sozial kompetenten Handlungsalternativen vermittelt werden. Emotionale, kognitive und soziale Fähigkeiten können nur in konkreten Situationen eingeübt, entwickelt und überprüft werden. Wenn Überlebende über die wundersame stereotype Abrufbarkeit von Zigeunerbildern" bei Schülern berichten, wenn man sie auffordert, ihr Wissen über Sinti und Roma aufzuschreiben; dann ist dies nur ein Hinweis auf die unabdingbare Notwendigkeit, pädagogische Handlungsmodelle gegen den Antiziganismus zu entwickeln.

In der didaktischen Anleitung des Lehrerheftes Lesezeichen C726 heißt es einleitend im Kapitel Freunde und Feinde: Das Thema Freunde und Feinde entstammt dem unmittelbaren Erfahrungsumkreis der Schüler, konfrontiert sie mit Problemen, die sie selbst immer wieder betreffen..." (1986:21) Die abwertenden antiziganistischen Bilder und die Verteilung sozialer Positionen werden Grundlage des Unterrichts, in dem sie als reale Zuschreibungen zur Gegenüberstellung zwischen den in der Erzählung nicht mitteilbaren Welten der beiden Jugendlichen dienen (vgl. Bausteine Deutsch Handreichung 1994:56; vgl. Lesestücke 6 Lehrerband 1977: 64).27 Man wird davon ausgehen können, daß Schüler die Bildervorgaben der Erzählung mit ihren eigenen (Vor-)Urteilen abgleichen werden und/oder als konkrete realistische Deutungsmuster für ihre Weltsicht annehmen werden, wenn alternative Sachinformationen fehlen. Sie werden sich mit ihnen in der Wirklichkeit zu bewähren suchen, wie dies auf seine Weise die Bewährung" des Ich-Erzählers demonstriert hat.

Aufgaben in der Bildung

Was können wir im Bildungsbereich tun angesichts der Verleugnung der Geschichte, der Nichtwahrnehmung der Minderheit und einer äußerst verfestigten Vorurteilsstruktur gegenüber den Sinti und Roma?

Will man nicht der Tendenz des Bildungsapparates folgen, überall dort, wo Legitimationsdefizite auftauchen, hektische Betriebsamkeit zu entwickeln, um die Leerstellen zuzudecken, dann gilt es zunächst grundsätzlich festzuhalten, daß Konzepte, Materialien auf allen Ebenen des Bildungsbereiches sinnvoller Weise in Kooperation mit den Sinti und Roma zu erarbeiten wären. Wie auch Katrin Reemtsma (vgl. in diesem Band) postuliert, ist eine interdisziplinäre wissenschaftliche Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen notwendig, die Sinti und Roma nicht mehr als Objekte von Forschungsprojekten betrachten, sondern als Subjekte im Wissenschaftsbetrieb" anerkennen.

Neben einer selbstkritischen Reflexion der je eigenen historisch-gesellschaftlichen Position im Verhältnis zur beschriebenen Thematik wird es einer realistischen Einschätzung bedürfen, welche begrenzten Möglichkeiten der Pädagogik angesichts gesellschaftlicher Strukturen, die das Vergessen und die Spaltung und damit Antiziganismus fördern, zugemutet werden können. Antifaschistische und antirassistische Konzepte erfahren dort ihre Grenzen, wo sie sich lediglich auf die Logik rassistischer Vorstellungen beschränken oder abstrakt auf gesellschaftliche Strukturen verweisen, aus denen die konkreten Verfolgungspraktiken nicht ersichtlich werden. Pädagogik wäre gewiß überfordert, würde man ihr zumuten wollen, gesellschaftliche Widersprüche aufzuheben. Sie vermag sich einzig an das bedrängte und versehrte Individuum zu wenden, um es in seiner kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung zu fördern. Zuallererst hat sie daher dafür Sorge zu tragen, das Schüler und Schülerinnen einen Lernort vorfinden, der Erfahrungen wechselseitiger Anerkennung zwischen Minderheit und Mehrheit ermöglicht.

Wesentlich für eine Pädagogik, die diesen Anerkennungsprozess und die Erinnerung an den Völkermord vermitteln will, wird jene Unterscheidung sein, die Micha Brumlik in ähnlichem Zusammenhang28 in Anlehnung an Lawrence Kohlberg getroffen hat; nämlich zwischen den kognitiven, affektiven und moralischen Aspekten des Lernstoffes zu differenzieren und ihn entsprechend den entwicklungspsychologischen Niveaus und sozialen Kompetenzen der SchülerInnen auszuarbeiten. Er unterscheidet drei Felder, auf denen Lernprozesse stattfinden sollen:

- den Bereich der Informationen und Kenntnisse von Ereignissen, Zusammenhängen und jenen Theorien, die sie erklären können;

- den Bereich der Affekte und Emotionen, die bei und während der Auseinandersetzung mit diesem Stoff entstehen;

- den Bereich einer moralischen Beurteilungs- und sozialen Handlungskompetenz, die auf der Basis entsprechender Kenntnisse und einer affektiv verwurzelten Motivation beruht, ohne in ihr gänzlich enthalten zu sein" (Anm. 29, S. 15).

Daß über fünf Jahrzehnte versäumt wurden, in der Schule und Unterricht sachgerecht über die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma zu informieren und über die Zigeunerbilder" in den Köpfen der Mehrheitsbevölkerung aufzuklären, bleibt ein Skandal. Auf der anderen Seite bietet sich auch die Chance, aus den Versäumnissen zu lernen und auf dem neuesten Stand von Wissenschaft und Forschung in Kooperation mit den Sinti und Roma die strukturellen Voraussetzungen im Bildungsbetrieb dahingehend zu verändern, daß die beschriebenen Defizite grundsätzlich aufgearbeitet werden können.


1 Vgl. TAZ Ausgabe vom 21.02.1997 Urteil über einen Mietstreitfall des Bochumer Landgerichtes

2 Vgl. auch Katrin Reemtsma: Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart. München 1996, S. 164ff.

3 1995 hat das hessische Kultusministerium die Aufnahme der Thematik des Völkermordes an den Sinti und Roma sowie des Antiziganismus in den Rahmenplänen beschlossen. Damit wurde auch eine wesentliche Grundlage für die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien geschaffen.

4 Die Auseinandersetzung um symbolische Formen des Gedenkens an den Holocaust zeigen einen unerbittlichen Deutungskampf um das Geschichtsbild ebenso wie dessen Bedeutung für die nationale Identität. Den Sinti und Roma wurden bis in die 80er Jahre in dem offiziellen Geschichtsbild kein Ort und in ihrer Bedeutung für die nationale Identität eine negative Rolle zugewiesen.

5 Ein kritisches Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein muß sich diesen spezifischen Zusammenhang von Zivilisationsbruch und Antiziganismus, ihren Konstitutionsbedingungen und Folgewirkungen vergegenwärtigen, soll der Zirkel der Verleugnung, Nichtanerkennung und stigmatisierender Ausgrenzung durchbrochen werden.

6 Beispielsweise ist in Baden-Württemberg die lokale und regionale Geschichte der Entrechtung, Verfolgung und Deportation der Sinti und Roma in keiner Weise dokumentiert, und es gibt auch kein spezifisches Unterrichtsmaterial, das sich thematisch mit dem Antiziganismus auseinandersetzt.

Da die deutschen Sinti und Roma die einzige Minderheit in Baden-Württemberg sind, die unter das Europäische Abkommen zum Schutz nationaler Minderheiten fallen und explizit die politische Anerkennung der Landesregierung gefunden haben, ist es von eminenter bildungspolitischer und gesellschaftlicher Relevanz, in welcher Weise die Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma in der Öffentlichkeit wahrgenommen und insbesondere in den Schulbüchern dargestellt werden.

7 Torsten Böhmer: Information über Geschichte und Lebensbedingungen der Sinti und Roma in heutigen Schulbüchern. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 31. Jg. 1981 / 4. Vj.; Gutachten zur Behandlung der Geschichte und aktuellen Situation von Sinti und Roma im Unterricht der Mittel- und Oberstufe sowie als Gegenstand der Lehrerfortbildung, eine Bestandsaufnahme und Vorschläge zur Weiterentwicklung. Darmstadt 1983.

8 zitiert aus: Audioaufzeichnung des öffentlichen Vortrags von Frau R. Süß am 18.09.1996 in VHS Stuttgart. Die Studie, deren inhaltliche und methodische Kriterien für die Auswertung nicht genannt wurden, ist bis heute nicht veröffentlicht worden. Die unsystematische Zufallsauswertung der vorrätigen Bücher läßt allenfalls Spekulationen jedoch keine wissenschaftlich aussagekräftigen Ergebnisse zu. Demnach sind in den überprüften Deutsch-, Geschichts- und Sozialkundebüchern für die Grundschule keine Informationen über die Minderheit vorzufinden. Für den Bereich der Hauptschule wurden von 10 vorrätigen Geschichtsbüchern 7 untersucht, vier davon erwähnen den Völkermord an den Sinti und Roma; im gymnasialen Bereich wurden von 27 vorhandenen Geschichtsbüchern 15 untersucht, nur in fünf finden Sinti und Roma Erwähnung.

9 1997; unveröffentlichtes Manuskript; Unterrichtsmaterialien zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Sinti und Roma sowie zum Antiziganismus für die Sekundarstufe I; Projektgruppe am Fritz-Bauer-Institut, Frankfurt a. Main.

10 In Hessen wurde schon 1996 das Thema Völkermord an den Sinti und Roma sowie Antiziganismus ausdrücklich in die Bildungspläne aufgenommen. Weiterhin werden dort in einem vom Kultusministerium geförderten Projekt Unterrichtsmaterialien zu den genannten Themen entwickelt.

11 Auch Konzepte der Interkulturellen Pädagogik laufen auf der Basis der Nichtwahrnehmung und Nichtanerkennung der Minderheit in die Leere. Dennoch eröffnen diese Konzepte - in der Überwindung der Ausländerpädagogik - den Blick auf die kulturelle Identität und die Bilingualität der Minderheit und ermöglichen aus dieser Perspektive einen Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen.

12 Er schreibt hierzu: Ein weiterer gewichtiger Mangel wird darin deutlich, daß nur ein einziges Schulbuch in den von ihm wiedergegebenen Darstellungen den Blickwinkel und damit die Selektionsmechanismen verläßt, unter denen Nicht-"Zigeuner" als Autoren die Geschichte, Kultur und Gegenwart von Roma wahrnehmen, indem es Texte verschiedener Art zu dem Thema aufnimmt, die von den Betroffenen selbst oder aus ihrer Überlieferung stammen." (Anm. 8 1983:58ff)

13 Michail Krausnick; 1995 öffentlicher Vortrag bei einer Lehererfortbildung der LpB in Bad Urach; 1996 öffentlicher Vortrag am 18.09.1996 in der VHS Stuttgart.

14 Wippermann schreibt hierzu: Während die Vorurteilsbereitschaft gegenüber den Juden, die zu Beginn der 50er Jahre noch bei 40% lag, sukzessive auf 15 bis 20% zurückging, ist der Antiziganismus zwischen 1987, als man zum ersten mal danach fragte, und 1992 und 1994 von 51% auf 64% und schließlich auf 68% gestiegen (Wolfgang Wippermann: Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, unveröffentlichtes Manuskript; vorgetragen am 18.09.1996 in Stuttgart; Seite 11).

15 vgl. auch Solms: Zigeunerbilder deutscher Dichter; in diesem Band.

16 z.B. in Lesestücke 6, 1977; Lesebuch C6; 1973; beide Klett; Lesebuch 6, Diesterweg 1992.

17 Lesestücke 6; Lehrerband, Literarische, didaktische und methodische Analysen; Klett Verlag 1977.

18 Lesezeichen C7 Lehrerheft; Klett Verlag 1986.

19 Bausteine Deutsch 6. Schulj.; Lehrerhandreichung; Diesterweg 1994.

20 Bausteine, Lesebuch, 6. Schulj. Ausgabe S; Diesterweg 1992, S. 35.

21 vgl. hierzu auch den Beitrag von Katrin Reemtsma in diesem Band. Die Reduktion menschlichen Handelns auf biologisch, rassisch oder ethnisch determinierte Kategorien erinnert nicht nur an die zerstörerische Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus, sondern eine kulturell und ethnisch definierte absolute Differenz zwischen Gruppen und Völkern wird seit den 70er Jahren in den Kulturkonzepten der Neuen Rechten in ganz Europa postuliert.

22 Angemessener wäre vielleicht, das Scheitern der Mitmenschlichkeit einzugestehen.

23 Dies entlastet Schnurre keineswegs von einer kritischen Reflexion, auch im ethischen Sinn, die Krausnick angesprochen hat. In der Geschichte wird aber nicht nur Jenö ein Denkmal gesetzt, sondern auch dem Erzähler. Und spätestens hier wird das Feld der Absichten unübersichtlich.

24 Es sei an dieser Stelle an das fehlende Unrechtsbewußtsein in der Mehrheitsgesellschaft, an die Unsichtbarmachung der Täter und die Verleugnung der Opfer und an die damit verbundenen Auswirkungen bis auf den heutigen Tag erinnert. Die Thematisierung der Täterseite wird durch den guten Menschen, den es auch konkret gegeben haben mag, ausgespart, jedoch zugleich die Position des guten Menschen besetzt.

25 Böhmer kritisiert z.B. die Verwechslung von Romanes und der Kunstsprache Rotwelsch und die damit konstruierte Assoziationskette: Jenö - Zigeuner - Rotwelsch - Gaunersprache. Im Kontext des Wortes Zigeuner", das nur ein einziges Mal im Text vorkommt, spricht der Vater von den Leuten" als Träger der Vorurteile; später wird von Jenös Leuten" gesprochen und schließlich wird die ganze Bande" von der SS abgeholt. Diese Gleichsetzungen und Abwertungen sind mißverständlich und unerträglich.

26 Lesezeichen C7 Lehrerheft, Klett Verlag 1986:21.

27 Auch die Sprachstruktur der Erzählung, die gelegentlich in ihrer Unbekümmertheit" als kindgerecht bezeichnet wird, wäre zu überprüfen. Ist es eine Sprache der Kinder oder eine Sprache des Verschweigens?


28 Micha Brumlik: Entwurf einer didaktischen Konzeption zum Thema `Der Pogrom der Reichskristallnacht'. In: PZ- Informationen 1988, Bad Kreuznach.



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