Didaktische Reihe
Band 16

Reicht der
Beutelbacher Konsens ?

 

Hrsg. von
Siegfried Schiele
Herbert Schneider


1996


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Dokumentation


1. Der Beutelsbacher Konsens

1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.

2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d.h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muß, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.

Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.

3. Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interrssenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was aber eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich - etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer - erhobene Vorwurf einer "Rückkehr zur Formalität", um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.


Hans-Georg Wehling (S.179/180) in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977


2. Änderungsvorschläge (von Herbert Schneider) betr.: den 3. Grundsatz von Beutelsbach

a) Fassung 1977

"Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen."

b) Umformulierung 1987

"Der Schüler (Erwachsene) soll in die Lage versetzt werden, politische Probleme zu analysieren und sich in die I.age der davon Betroffenen hineinzuversetzen sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie er die Problemlösung im Sinne seiner Interessen unter Berücksichtigung der Mitverantwortung fiir das soziale Ganze beeinflussen kann."

c) Umformulierung 1996

"Der Schüler (Erwachsene) soll dazu befähigt werden, politische Probleme zu analysieren und sich in die Lage der davon Betroffenen hineinzuversetzen sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, wie er die Problemlösung im Sinne seiner wohlverstandenen Eigeninteressen unter Berücksichtigung seiner Mitverantwortung fiir das soziale Zusammenleben und das politische Ganze beeinflussen kann."


3. Ergänzungsvorschläge

a) Vorschlag von Gotthard Breit (1996)

"Dem Jugendlichen soll im Politikunterricht Gelegenheit gegeben werden, über die Bedeutung von Freiheit und Demokratie und über die Voraussetzungen und Möglichkeiten von politischer Beteiligung nachzudenken."

b) Vorschlag von Wolfgang Sander (1994)

"Politische Bildung versteht sich als Teil einer demokratischen politischen Kultur. Sie will mit pädagogischen Mitteln an der Erhaltung und Weiterentwicklung der Demokratie mitwirken, denn nur demokratisch verfaßte Gesellschaften können die pädagogisch intendierte Mündigkeit der Schülerinnen und Schüler akzeptieren."


4. Beutelsbacher Gespräche

  • "Das Konsensproblem in der politischen Bildung",19./20. November 1976, Landgut Burg, Weinstadt-Beutelsbach
  • "Familie als Vermittler von Normen und Werten",10.11. November 1978, Hotel "Höhenblick", MühlhausenTäle
  • "Konsens und Dissens in der politischen Bildung" - 10 Jahre Beutelsbacher Konsens, 28. - 30. November 1986, Landgut Burg, Weinstadt-Beutelsbach
  • "Rationalität und Emotionalität in der politischen Bildung", 23. -25. November 1990, Landgut Burg, Weinstadt-Beutelsbach
  • "Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?", 18.-20. Februar 1993, Haus auf der Alb, Bad Urach
  • "Reicht der Beutelsbacher Konsens?", 26. -28. Februar 1996, Haus auf der Alb, Bad Urach

Literaturauswahl

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Schiele, Siegfried/Schneider, Herbert (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977
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Sutor, Bernhard: Politikunterricht und moralische Erziehung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 46/89, S. 3-14
Sutor, Bernhard: Politische Ethik. Paderborn u.a.1991
Teufel, Erwin (Hrsg.): Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? Frankfurt/M.1996
Zahlmann, Christel (Hrsg.): Kommunitarismus in der Diskussion. Berlin 1994


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