Didaktische Reihe
Band 22

Werte in der politischen Bildung

 


Herausgeber:

Gotthard Breit
Siegfried Schiele

LpB, 2000, 464 S.



  Inhaltsverzeichnis

Gisela Behrmann

Werte und Sozialisation

Sozialisations- und Werteforschung

Sozialisation wurde in der lange Zeit sehr einflussreichen Gesellschaftstheorie von Talcott Parsons als Tradierung und – von den Heranwachsenden her gesehen – "Internalisierung" der zentralen Werte einer Gesellschaft und damit als der Prozess begriffen, in dem sich eine Gesellschaft auf Dauer stellt, also Stabilität gewinnt. Obwohl sich die politische Sozialisationsforschung als dann pädagogisch wohl einflussreichster oder zumindest bekanntester Zweig einer empirischen Sozialisationsforschung häufig auf Parsons berufen hat, ist die zentrale Tradierung und Internalisierung von "Wertmustern" dort kaum untersucht worden.

Das lässt sich wohl auf zwei Gründe zurückführen: Zum einen hat sich die Forschung vor allem der Kindheit und frühen Adoleszenz zugewandt. In diesen Altersphasen sind aber Wertorientierungen noch wenig ausgeprägt. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die gesellschaftlichen Wertorientierungen erst im späten Jugendalter und in den frühen Erwachsenenjahren aufgebaut werden. Dann erst erreichen Jugendliche die höheren Stufen der sozio-kognitiven Entwicklung (Perspektivenwechsel, prinzipiengeleitetes Moralverständnis, weltanschauliche Konzepte u.a.), die zu einem abstrakten und strukturierten Verständnis komplexer gesellschaftlicher Zusammenhänge nötig sind. Zum anderen bereitete – und bereitet – die forschungstechnische Operationalisierung des Wertbegriffs und der damit verbundenen sozialisationstheoretischen Annahmen beträchtliche, zum Teil gar nicht auflösbare Schwierigkeiten.

Dies erklärt, weshalb Ronald Ingleharts Wertewandelthese, -theorie und –forschung in den 70er und 80er Jahren auf diesem Forschungsfeld konkurrenzlos blieb. Inglehart hat ein überaus handliches Forschungsinstrument entwickelt und auch dazu eine Theorie geliefert, die sich mit der Annahme einer Abhängigkeit der Werte von den im Jugendalter erfahrenen ökonomischen Verhältnissen (gemessen durch das Bruttosozialprodukt) über alle Schwierigkeiten eines Nachweises von Sozialisationseffekten der "Sozialisationsagenturen" Familie, Schule, Medien etc. hinweg gesetzt hat.

Die mittlerweile verbreitete Kritik am Vorgehen Ingleharts muss hier nicht wiederholt werden. Denn nicht zuletzt aufgrund dieser Kritik hat sich die neuere Jugendforschung in Teilen von dessen Wertewandeltheorie gelöst und auch andere Untersuchungsinstrumente entwickelt. Dabei ist auch die Frage nach Stellung und Einfluss der Sozialisationsagenturen wieder in den Blick gekommen. Gewiss ist auch diese Forschung methodisch angreifbar. Ich möchte hier aber nicht über Methoden diskutieren, sondern Ansätze und Ergebnisse darstellen, die ich im Blick auf die "Werteerziehung" in der Schule für beachtenswert halte. Das soll in zwei Schritten geschehen. Im ersten Schritt wird nach den Wertorientierungen als solchen, im zweiten nach den Sozialisationseinflüssen von Familie, Peergruppen und Schule gefragt.

Selbstbezüglichkeit des Wertens

Flexibles Werten

Die empirische Werteforschung will die Wertewirklichkeit unverfälscht abbilden. Dazu führte die Jugendstudie Baden-Württemberg-Sachsen (Jugend BW-S 1999) zwei Meinungsbefragungen zu vorgegebenen, nach theoretischen Gesichtspunkten formulierten "Sinn-Aussagen" und "Wert-Aussagen" durch, die die Befragten in eine Rangordnung bringen sollten. Die neueste Shell-Jugendstudie (Jugend 2000) nahm in ihre neue Werteliste hingegen nur auf, "was die Jugendlichen selbst für richtig und wichtig halten" (Fischer 2000a, S. 381), und ließ die Wertaussagen von den Befragten benoten. Hier wurde der Werteraum aus der Perspektive der Jugendlichen abgesteckt und gewichtet, im Nachhinein in acht Dimensionen strukturiert und im Verhältnis der Dimensionen zueinander analysiert. In der Auswertung werden die Dimensionen auch "Lebenskonzepte" genannt. Die Ergebnisse der Befragungen werden im Anhang dieses Beitrages wiedergegeben.

Zu den bemerkenswertesten Befunden der Shell-Studie gehört, "dass die Zustimmung zu einem bestimmten Lebenskonzept, etwa A (Berufszentriertheit) nicht notwendig mit der Ablehnung anderer, vermeintlich gegensätzlicher Konzepte einhergeht, dass vielmehr die Jugendlichen sich offenzuhalten scheinen und mehrere Lebenskonzeptionen gleichermaßen favorisieren, sofern diese Konzepte nicht wirklich diametral im Widerspruch stehen" (Fritzsche 2000, S. 137 f.). Den "Werte"-Dimensionen lassen sich nicht Gruppen oder Typen von Jugendlichen zuordnen; sie werden von den 15- bis 24jährigen flexibel gehandhabt. Aus den "Sowohl-als-auch"-Orientierungen der 15- bis 24jährigen schlußfolgert Fritzsche: "Es scheint, als seien ‚Werte‘ zu

(lebens-)situationsabhängigen Konzepten mutiert und hätten als situationsübergreifende und überindividuelle Entscheidungshilfen und Verhaltensprädikatoren ausgedient" (a.a.O., S. 97).

Betrachtet man die einzelnen Wertaussagen und ihre Gewichtungen, so ragen in allen Dimensionen die Zustimmungen zu den selbstbezogenen Werten vor: Die Dimension "Autonomie" erlangt insgesamt die höchsten Werte, das einzelne Item "Selbständig denken und handeln" den besten aller vergebenen Notenwerte, den Mittelwert 4,34. In den weiteren personbezogenen Dimensionen erhalten jeweils die selbstbezüglichen Items die höchsten Bewertungen: in der Dimension "Attraktivität" erhält " Spaß haben, viel erleben" den Wert 3,95, in der Dimension "Authentizität" – "so bleiben wie man ist" - den Wert 3,82 und in der Dimension "Selbstmanagement" das Item 14 - "Selbstbeherrschung" - den Wert 3,70. Die Ausdifferenzierungen des Selbstbezuges sprechen hier für ein Selbstkonzept, nach dem Jugendliche ihrem Selbstwertgefühl folgen, sich selbstbewusst darstellen und selbstverantwortlich zu behaupten suchen. Ebenso beziehen sich die Wertungen der Sinn-Aussagen der Studie "Jugend BW-S" auf selbstbezogene Items und beschreiben ein Selbstkonzept, in dem Daseinsfreude, Lebensgenuss, Erfolgsstreben und Weltoffenheit Spitzenplätze, Persönlichkeitsentfaltung und Selbstwertgefühl die fünften und sechsten Plätze einnehmen, gefolgt von Leistungsorientierung und Stressfreiheit. Die Verfasser der Studie qualifizieren die Daten als Ausdruck eines egozentrischen Wertbezuges (Jugend BW-S 1999, S. 17).

Man kann die hohe Wertigkeit der selbstbezogenen Items aber dem Umstand zuschreiben, dass heute nicht vorgegebene feste Wertorientierungen das Verhalten sichern, vielmehr die Individuen selbst die Orientierungsleistungen in den disparaten Lebens- und Handlungsbereichen erbringen. Dann wäre Flexibilität ein Orientierungsmodus des Selbst und hätte nicht zwangsläufig – wie von der Shell-Studie nahegelegt - auch die Preisgabe situationsübergreifender allgemeiner Prinzipien zur Folge.

Es fragt sich ohnehin, ob aus den Items überhaupt Rückschlüsse auf die handlungsleitende Funktion von Werten gewonnen werden können. Die Leitfunktion persönlicher Werte ist im Falle von "hilfsbereit (...) sein" oder "mit anderen teilen" eingebettet in mehr oder weniger bewussten Erfahrungen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die in persönlichen Vorstellungen von Gleichheit und Gerechtigkeit eingehen. Sie erschließt sich deshalb erst in der Bewusstmachung übergreifender regulativer Werte. Auch sind Werte, seien es allgemein ethische Werte oder operative soziale Werte miteinander zu justieren: "den Mut haben, nein zu sagen" kann gar nicht als selbstständiger Wert für sich allein gelten, weil das Wozu des Mutigseins unbestimmt bleibt. Die tatsächliche handlungsleitende Funktion eines persönlichen Wertes wird der Person erst einsichtig, wenn sie in ihrem Handeln einen solchen Wert verfehlt oder nicht aufrecht zu erhalten vermag oder aber wenn sie ihm trotz konkurrierender Bedürfnisse und Interessen verpflichtet bleibt.

Individuierte Moral

Für die Annahme, dass flexibles, subjektives Werten durch regulative Werte gewissermaßen vorgesteuert wird, spricht der in den zwischenmenschlichen Beziehungen kaum umgehbare Anspruch, moralisch zu handeln, moralisches oder unmoralisches Handeln zu rechtfertigen, gegebenenfalls auch, moralische Urteile zu objektivieren. Zwar sind junge Leute vom Nutzen moralischen Verhaltens in unserer Gesellschaft wenig überzeugt (Jugend BW-S 1999, S. 21; 18 Prozent in Baden-Württemberg, 10 Prozent in Sachsen), auch steht es jedem frei, moralisch sein zu wollen, doch die Geringschätzung der Moral in der Öffentlichkeit muss nicht auch die Moralität der Person verstummen lassen. Wie also geht die junge Generation heute mit Moral um?

Verschiedene Untersuchungen über moralisches Regelwissen und Moralvorstellungen bestätigen den im Alltag unübersehbaren Generationsunterschied: Ethische Prinzipien werden in der Praxis junger Leute keineswegs mehr mit der Konformität angewendet, wie es an Konventionen gebundene älteren Leute noch zu tun pflegen. In dem Forschungsprojekt "Moralvorstellungen im Wandel" kann Nunner-Winkler (1999 c) eine entsprechende Veränderung des Moralverständnisses nachweisen: Der Schwund von Sprichwörtern, den Durkheim schon um die Jahrhundertwende beobachtete, die Ausklammerung von Sachverhalten wie Sexualität aus der Moral, die Sensibilisierung für das Vermeiden von Schädigungen und die extensive Interpretation von Gleichheit zeigen, dass moralische Regeln zunehmend weniger als strikte Verpflichtung und zugunsten einer "kontextsensitiven Anwendung allgemeiner Prinzipien" (a.a.O., S. 24) verstanden werden. Die Veränderungen implizieren nicht die Preisgabe von ethischen Prinzipien, wohl wandelt sich der Charakter von Moral: "Allmählich wird der deontologische Diskurs durch eine empirisch orientierte utilitaristische Debatte abgelöst, bis die Frage schließlich nicht mehr dem moralischen, sondern dem persönlichen Bereich zugerechnet wird. Ein moralisches Problem taucht dann nur noch im Falle negativer Folgen für Dritte auf" (a.a.O., S. 21). Die Orientierungsmöglichkeiten bewirken eine wachsende Varianz im moralischen Engagement: Während die älteren Befragten "eher durchgehend eine konformistisch-konventionalistische Orientierung" vertreten, zeigt ein Teil der jüngeren "eine hohe moralische Sensitivität", ein anderer Teil eher "offen moralische Indifferenz" oder gar eine "amoralische Haltung" (a.a.O., S. 11).

Mit dem Wandel der Moralvorstellungen verschiebt sich auch das Verhältnis von Person und Moral, das Nunner-Winkler anhand sprachlicher Äußerungen der Befragten erfasst: Die standardisierte moralische Sprache der älteren Generation und die auf verinnerlichte Selbstzwänge abhebenden Formulierungen der mittleren Generation werden bei Jugendlichen durch "ich-nahe Erwägungen mit einer besonderen Betonung von Bedauern und Reue" abgelöst (Nunner-Winkler 1999 b, S. 23.). Dieser Modus moralischer Motivation zeige, "dass die Person die Einhaltung der ihr einsichtigen moralischen Maximen als bejaht und selbst gewollt versteht" (a.a.O., S. 24), sich also freiwillig an moralische Prinzipien bindet.

Gegenüber der Moral scheinen sich junge Leute nicht anders zu verhalten wie im allgemeinen Umgang mit Werten: Welche moralischen Gebote anerkannt, ob und aus welchen Motiven sie realisiert werden, ist in die Eigenregie der Individuen übergegangen, die "an einer flexiblen kontextsensitiven Normanwendung" (Nunner-Winkler 1999 c, S. 3) interessiert sind. Die Vermutung, dass "konkret ereignisbezogene Entscheidungen (...) prinzipiengeleitete ersetzen (werden) – nicht immer, aber immer öfter" (Fritzsche, S. 155), trifft allerdings nicht auf den moralischen Bereich zu. Hier setzt die Selbststeuerung ein abstrakteres Moralverständis voraus, in dem die Prinzipien der "Gleichheit und Schadensvermeidung" (Nunner-Winkler 1999 c, S. 4) Vorrang gewinnen. "Die konkreten moralischen Regeln, die aus den Grundprinzipien abgeleitet werden, sind nur prima facie gültig" (a.a.O., S. 4).

Weil sich die Selbstbezogenheit durchgängig als zentrales Bestimmungsmerkmal allen Wertens erweist, ist zu vermuten, dass sie sich auch auf die Reichweite der Wahrnehmung wertrelevanter Sachverhalte erstreckt.

Soziale und gesellschaftliche Orientierung

Sind die jungen Leute, weil sie sich auf sich selbst beziehen, weniger sozial eingestellt und weniger bereit, sich gesellschaftlich zu integrieren? Der Frage greift die wohl brisanteste Hypothese der Wertewandelforschung auf. Wie beschreiben die Shell-Studie und die Länderstudie Baden-Württemberg-Sachsen den Zusammenhang von Selbst-, Sozial- und Gesellschaftsorientierung?

Unter den neunzehn Sinn-Aussagen der Länder-Studie (s. Liste Jugend BW-S 1999) nehmen die familienbezogenen Fürsorglichkeiten mittlere Rangplätze, die allgemeinen Sozial- und Gesellschaftsbezüge die hinteren Plätze der Rangordnung ein: Ein Drittel, der geringere Teil der jungen Erwachsen, sieht einen Lebenssinn darin, sich sozial zu engagieren oder für gesellschaftsverbessernde Ideen einzusetzen. In der Befragung zum moralischen Wertverständnis (Jugend BW-S; Leitwerte des Lebens) hingegen nimmt die Tugend "Hilfsbereitschaft" unter elf Werten einen vierten Rang ein - nach Humor, Aufrichtigkeit und Optimismus. Die Diskrepanz der Wertungen in beiden Befragungen geht auf semantische und perspektivische Probleme der empirischen Werterfassung zurück: Wer würde nicht mit seiner Zustimmung zögern, "ganz für andere da zu sein", und nicht ebenso bereitwillig die Tugend "Hilfsbereitschaft" persönlich bejahen! Im ersten Fall wird eine Meinung zu einer herausfordernd formulierten Sinnoption erfragt, im zweiten Fall eine Komponente des persönlichen Selbstkonzeptes. Dazu lässt sich auch die Shell-Studie heranziehen, wonach sich die Befragten ebenfalls ihren nächsten Angehörigen in besonderer Weise verbunden fühlen. Die weitergehenden Tugenden der "Menschlichkeit" wie Hilfsbereitschaft, Teilen und Akzeptanz des Anderen werden mit Mittelwerten zwischen 3,98; 3,76 und 3,88 benotet und durchweg höher eingestuft als die auf Äußerlichkeiten bezogenen Aussagen, die technischen Fähigkeiten und die konventionellen Sekundärtugenden. So betrachtet, scheint mit dem Selbstbezug eine intrinsisch motivierte Sozialbindung einherzugehen, der ein höherer Stellenwert beigemessen wird als den äußeren oder konventionellen Verhaltenserwartungen. Konzentrieren sich die für das Selbstkonzept zentralen Verpflichtungen auf die unmittelbare soziale Umwelt, dann ist zu erwarten, dass die anderen, persönlich nicht unmittelbar relevanten Lebensbereiche weniger ins Blickfeld geraten.

Wichtigstes Bindeglied von Selbst und Gesellschaft ist in den Lebensentwürfen der Befragten der Beruf (Shell-Studie). In der eigenen Lebensplanung wird der Beruf – ebenso wie die Familie (Fritzsche 2000, S. 112 f.) – nicht mehr als lebenslanges Ideal, somit weniger nach tradierten normativen Vorstellungen interpretiert. Vielmehr betrachten die jungen Leute den Beruf als ein selbstgewähltes Lebenskonzept, "für das man sich persönlich einsetzen muss" (Fischer u.a. 2000, S. 15; Fritzsche 2000a, S. 192-198; Fuchs-Heinritz 2000, S. 50-55), nicht weil ein Berufsethos, sondern die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt den Einsatz verlangen. Außerhalb des beruflichen Bereiches äußert sich die Distanz der Jugendlichen zu den gesellschaftlichen Institutionen in einem nach wie vor geringen Organisationsgrad (siehe Fischer 2000, S. 270-278). Gleichwohl scheint ein großer Teil der Befragten die für gesellschaftliche Aktivitäten erforderlichen Voraussetzungen wie Konfliktfähigkeit, Argumentationsfähigkeit und Selbstbehauptung mitzubringen, aber sie werden nicht auf den gesellschaftlichen Bereich bezogen: Die Aussage "etwas für die Gesellschaft zu leisten" erhält einen geringen, in der Dimension "Menschlichkeit" den geringsten Mittelwert: 3,23. Die Distanz zur Gesellschaft zeigt sich eindeutiger noch in der Dimension "Modernität", in der der Technologie und der Politik "eine Schlüsselrolle in der Bewältigung von Modernisierungsaufgaben zugeschrieben wird" (Fritzsche 2000, S. 102). Hier befürworten die Befragten den Umgang mit der Technik mit den Mittelwerten 3,55 und 3,43. Doch scheinen sie wenig geneigt zu sein, die gesellschaftlich-politische Steuerung der Technologieentwicklung durch eigenes Engagement zu unterstützen: Das Interesse für Politik erhält den Mittelwert 2,87, das politische Verständnis 3,16 und "Ämter in wichtigen Organisationen zu übernehmen" den geringsten Wert aller Skalen: 2,54. Das politische Verständnis scheint ein Bewusstsein davon auszudrücken, dass die Lebensverhältnisse von der Politik mitbestimmt sind. Sich deswegen aktiv zu beteiligen, wird jedoch nicht für so notwendig gehalten.

Die Distanz zwischen der persönlichen Lebensgestaltung und den gesellschaftlichen und politischen Lebensbereichen wird an anderer Stelle der Shell Studie eingehender analysiert (Fischer 2000, S. 261-282). Dort wird wieder einmal der seit der frühen Wertewandelforschung unausrottbare Eindruck erweckt, dass das Phänomen ein jugendtypisches ist. Die Frage der Nähe und Ferne zur Politik ist generell aber keine generationsspezifische Frage: Den politischen Einfluss schätzen 18- bis 34jährige nicht pessimistischer ein als ältere Altersgruppen, die ebenfalls der Politik die geringste Bedeutung unter den relevanten Lebensbereichen beimessen (Statistisches Bundesamt 1999, S. 451; siehe auch Gaiser u.a. 2000, S. 21). Allerdings dürften die Altersgruppen unterschiedliche Beweggründe haben für ihr distanziertes Verhältnis zur Politik.

Die Geringschätzung der gesellschafts- und politikbezogenen Statements kontrastiert auffällig mit den hochbewerteten selbst- und sozialbezogenen Aussagen, so dass man die Daten als ein Auseinanderdriften von Selbst- und Sozialorientierung und Gesellschaftsorientierung interpretieren kann. Unter dem Selbst-Bezug werden die eigenen Handlungspräferenzen und Einflussmöglichkeiten in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Gegebenheiten reflektiert: So können die auf zwischenmenschliche Beziehungen fixierten Werthaltungen als nicht vereinbar erscheinen mit den undurchschaubaren und unzugänglichen Entscheidungsstrukturen komplexer gesellschaftlicher Organisationen; auch kann ein Ohnmachtsgefühl gegenüber den Eigengesetzlichkeiten und Sachzwängen von Problemlagen und Problemlösungen die Überzeugung nähren, keinen Einfluss auf die Politik zu haben oder wenig bewirken zu können. Unter dem Systembezug bewerten die jungen Leute die Vertrauenswürdigkeit der Politik, die sie aufgrund ihrer berufsbiografischen Erfahrungen an politischen Erfolgen oder an der Offenheit der Politik für ihre Wünsche und Bedürfnisse messen. Das politische Vertrauen dürfte in hohem Maße von der Diskrepanz zwischen den Ansprüchen und den realisierten Lebensbedingungen abhängen, ist also abhängig von der Wahrnehmung und Bewertung der aktuellen Politik (Fischer 2000, S. 263).

Wie immer die internen und externen Beweggründe zu gewichten sind: Junge Leute, die Belange ihrer Lebensführung nicht mehr nach vorgegebenen Orientierungen und Sicherheiten verfolgen können, sondern diese in eigene Regie übernehmen müssen, beanspruchen auch für ihre gesellschaftliche Teilhabe Autonomie und zwischenmenschliche Verbindlichkeit.

Werteentwicklung und Sozialisation

Ungleichheit und Gleichheit in der Familie

Betrachtet man die Werte- und Moralentwicklung unter dem Gesichtspunkt der Sozialisation, dann denkt man in erster Linie an die Familie: In der emotionalen Verbundenheit mit den ihm überlegenen Eltern erfährt das Kind, was verboten, was erlaubt und was geboten ist, was zu beanspruchen und was ihm zu gewähren ist. Kinder übernehmen jedoch nicht einfach die normativen Standards ihrer Eltern, sie nehmen sie als mehr oder weniger herausfordernde Impulse wahr, die sie zunehmend bewusster mit den außerhalb der Familie gewonnenen Erfahrungen vergleichen, auf die eigenen inneren Voraussetzungen abstimmen und in einem dynamischen Entwicklungsprozess subjektiv differenzieren und modifizieren. In dem asymmetrischen Beziehungsgefüge der Familie müssen also über den gesamten Entwicklungsverlauf eines Kindes fortwährend dessen Autonomiestreben, die Verbundenheit mit den Eltern und deren Autorität austariert werden. Gelingt das gegenseitige Ausbalancieren in wechselseitiger Verständigung, so beobachten und erleben Kinder Verhaltensweisen der Achtung und Gleichheit. Diese sind konstitutiv für ein autonomes Wert- und Moralverständnis und für eine Motivstruktur, die Nunner-Winkler "freiwillige Selbstbindung aus Einsicht" nennt (Nummer-Winkler 1999 a, S. 303). Wie aber sind die familialen Voraussetzungen zur Förderung einer entsprechenden Moralentwicklung einzuschätzen? Man kann wohl davon ausgehen, dass nicht nur im Zuge der fortschreitenden sozialen Differenzierung, sondern vor allem auch mit fortschreitender Realisierung der Gleichheitsrechte für Frauen und der Individualrechte der Kinder "die Beziehungen in der Familie egalitärer (wurden)" (a.a.O.). Auch der Wandel im Moralverständnis, in dem konventionelle Normen ihre Verbindlichkeit verlieren zugunsten universeller Normen, dürfte sich in der Familie in einem Erziehungsverständnis niederschlagen, das Gleichheit und Gegenseitigkeit, Autonomie und Freiwilligkeit befürwortet. Wie diese Komponenten eines autonomen Wert- und Moralbewusstseins in der Erziehungspraxis vermittelt und erworben werden können, lässt sich aus den verschiedenen sozialisations- und entwicklungstheoretischen Ansätzen der Familienforschung (Nunner-Winkler 1999a, Montada 1990, Schneewind 1990, Kreppner 1991) ableiten. Ich möchte hier einige Erkenntnisse thesenartig zusammenfassen.

Gleichheitserfahrungen in der Familie

Kinder erwerben in der Dynamik des Familienlebens offensichtlich durch Beobachtung wirksamer Modelle elementare Verhaltensschemata: Basiert das Rollenverständnis von Eheleuten untereinander auf wechselseitiger und gleicher Achtung, so erfährt das Kind das Grundschema egalitärer Beziehung: Kinder, so stellt Nunner-Winkler in ihrer Untersuchung fest, die in der Verständigung von Vater und Mutter ruhige, rationale, gelassene und kompromissbereite Verhaltensweisen erleben, zeigen eine deutliche Tendenz zum Aufbau einer ich-nahen moralischen Motivation. Dominanzverhalten, Unnachgiebigkeit und affektive Unkontrolliertheit tragen eher zur Entwicklung einer amoralischen Haltung bei (Nummer-Winkler 1999 a, S. 320 f.). In der asymmetrischen Struktur der Eltern-Kind-Beziehung drückt sich das rational-egalitäre Muster in einem Verhalten aus, das die Individualität des Kindes im Zuge der Entwicklungsmöglichkeiten und -schritte achtet und ausgleichend auf das Kind einwirkt. Das Kind erfährt trotz der Asymmetrie im Verhältnis zu den Eltern nicht nur zunehmend seine eigene Gleichwertigkeit, es wird in eine Praxis eingeführt, in der Gleichachtung in flexibel abgestimmten

Verhaltensweisen wirksam realisiert wird. Kinder erwerben also bereits in der Familie zentrale Elemente modernen Wert- und Moralbewusstseins.

Freiwilligkeit

Eine affektiv warme Eltern-Kind-Beziehung schafft ein Gleichgewicht zwischen dem Gefühl sicherer Geborgenheit und der Akzeptiertheit, die offen ist für Individualität, Wahlfreiheit und Autonomie des Kindes. In der Geborgenheit gewinnt das Kind Vertrauen in die Verlässlichkeit der Welt. So werden Spielräume gewährt, in denen das Kind lernt, Schwierigkeiten zu meistern. Die Akzeptanz der Individualität und der Autonomie des Kindes ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass das Kind in den interindividuellen Bezügen und aus seinen eigenen inneren Befindlichkeiten heraus ein subjektives Bedürfnis vernimmt, sich selbst aus Einsicht in die Geltungsgründe einer Norm freiwillig zu deren Einhaltung zu verpflichten (Nunner-Winkler 1988, S. 207). Mit den kognitiven und sozio-emotiven Veränderungen im Jugendalter sucht das Kind die Spielräume, in denen einerseits die Selbstentfaltung und die Verbundenheit mit den Eltern ausbalanciert werden und andererseits Unabhängigkeit und Freiwiligkeit zum Zuge kommen können, zu erweitern. Das gelingt nur bei einer komplementären "Zurückhaltung" der Bindungserwartung der Eltern. Neben den engen Beziehungen zu den Eltern wird der vertrauliche Austausch mit Gleichaltrigen, vor allem mit Freunden, zunehmend wichtiger für die Entwicklung des moralischen Selbst.

Verstehen und Verständigen

Die Förderung selbstbestimmten Verhaltens hängt von den Erziehungsstilen der Eltern ab. Eltern praktizieren unterschiedlichste Mischungen von Fürsorglichkeit und Autorität, wechselseitiger Achtung und Dominanz, Großzügigkeit und Strenge. Bekanntlich führen elterliche Strenge, die sich in Bösewerden, Schimpfen, Schläge u.a. äußern kann, zur Verbotsorientierung, zu Ängstlichkeit und Konformität, die eine Anbahnung intrinsischer Motivation behindern. Wenn Lob und Tadel sich nicht in konditionierender Normvermittlung erschöpfen sollen, müssen sie ein sinnerschließendes Lernen des Kindes aktivieren. Eigenaktivität und Reflexivität der Kindes werden in einem fordernden und ermutigenden Erziehungsstil der Eltern gestärkt, der es vermeidet, Erziehungsergebnisse vorzugeben und direkt anzugehen. Förderlich ist ein induktives Erziehungsverhalten, das sich auf das sozio-moralische Verstehensvermögen des Kindes einlässt und situative Chancen nutzt, durch "argumentatives Räsonieren" im Kind Verständnis für den Sinn moralischer Regeln zu wecken (Nunner-Winkler 1999 a, S. 311).

Wirksamkeitsgefühle

In jeder Altersphase konfrontieren Kinder - auch kraft eines eigenen Repertoires retroaktiver Einflusstechniken - ihre Eltern mit "abweichenden" Ansichten und Wertungen. Ob es um Strafanlässe und Strafmaße, um Modekleidung oder Handy, um die Ausgeherlaubnis, sexuelle Normen oder den Urlaub mit Freund oder Freundin geht, hier sind es meistens die Kinder oder Jugendlichen, die bei ihren Eltern Abwehr-, aber auch Fragehaltungen auslösen, in manchen Belangen gar einen Wandel der Einstellungen bewirken. Wenn in die familiale Sphäre gelegentlich doch ethische Themen hineingetragen werden und wenn ihnen dann auch nicht die wünschenswerte Intensität der Bearbeitung zuteil wird, sind es doch die Heranwachsenden, die ihr idealistisches Sensorium für moralische Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft in der Familie oder unter ihresgleichen zur Sprache bringen.

Soweit die Theorie. Wie stellt sich der plausibel erscheinende Entwicklungszusammenhang zwischen einer auf wechselseitiger Achtung beruhenden, individuellen Erziehung und einem autonomen Wertverständnis nun in den empirischen Befunden dar?

Dass sich Gleichheitserfahrungen in den Beziehungen der Eltern auf die moralische Motivation der Kinder positiv auswirken (Nunner-Winkler 1999 a), wurde oben bereits erwähnt. Für andere Aspekte eines förderlichen Zusammenhangs von Erziehung und Werteentwicklung können Befunde der Shell-Studie über das Erziehungsverhalten, das in der Einschätzung durch die befragten Jugendlichen erfasst wird, herangezogen werden (Fuchs-Heinritz 2000, S. 73-92): Wichtigste "wertbildende" Erziehungsstile sind das "Elterliche Zutrauen in das Kind" (für die Dimensionen Autonomie, Berufsorientierung, Familienorientierung und Menschlichkeit), "Respektvolle Verbundenheit zwischen Eltern und Kind" (für Selbstmanagement, Familienorientierung), "Elterliche Leistungsforderung" (für Selbstmanagement, Modernität und Berufsorientierung), "Verständnisvolle Anteilnahme" am Geschick des Kindes und "Eigenständigkeit des Kindes" (für Selbstmanagement und Modernität), hingegen haben "Großzügige Erfüllung materieller Wünsche" und "Ängstliche Besorgtheit" kaum Einfluss auf die Werteentwicklung.

Wie steht es nun um das Erziehungsverhalten im Familienleben? Die Frage lässt sich eigentlich nicht, wie die Werteforschung verfährt, allein von außen, also nur aufgrund der Erziehungsauffassungen von Eltern oder den Einschätzungen des elterlichen Erziehungsverhaltens durch deren Kinder, beantworten.

Langfristig haben sich in den Erziehungskonzepten gravierende Veränderungen durchgesetzt: Für die vergangenen fünfzig Jahre stellt Klages (1998, S. 702) einen klaren Trend weg von "Gehorsam und Unterordnung", "Ordnungsliebe und Fleiß" hin zum Erziehungsziel "Selbstständigkeit und freier Wille" fest. Demnach müssten im Zuge dieses Wandels erzieherischer Vorstellungen auch die Beziehungen in der Familie egalitärer und die Eigenrechte des Kindes gestärkt worden sein. Tatsächlich scheinen aber bei weitem nicht alle Kinder unter diesen Bedingungen aufzuwachsen. Nunner-Winkler beobachtet im Vergleich der Verhaltensmuster von Eltern verschiedener Generationen unter den jüngeren Kohorten einen Anstieg der Familien, "in denen unnachgiebig rechthaberisch um Dominanz gekämpft wird" (Nummer-Winkler 1999 a, S. 326). In den subjektiven Meinungen der Jugendlichen, die sich in der Shell-Studie über ihr Verhältnis zu ihren Eltern äußern, finden sich erhebliche Varianzen in der Bewertung der verschiedenen Dimensionen des Erziehungsverhaltens der Eltern. Dass Eltern ihre Erziehungsstile nur schwerfällig ändern, zeigt die Sachsen-Studie (Jugend Sachsen 1999, S. 100 ff.), die die 15- bis 27jährigen seit 1993/94 nach ihrer Einschätzung der emotionalen Zuwendung und Anforderungsintensität der Erziehung im Elternhaus befragt: Ein zwischen diesen beiden Polen vermittelnder "reifer Erziehungsstil" hat wenig zugenommen und wird 1999 von 40 Prozent der Befragten genannt, 43 Prozent vermissen wie in den Jahren zuvor deutliche Forderungen ihrer Eltern, 5 Prozent den emotionalen Rückhalt und 12 Prozent sehen sich der Gleichgültigkeit ausgesetzt.

Der Zusammenhang zwischen entwicklungsförderlichen Aspekten des Familienlebens und eines autonomen Verständnisses von Werten und Moral ist offensichtlich, wo Erziehung auf gleicher Achtung, auf Verständigung und Freiwilligkeit setzt. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass in der Selbstbezüglichkeit des Wert- und Moralverhaltens ethische Prinzipien der Gleichheit und der gleichen Achtung verinnerlicht werden und zum Selbstbild gehören. Viele Jugendliche wachsen jedoch in Eltern-Kind-Beziehungen auf, denen es nicht gelingt, Autonomie und Verbundenheit in gegenseitigem Verständnis über die Entwicklungsspanne des Kindes hinweg auszubalancieren. Häufig ist Erziehung dann einseitig an die elterliche Autorität, an konventionelle Gebote und Verbote und instrumentelle Sanktionierung gebunden. Kinder erhalten dann auch kaum Gelegenheit, ihre eigenen Belange und die der Eltern flexibel je nach Kontextbedingungen auszuhandeln. Für sie werden die egalitären Beziehungen der Gleichaltrigen besonders wichtig.

Selbstbezogenheit der Gleichaltrigen

Kinder gewinnen in der Gleichaltrigengruppe emotionale Unabhängigkeit von den Eltern, gleiche Chancen im Aushandeln ihrer Belange und große Spielräume, ihr Selbst im Verhältnis zu anderen zu bestimmen. Die prinzipielle Gleichheit der Altersgleichen ermöglicht es ihnen, unabhängig von Autorität und Tradition Regeln als gegenseitige Vereinbarungen zu entwerfen, sie freiwillig zu akzeptieren und flexibel mit ihnen umzugehen. Im Jugendalter wird dann die prinzipielle Gleichheit zugunsten der Souveränität, der Anerkennung und Verteidigung des Selbst relativiert und durch das Prinzip der gleichen Achtung der Person ergänzt.

Wie wichtig die Selbst- und Sozialerfahrungen der Gleichaltrigen, insbesondere der Freunde sind, zeigt sich in der Shell-Jugendstudie in den "sehr eindeutige(n) und klar gerichtete(n) Zusammenhänge(n)" zwischen Freundschaft und den Wertedimensionen Autonomie, Menschlichkeit, Modernität, und Attraktivität (Fritzsche 2000, S. 125). Die Werteentwicklung in diesen Dimensionen scheint sogar stärker von den Freundschafts- als von den Elternbeziehungen abzuhängen (a.a.O., S. 126). Offensichtlich erhält die Entwicklung von Selbstständigkeitsansprüchen und sozialen Selbstverpflichtungen in der Beziehungsstruktur von Gleichheit und gleicher Achtung stärkere Impulse als in dem von Ungleichheit bestimmten Beziehungsgefüge der Familie. Während Kinder und oft auch noch Jugendliche dazu neigen, sich in hierarchischen Beziehungen zum Beispiel Verhaltenserwartungen ihrer Eltern - sei es aus Gehorsam, Liebe oder Konfliktvermeidung - anzupassen, nutzen sie die symmetrischen Beziehungen der Altersgleichen dazu, ihre Belange untereinander freier und gleicher zu verhandeln und ausgleichende, wechselseitig akzeptable Formen sowohl des Miteinanders, wie auch des Neben- und Gegeneinanders zu praktizieren. Die auf Gleichheit und gleicher Achtung beruhenden Vereinbarungen sichern Spielräume, in denen Kinder und Jugendliche die Sicherung ihres Selbst erproben und ihre moralischen Motive explorieren können.

Dass Gleichaltrige die Entwicklung freiwilliger moralischer Selbstbindung begünstigen, ist verschiedentlich untersucht worden. Insbesondere hat die Freundschaft eine herausragende Bedeutung für die Entwicklung eines moralischen Selbst: Eng befreundete Jugendliche lernen voneinander, Verpflichtungen als persönliche Verbindlichkeit zu verstehen, freiwillig anzunehmen, Verantwortung für ihre Handlungen anzuerkennen und moralische Konsistenz zwischen seinem Urteil und seinem Handeln herzustellen (Keller u.a. 1993, S. 329).

Der Freundeskreis scheint der vorzüglichste Ort wert- und moralbezogenen Lernens zu sein, weil Jugendliche unter den Bedingungen der Altersgleichheit sich ihres Selbsts bewusst werden und ihre Souveränität behaupten können und im wechselseitigen Austarieren ihrer Persönlichkeiten das moralische Prinzip der gleichen Anerkennung erzeugen. Aber Freundschaften und Freundeskreise sind Mikrokosmen, die eingebettet sind in die mächtige Gesellschaft der Jugend. Vergegenwärtigt man sich die heutigen Lebensformen von Jugendlichen (hierzu: Sander 2000), so treten andere, einflussreiche Aspekte der Werteentwicklung zutage.

Jugendliche sind heute - oft auch zwangsweise über eine lange Lebensphase ökonomisch unselbstständig, sie werden versorgt, sind frei von Verantwortlichkeiten des Arbeits-, Ehe und Familienlebens und genießen - auch in bescheideneren Lebensverhältnissen – große Freiheiten in ihrer eigenen Lebensgestaltung. Sie wählen individuell ihre Freunde, mit denen sie ihre persönlichen Belange und die gesellschaftlich erzeugten Probleme ihrer Lebensverhältnisse erörtern und bewerten, sie nutzen gemeinsam Fernsehen, Computer, Internet und Freizeitangebote; sie entscheiden frei über ihre sexuellen Bindungen, sie verbessern ihre Kaufkraft durch Gelegenheitsjobs, organisieren sich selbst, beziehen einen eigenen Wohnbereich. Im Zuge dieser Verselbstständigung vollzieht die Jugend, was sich in der Gesellschaft insgesamt vollzogen hat: Die Jugendkultur ist in vielerlei Jugendkulturen ausdifferenziert und die Jugendlichen selbst pflegen gruppenspezifische Lebensstile und persönliche Ausdrucksformen.

Sie verfügen in der Wirtschaft und in den Medien über öffentliche Foren: Als Konsumentengruppe sind sie heiß umworben und werden vielseitig bedient. Die Fernsehsender überbieten sich geradezu darin, sich der Anliegen und Probleme der jungen Leute anzunehmen, sie bilanzieren nicht nur die heterogenen Meinungsmuster jugendlicher Gruppen und einzelner Jugendlicher aus der Perspektive der Jugend, sondern beziehen Jugendliche unmittelbar persönlich als Gesprächspartner in die kommunikativen und ästhetischen Inszenierungen der Medien selbst ein, die weniger auf sachlich-qualitative Informationsvermittlung gerichtet sind und die Selbstbezogenheit der Jugendlichen sozial verstärken.

Unter den homogenisierenden Bedingungen der Kommerzialisierung und Mediatisierung der Lebenswelten und dem Eigenleben der Cliquen tendieren Jugendliche dazu, ihr Autonomiestreben, ihre Bindungsbereitschaften und Verpflichtungen auf ihre Jugendkultur auszurichten und in ihrer Selbstbezogenheit andere Lebensbereiche wahrzunehmen und zu bewerten. Die Eigenkultur wird schließlich auch zum dominanten Filter der Wahrnehmung gesellschaftlicher Belange, zumal wenn diese in den Medien aus der Perspektive und für das Selbstverständnis der Jugendlichen reproduziert werden.

Wie mächtig dieser Einfluss auf der individuellen Ebene wirksam wird, hängt natürlich von der Persönlichkeit des Jugendlichen, von seinem sozialen Rückhalt in der Familie und in engen Freundschaftsbeziehungen und schließlich von seiner schulischen und beruflichen Integration ab.

Gesellschaftsferne in der Schule

Welche Wirkungen Schule und Unterricht in der Werteentwicklung zeitigt, ermittelt die Jugendstudie "Jugend in Sachsen-Anhalt" (1998, S. 88-91, S. 108, S. 131). Die 18- bis 27jährigen Befragten, die alle ihre Schulzeit in der DDR begonnen, aber mehrheitlich in der Bundesrepublik erst beendet und den Wandel der Institution Schule erlebt haben, schreiben der Schule neben dem Elternhaus und dem Freundeskreis einen deutlichen Einfluss auf wert- und moralbezogene Komponenten ihres Verhaltens zu (nach Abbildung 7.2, a.a.O., S. 91):

Schulisch vermittelte Verhaltensweisen

Befragte mit Schulabschluss

Werte, Tugenden, Verhaltensweisen nach der Wende vor der Wende

(sehr gute und gute Bewertungen) (von Hundert) (von Hundert)

Herausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins 62 39

Orientierung am Erfolg 59 39

Fähigkeit zu kooperativer Arbeit 56 60

Einschätzung der eigenen Leistung 55 50

Gleichberechtigung 47 52

Herausbildung eines gesunden Selbstbewusstseins 42 39

Fähigkeit, gesellschaftliche Probleme zu beurteilen 42 27

Mut zum Widerspruch 38 32

Vermögen, sich durchzusetzen 36 34

Verständnis von Demokratie 33 22

Verantwortung jüngerer Menschen für Ältere 26 43

Bereitschaft, sich gesellschaftlich zu engagieren 22 36

Bereitschaft, Bedürftigen zu helfen 21 35

 

Wenn die Schulabgänger vor und nach der Wende das schulische Wertelernen in nahezu jeder Hinsicht unterschiedlich gewichten, dann verfügt die Institution Schule über ein erhebliches Steuerungspotential, auch wenn hier zu beachten ist, dass dessen Wirksamkeit durch die Nachwendezeit mitbedingt sein dürfte. Auffällig sind die erheblichen Zuwächse in den Komponenten "Meinungsbildung" und "Erfolgsorientierung" und der ebenso starke Schwund des sozialen und gesellschaftlichen Engagements. Die Förderung der Meinungsbildung und korrespondierender Urteilsfähigkeiten ist wohl in erster Linie auf den Schulunterricht zurückzuführen, während die sozialen und gesellschaftlichen Werte eher auf Veränderungen des Schullebens hinweisen.

Im folgenden soll der Einfluss der Schule auf die Vermittlung gesellschaftsbezogener Werte betrachtet werden. Unter den Sozialisationsinstanzen ist sie diejenige, die über die Persönlichkeitsbildung hinaus insbesondere auf das gesellschaftliche Leben vorbereitet. Welche Möglichkeiten hat die Schule, die gesellschaftliche Integration vorzubereiten oder auch in der Institution selbst zu realisieren? Unter diesem Gesichtspunkt seien hier drei schulische Dimensionen angesprochen: Schule als Institution, Schüler-Lehrer-Interaktion und Unterricht.

Die gesellschaftliche Integration wird in der Institution Schule in vielfältiger Hinsicht verstanden: Sie ist nicht alleine auf die berufliche Leistungserbringung im fachlichen Lernen ausgerichtet, sondern bietet vielseitige Förderungsmöglichkeiten für Leistungen unterschiedlichster Art : kreative, musische, unternehmerische, soziale und allgemeine gesellschaftliche Leistungen. Zu den sozialen Leistungen zählen aufgabenbezogene, arbeitsteilige Mitverantwortlichkeiten, die Schüler bei der Unterrichtsplanung und –gestaltung übernehmen können, ihre Selbsttätigkeiten in der fachlichen und fächerübergreifenden Gruppen- und Projektarbeit und die außerhalb des Unterrichts in eigener Regie realisierbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Unternehmungen. Das egalitäre Prinzip, auf dem die arbeitsteilige Aufgabenverantwortung der Altersgleichen beruht, ist besonders geeignet, das Zusammenleben in der Gruppe oder Gemeinschaft unabhängig von der Autorität der Erwachsenen zu regeln. In der "Just Community" nach Lawrence Kohlberg stellen Schüler nach ihrem Ermessen begründete und verbindliche Regeln des Zusammenlebens auf, die jedem einzelnen Verhaltenssicherheit geben und bei Zuwiderhandlungen die Gewähr, dass der Betroffene von Seinesgleichen beurteilt und gegebenenfalls gerecht bestraft wird. Das Konzept des gemeinschaftlichen Gerechtigkeitslernens kann vielfältige Formen annehmen und in Gestalt von Fairness- und Schlichtungskomitees, jahrgangsübergreifender und gesamtschulischer Gerechtigkeitsgemeinschaften realisiert werden.

Die in Schulen offensichtlich noch zu selten praktizierten Formen eines solchen Lernens sind zweifellos geeignet, die freie Willensbildung in einer versachlichten gesellschaftlichen Kooperation einzuüben. Allerdings bleibt fraglich, ob sie auch die verschiedentlich registrierte und unter Schlagwörtern wie "Politikverdrossenheit" beklagte Distanz der Jugendlichen zu großen Organisationen, staatlichen Institutionen und ihnen gemäßen Formen der gesellschaftlich-politischen Beteiligung zu reduzieren vermag. Erfahrungsgemäß sind nur wenige Schüler bereit, sich in der Schule oder übergeordneten Gremien für die Interessenvertretung der Schüler zu engagieren. Schüler begreifen, wie die obigen Daten der Jugendstudie Sachsen-Anhalt zeigen, die Schulbildung als Vorbereitung auf das Erwerbsleben; nur wenige Schüler schätzen die schulischen Möglichkeiten des sozialen und demokratischen Lernens. Unabhängig davon machen die wenig Engagierten allzu oft die Erfahrung, dass sich ihre Mitwirkung in den Gremien und Entscheidungsprozessen der Schule mangels Effizienz kaum lohnt. Die meisten Schüler verlassen also die erste Institution, die sie in ihrem Leben durchlaufen haben, ohne sich innerhalb der Struktur der Schule mit den Prinzipien der Sachlichkeit und der Arbeitsteilung, der Gleichberechtigung und Mitverantwortlichkeit unmittelbar vertraut gemacht zu haben. Ihre Schule erleben sie als notwendige, sinnvolle, zuweilen sogar unterhaltsame Einrichtung, nicht aber als eine gesellschaftliche Institution, die ihre Eigengesetzlichkeiten mit einer produktiven Teilhabe ihrer Mitglieder verbindet. Erst in der aktiven Mitarbeit in einer gesellschaftlichen Organisation wird jedoch erfahrbar, dass für die Allgemeinheit zu regelnde Sachverhalte ab einer bestimmten Stufe nicht mehr in direkter Kommunikation der Bürger verhandelt werden können und einer neutralen Bearbeitung unter einer amtlichen Autorität bedürfen, dass die Vorgänge gleichwohl allen Beteiligten transparent sein müssen und dass diese durch ihre Mitbestimmung Kontrolle ausüben und Einfluss nehmen können. Sie erleben in der Institution Schule zudem eine - die gesellschaftlichen Institutionen insgesamt kennzeichnende - Segregation der Generationen. Bronfenbrenner schrieb schon in den sechziger Jahren: "Wenn der derzeitige Trend anhält, wenn die Institutionen unserer Gesellschaft weiterhin Eltern, andere Erwachsene und ältere Kinder von der aktiven Teilnahme am Leben der Kinder fernhalten und wenn das dadurch gebildete Vakuum durch die isolierte Gruppe der Gleichaltrigen ausgefüllt wird, so können wir einen weiteren Anstieg von Entfremdung, Gleichgültigkeit, Feindseligkeit und Gewalttätigkeit bei der jungen Generation erwarten, und zwar in allen Segmenten unserer Gesellschaft " (Bronfenbrenner 1973, S. 11, zitiert nach Bertram 1980, S. 181 f.).

Die Erwachsenenwelt wird in der Schule durch die Lehrerinnen und Lehrer vertreten. Sie bekleiden kraft ihrer Profession ein Amt, und Schüler müssen lernen, dass deren Autorität nicht primär persönlich, sondern vornehmlich eine von der Gesellschaft übertragene ist. Ihnen obliegt die Verantwortung für die kompetente Vermittlung fachlichen Wissens, die immer auch verknüpft ist mit der pädagogischen Kompetenz, Schüler zu motivieren, sich mit Engagement in den Unterricht und in das Schulleben einzubringen. Der Autorität des Lehrers, die durch die hierarchische Organisation und das Leistungssystem der Schule gestützt wird, steht die Unterlegenheit der Schüler gegenüber, die im Jugendalter ein sensibles Gespür für Werte der Autonomie und der gegenseitigen Achtung entwickeln. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist also höchst ambivalent und, wie der Schulalltag zeigt, nicht davor gefeit, dass "die Lehrermacht bei der Durchsetzung von Situationsdefinitionen und Entscheidungen" (Ulich 1991, S. 386) überhand nimmt. Dann droht die autoritative Macht des Lehrers umzuschlagen in eine instrumentelle Macht, die das konventionelle Repertoire der Disziplinierung (versprechen, drohen, befehlen, überlisten, übersehen, verschleiern, bevorzugen, verletzen) mehr oder weniger willkürlich dosiert und dadurch dem Lehrer-Schüler-Verhältnis den sozialen Rückhalt entzieht. Auch wenn ein fragwürdiges Disziplinieren im Unterricht nur gelegentlich durchbricht, so wird das Verhalten von Lehrern und Vorgesetzten insgesamt doch von vielen Jugendlichen problematisiert: Die Beurteilung der Erziehungsstile von Lehrern und Vorgesetzten in Sachsen ergibt (Jugend Sachsen 1999, S. 102 f.), daß nahezu zwei Drittel der 15- bis 27jährigen sich bei den Lehrern und Vorgesetzten emotional nicht gut aufgehoben fühlt. Hingegen sehen sich 77 Prozent der Befragten starken Leistungsforderungen ausgesetzt. Der "paradoxe Erziehungsstil" stellt "Forderungen ohne emotionalen Rückhalt" (Schmidtchen 1997, S. 114) und fungiert gleichsam als Modell nicht gelingender professioneller Autorität. Die Befunde aus Sachsen lassen sich ungeprüft nicht verallgemeinern, aber die Tendenz der Daten dürfte nicht unrealistisch sein, so dass die Vermutung naheliegt, dass die Defizite der Schule, Heranwachsende in die Organisation der Schule einzubinden, durch Defizite in den Lehrer-Schüler-Verhältnissen verstärkt werden.

Im Zentrum schulischer Sozialisation steht der Unterricht. Er zeichnet sich vor allen anderen Sozialisationseinflüssen durch eine gezielte und planvolle Erarbeitung eines Sachverhaltes oder eines Problems aus. Im Schulunterricht werden Werte vorausgesetzt, aber auch thematisiert und zum Gegenstand der unterrichtlichen Arbeit gemacht. Ihm kommt die Aufgabe zu, Schülern ethische Aspekte der in den verschiedenen Schulfächern verhandelten Fragen, etwa den "Schlüsselproblemen" und des Umgangs mit diesen Problemen, einsichtig zu machen. Grundsätzlich bietet sich das ethische Lernen als Unterrichtsprinzip in jedem Schulfach an. Biologie, Chemie und Physik können die ethischen Implikationen alter und neuer Technologien ebenso wenig übergehen wie die Geografie den Schutz der natürlichen Umwelt, der Deutschunterricht die existentiellen Konflikte des Menschen, der Sport die Fairness-Fragen und die politische Bildung das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit. In diesem Sinne könnten sich die Lehrpläne der Fächer zunehmend den Werte-Fragen öffnen und in vielfältiger Weise ergänzen. Sie sehen sich aber doch eher von der Aufgabe der Werte-Erziehung entlastet, weil diese den Fächern Religion und Ethik überantwortet wird. Fachlich-sachliche Kompetenzen einerseits und ethisch-philosophische Kompetenzen andererseits fallen oft auseinander: Die Schulfächer beschränken sich zumeist auf gesichertes Fachwissen, dem Religions- und dem Ethikunterricht fehlt nicht selten das fachliche Grund- und Problemwissen, das nötig wäre, um komplexe Sachverhalte sachgerecht aufzubereiten und zu elementarisieren. Schließlich trägt die Scheidung von Religions- und Ethikunterricht dazu bei, dass Schüler ein für sie alle erforderliches Grundwissen getrennt erlernen müssen und unterschiedliche Begründungszusammenhänge nicht gemeinsam erörtern können. Pädagogische Lösungen der vielschichtigen Disparitäten der Werteerziehung in der Schule können hier nicht zur Sprache kommen. Auch fehlt bislang eine systematische Unterrichtsforschung über die gefächerte Werteerziehung und ihre Wirkungen auf die Werteentwicklung der Kinder und Jugendlichen. Sozialisatorisch betrachtet, reproduziert das disparate Wertelernen in den Fächern die partikularen Wertewelten der gesellschaftlichen Teilsysteme. Es ist eine paradoxe Situation entstanden: Die Schule müsste im Sinne der Allgemeinbildung eine grundlegende und integrierende Werteorientierung anbieten, aber sie ist, wie Reinhardt in Bezug auf die Trennung von Religions- und Ethikunterricht schreibt, "unmodern geblieben, weil sie ein quasi ständisches Merkmal beibehält in einer Zeit, die gerade aus der Enttraditionalisierung von Lebensformen und Lebensstilen ihre spezifischen Chancen und ihre spezifischen Probleme bezieht" (Reinhardt 1999, S. 154 f.).

Sozialisation und Werteerziehung

Der in den verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen und in nahezu allen politischen Lagern erhobenen Forderung nach einer "Werteerziehung" liegt zumeist die Vorstellung zugrunde, Einrichtungen wie die Schule könnten, wenn sie dies nur mit Entschiedenheit wollten, bestimmte Werte gezielt vermitteln und diese Werte würden dann auch das zukünftige Handeln der Heranwachsenden leiten. Diese Vorstellung ist schon deshalb fragwürdig, weil die in Rede stehenden Werte häufig hoch abstrakt, also unterschiedlich ausdeutbar sind. Bereits Jugendliche sind in Familien, Schule, den verschiedenen Schulfächern, der Berufsausbildung, den Gruppen Altersgleicher, der Freizeitsphäre etc. mit den unterschiedlichsten Handlungsanforderungen konfrontiert, die sich nicht widerspruchslos auf wenige Werte rückbeziehen lassen. Die Vielzahl und auch Widersprüchlichkeit der Wertorientierungen in den hier herangezogenen Jugendstudien mag verwirren. Sobald aber nach realen Optionen und Handlungsalternativen gefragt wird, zeigt sich, dass der "Werteraum" weil unübersichtlich, schwer abgrenzbar und strukturierbar ist, weshalb sich die empirischen Befunde auch oft unterschiedlich deuten lassen.

Geht man, wie ich es hier getan habe, davon aus, dass die einzelnen Jugendlichen und die Jugend insgesamt heute mehr denn je auf sich gestellt sind, dass die Lebenswege weniger denn je vorgezeichnet sind, so spricht vieles dafür, dass sich nicht nur – und vielleicht nicht einmal in erster Linie – die Werte, sondern die Modi der Ausbildung und Übernahme von wertbesetzten Denk- und Verhaltensweisen sowie der Beurteilung des eigenen Handelns und des Handelns anderer ändern. Wenn Jugend als Bildungsphase mit unbestimmten Übergängen in die Berufs- und Erwachsenenwelt ausdifferenziert ist, wenn die Gesellschaft insgesamt ebenso wie die Schule und Familien selbst eine weitgehende Trennung der familialen Sphäre und Sozialisation von der schulischen Sphäre und Sozialisation sowie beide Lebensbereiche vom Feld der jugendlichen Gruppen und Cliquen fördern, kann kaum verwundern, dass sich die auch pädagogisch auf Selbstbestimmung und –verantwortung verwiesenen Jugendlichen in ihren Wertungen vor allem auf sich selbst beziehen. Die gesellschaftliche Integration einer so sozialisierten und sich selbst sozialisierenden Jugend kann deshalb auch nicht auf einen der Jugend immer wieder vor Augen gehaltenen Wertekodex und eine automatische Einmündung der Jugendphase in das Erwachsenenalter bauen. Ob eine anders verfasste Schule die teils manifesten, teils latenten Integrationsprobleme mit mehr Erfolg angehen könnte als die heutigen Schulen, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Es weist aber wenig darauf hin, dass mit einer Vermehrung der verselbstständigten Schulfächer und einem Spezialfach für ethische Bildung diesen Problemen nicht beizukommen ist.


Anhang

Jugend ’99 in Baden-Württemberg und Sachsen (Jugend BW-S; Stichprobe 15- bis 27jährige)

Frage 17 (Fragebogen im Anhang)

Man fragt sich ja manchmal, wofür man lebt, was der Sinn des Lebens ist. Worin sehen Sie vor allem den Sinn Ihres Lebens? Nennen Sie mir bitte anhand der vorgelegten Liste die für Sie wichtigsten Aussagen, sagen Sie mir bitte die entsprechende Kennziffer.

Ergebnisse (S. 16 f.)

Von 100 Jugendlichen benennen 1999 als Sinn des Lebens

Rang (geordnet nach Häufigkeiten Baden- Sachsen Differenz in

in Baden-Württemberg) Württemberg Prozentpunkten

  1. glücklich sein, viel Freude haben 81 83 + 2
  2. das Leben genießen 78 75 - 3
  3. im Leben etwas erreichen, es zu etwas bringen 68 79 + 11
  4. die Welt kennenlernen, etwas von der Welt sehen 64 69 + 5
  5. die Persönlichkeit entwickeln 58 61 + 3
  6. nach eigenen Überzeugungen leben vor sich selbst bestehen 55 55 0
  7. ohne größeren Stress durchs Leben zu kommen 45 42 - 3
  8. dass die eigene Familie versorgt ist 44 50 + 6
  9. im Leben etwas leisten 44 57 + 13
  10. von den Mitmenschen geachtet werden, Ansehen haben 44 48 + 4
  11. es zu Wohlstand und materieller Sicherheit bringen 43 50 + 7
  12. dass die eigenen Kinder es gut haben 40 44 + 4
  13. ein großes Wissen erwerben 40 44 + 4
  14. bei anderen beliebt sein 36 36 0
  15. mithelfen, eine bessere Gesellschaft zu schaffen 30 27 - 3
  16. sich mit allen Kräften für eine bestimmte Idee einsetzen 29 33 + 4
  17. ganz für andere da zu sein, anderen helfen 28 31 + 3
  18. das tun, was Gott erwarten 8 11 + 3
  19. das Leben hat keinen Sinn 2 1 - 1

    Frage 27 (Fragebogen im Anhang)

    Jeder hat ja andere Werte für sein Leben. Wie wichtig sind Ihnen für Ihr eigenes Leben die folgenden Eigenschaften? Bitte antworten anhand dieser Liste. 1 bedeutet "sehr wichtig" und 6 bedeutet "völlig unwichtig", mit den Noten dazwischen können Sie Ihre Meinung abstufen.

    Ergebnisse (S. 19)

    Von 100 Jugendlichen meinen, für das eigene Leben sind ...

    Rang (geordnet nach Häufigkeiten Baden- Sachsen Differenz in Baden-Württemberg) Württemberg Prozent

    1. Humor 85 87 + 2

  20. Aufrichtigkeit / Ehrlichkeit 80 84 + 4
  21. Optimismus 76 82 + 6
  22. Hilfsbereitschaft 71 81 + 10
  23. Durchsetzungsvermögen 68 82 + 14
  24. Pflichtbewußtsein 66 81 + 15
  25. Ehrgeiz 65 79 + 14
  26. Rücksichtnahme 63 74 + 11
  27. Fleiß 56 75 + 19
  28. Disziplin 52 70 + 18
  29. Bescheidenheit 33 43 + 10

 

13. Shell Jugendstudie (Jugend 2000; Stichprobe: 15- bis 24jährige)

Frage 19 (Fragebogen S. 443, Kärtchen S. 485))

"In jeder Gesellschaft gibt es ja unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie man sein Leben leben will und was einem in seinem Leben wichtig ist. Sage mir doch bitte bei jedem dieser Kärtchen, wieviel Wert Du persönlich auf diese Dinge in Deinem Leben legst, wie wichtig sie Dir sind." - Du kannst Noten zwischen 5 ("ist mir ausgesprochen wichtig) und 1 ("ist mir überhaupt nicht wichtig") geben.

Ergebnisse (Skalen Bereich: Werte – Lebensziele; Fischer, S. 395-402)

Dimensionen / Wertaussagen (gekürzt) Mittelwert Dimensionen / Wertaussagen (gekürzt) Mittelwert

1 Autonomie – Kreativität und Konfliktfähigkeit

selbstständig denken und handeln 4,34

allein auf Ideen kommen 4,01

sich von unangenehmen Dingen nicht so

leicht unterkriegen lassen 4,12

die eigene Meinung vertreten, auch wenn

die Mehrheit anders denkt 4,04

keine Angst vor Konflikten haben 3,95

den Mut haben, nein zu sagen 4,13

2 Menschlichkeit – Toleranz und Hilfsbereitschaft

hilfsbereit gegenüber anderen Menschen 3,98

mit anderen teilen, etwas abgeben können 3,76

Menschen, die anders sind, akzeptieren 3,88

jeden Menschen so akzeptieren, wie er ist 3,88

etwas für die Gesellschaft leisten 3,23

andere Kulturen kennenlernen 3,50

3 Selbstmanagement – Disziplin und

Einordnungsvermögen

diszipliniert sein 3,39

sich im Griff haben, Selbstbeherrschung 3,70

sich in eine Ordnung einfügen 3,27

bescheiden sein 3,06

gründlich sein in allen Dingen 3,46

regelmäßig feste Summen sparen 3,20

4 Attraktivität – gutes Aussehen und

materieller Erfolg

auch in 20; 30 Jahren noch gut aussehen 3,66

sich auch mit 30 oder 40 Jahren noch

jugendlich anziehen können 3,36

viel Geld auf der hohen Kante haben 3,44

in seinem Leben einmal viel Geld verdienen 3,72

vor allem Spaß haben und viel erleben 3,95

das eigene Äußere 3,75

5 Modernität – Teilhabe an Politik und

technischem Fortschritt

sich für Politik interessieren 2,87

politische Zusammenhänge verstehen 3,16

mit Computern umgehen können 3,55

mit Technik umgehen können 3,43

Ämter in Organisationen übernehmen 2,54

technisch immer auf dem neuesten Stand

sein, gut ausgerüstet sein 3,14

6 Authentizität –

persönliche Denk- und Handlungsfreiheit

so bleiben, wie man ist 3,82

tun u: lassen können, was man gerade will 3,61

frei von Verpflichtungen sein 3,19

sich nicht von anderen beeinflussen lassen 3,72

den eigenen Kopf durchsetzen 3,52

immer sagen, was man denkt 3,65

7 Familienorientierung – Partner, Heim und

Kinder

in einer glücklichen Partnerschaft leben 4,20

Kinder haben 3,64

eine eigene Familie aufbauen; wohlfühlen 4,00

ein angenehmes Zuhause schaffen 4,21

seinen Kindern ein sicheres Zuhause bieten 4,11

treu sein 4,02

8 Berufsorientierung – gute Ausbildung

und interessanter Job

umziehen, wenn es der Job erfordert 3,28

eine vernünftige Ausbildung 4,19

ein solider Beruf, auf eigenen Beinen 4,10

ein Beruf, der auch später etwas bedeutet 4,17

einen sicheren Arbeitsplatz finden 4,30

eine interessante Arbeit finden 4,29

Literatur:

Bertram, Hans: Erziehung zur Kooperation: Alternative zur traditionsorientierten Erziehung? Zur Bedeutung moralischer Entwicklung für Bildungsprozesse. In: Schmitt, Gisela (heute: Behrmann) (Hrsg.): Individuum und Gesellschaft in der politischen Sozialisation. Materialien und Berichte Nr. 56 der Akademie für politische Bildung. Tutzing 1980, S. 166-190

Bronfenbrenner, Uri: Erziehungssysteme. Kinder in den USA und der Sowjetunion. München 1973

Damon, William: Die soziale Welt des Kindes. Frankfurt am Main 1984

Fischer, Arthur: Jugend und Politik. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 261-283

Fischer, Arthur: Beschreibung der Skalen. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 379-432 (Fischer 2000a)

Fischer, Arthur/Fritzsche, Yvonne/Fuchs-Heinritz, Werner/Münchmeier, Richard: Hauptergebnisse. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 11-21

Fritzsche, Yvonne: Moderne Orientierungsmuster: Inflation am Wertehimmel. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 93-156

Fritzsche, Yvonne: Modernes Leben: Gewandelt, vernetzt und verkabelt. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 181-220

Fritzsche, Yvonne: Die quantitative Studie: Stichprobenstruktur und Feldarbeit. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 349-378

Fuchs-Heinritz, Werner: Zukunftsorientierungen und Verhältnis zu den Eltern. In: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000, S. 23-92

Gaiser, Wolfgang/Gille, Martina/Krüger, Winfried/Rijke, Johann de: Politikverdrossenheit in Ost und West? Einstellungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 19-20/2000, S. 12-23

Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. 4., völlig neubearbeitete Auflage. Weinheim u.a. 1991

Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie. Band 1. Gesamtkonzeption und Koordination: Arthur Fischer, Yvonne Fritzsche, Werner Fuchs-Heinritz, Richard Münchmeier. Opladen 2000

Jugend BW-S: Jugend ‘99 in Baden-Württemberg und in Sachsen. Auswertung zweier repräsentativer Befragungen Jugendlicher im Alter von 15 bis 27 Jahren in Baden-Württemberg und in Sachsen. Auftraggeber: Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg. Bericht: Willy Koch, Institut für Marktforschung Leipzig. Wissenschaftliche Beratung: Gerhard Schmidtchen. Leipzig 1999

Jugend Sachsen: Jugend ‘99 in Sachsen. Auswertung einer repräsentativen Befragung Jugendlicher im Alter von 15 bis 17 Jahre im Freisaat Sachsen. Situation 1999 und Trendverläufe 1993/94 bis 1999. Auftraggeber: Sächsisches Staatsministerium für Kultus. Bericht: Willy Koch, Institut für Marktforschung Leipzig. Wissenschaftliche Beratung: Gerhard Schmidtchen. Leipzig 1999

Jugend Sachsen-Anhalt. Liebscher, Reinhard/Schmidtke, Heidrun/Winkler, Gunnar: Einstellungen und Handlungsorientierungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Sachsen-Anhalt. Studie, erarbeitet im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Frauen, Gesundheit und Soziales des Landes Sachsen-Anhalt durch das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum Berlin-Brandenburg e.V. Magdeburg 1998

Keller, Monika/Edelstein, Wolfgang: Die Entwicklung eines moralischen Selbst von der Kindheit zur Adoleszenz. In: Edelstein, Wolfgang/Nunner-Winkler, Gertrud/Noam, Gil (Hrsg.): Moral und Person. Frankfurt am Main 1993, S. 307-334

Klages, Helmut: Werte und Wertewandel. In: Schäfers, Bernhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands. Redaktion: Sabine Misoch. Opladen 1998, S. 698-709

Kreppner, Kurt: Sozialisation in der Familie. In: Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. 4., völlig neubearbeitete Auflage. Weinheim u.a. 1991, S. 321-334

Nunner-Winkler, Gertrud: Entwicklungslogik und Wertwandel: ein Erklärungsmuster und seine Grenzen. In: Luthe, Heinz Otto/Meulemann, Heiner (Hrsg.): Wertewandel – Faktum oder Fiktion? Bestandsaufnahmen und Diagnosen aus kultursoziologischer Sicht. Frankfurt am Main 1988. , S. 235-256

Nunner-Winkler, Gertrud: Sozialisationsbedingungen moralischer Motivation. In: Leu, Hans Rudolf/Krappmann. Lothar (Hrsg.): Zwischen Autonomie und Verbundenheit: Bedingungen und Formen der Behauptung von Subjektivität. Frankfurt am Main 1999 a, S. 299-329

Nunner-Winkler, Gertrud: Wandel in den Moralvorstellungen - Ein Generationenvergleich. Manuskript 1999 b

Nunner-Winkler, Gertrud: Von Selbstzwängen zur Selbstbindung (und Nutzenkalkulation). Manuskript 1999 c

Montada. Leo: Moralische Entwicklung und moralischer Sozialisation. In: Oerter; Rolf/Montada. Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie: ein Lehrbuch. 2.; völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. München 1990, S. 862-893

Oerter, Rolf/Dreher, Eva: Jugendalter. In: (Hrsg.): Entwicklungspsychologie: ein Lehrbuch. 2., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. München 1990, S. 310-394

Oerter, Rolf/Montada, Leo (Hrsg.): Entwicklungspsychologie: ein Lehrbuch. 2., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. München 1990

Reinhardt. Sybille: Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozesssen. Opladen 1999

Sander, Uwe: 100 Jahre Jugend in Deutschland. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 19-20/2000, S. 3-11

Schmidtchen, Gerhard: Wie weit ist der Weg nach Deutschland? Sozialpsychologie der Jugend in der postsozialistischen Welt. Unter Mitarbeit von Michael Otto und mit einem Beitrag von Harry Schröder. 2. durchgesehene Auflage. Opladen 1997

Schneewind, Klaus A.: Familienentwicklung. In: (Hrsg.): Entwicklungspsychologie: ein Lehrbuch. 2., völlig neubearbeitete und erweiterte Auflage. München 1990, S. 128 - 165

Statistisches Bundesamt (hrsg.v.): Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland. In Zusammenarbeitmit WZB und ZUMA. Bonn 2000

Ulich, Klaus: Schulische Sozialisation. In: Hurrelmann, Klaus/Ulich, Dieter (Hrsg.): Neues Handbuch der Sozialisationsforschung. 4., völlig neubearbeitete Auflage. Weinheim u.a. 1991, S. 377-396


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