Didaktische Reihe
Band 22

Werte in der politischen Bildung

 


Herausgeber:

Gotthard Breit
Siegfried Schiele

LpB, 2000, 464 S.



  Inhaltsverzeichnis

Bernhard Sutor

Zwischen moralischer Gesinnung und politischer Urteilskraft - Ethik als Dimension politischer Bildung

Werte - Begriff und Problematik

Wissen wir eigentlich, was wir meinen, wenn wir von Werten sprechen? Und meinen wir alle dasselbe, wenn wir davon sprechen? Daran darf gezweifelt werden. Ein philosophisch-ethischer und moralischer Begriff war Wert ursprünglich nicht.

Kluges etymologisches Wörterbuch verzeichnet unter althochdeutsch ‘werd’ die Bedeutungen Kaufpreis, kostbare Ware, Herrlichkeit; unter altsächsisch Geld und Lohn. Wissenschaftlich wird der Begriff dann auch zuerst in der Ökonomie verwendet, in der Diskussion von Wert- und Preistheorien. Fragt man nach dem französischen Äquivalent, findet man mehrere Begriffe: valeur als Wert, Bedeutung, Gültigkeit, auch Wertpapier; daneben auch importance. Der lateinische Ursprung von valeur liegt im Verb valere = kräftig oder mächtig sein, gesund sein; vom Geld dann auch: wert sein. Lateinische Entsprechungen zu unserem Begriff Wert gibt es eine ganze Reihe: pretium, dignitas und virtus, praestantia und honestas. Erst mit honestas sind wir bei einem im eigentlichen Sinn moralischen Begriff. Aber allesamt stammen die Begriffe aus dem tätigen Leben, um mit Hannah Arendt zu sprechen, nicht aus der Moraltheorie.

Schon dieser Sprachbefund sollte uns klar machen, dass wir die Wertfrage in der politischen Bildung nicht zu einer Moralfrage verengen dürfen. Es gibt eine Vielfalt vormoralischer Werte, die Politik schützen, deren Realisierung sie ermöglichen muss, und zwar in der Regel unter Bedingungen der Konkurrenz von Werten.

Dieselbe Auskunft gibt uns die vormoderne philosophische Ethik. Sie kannte den Wertbegriff in unserer heutigen Verwendung nicht. Sie sprach von bona, Gütern. Zum bonum konnte alles werden, was in der Welt der Dinge und der Menschen vorkam, sofern es nämlich Menschen erstrebenswert schien. Das waren und sind materielle Güter ebenso wie soziale (Anerkennung, Einfluss, Autorität, Recht), kulturelle (Wissen, Bildung) und religiöse (Frömmigkeit, Sinnorientierung, das ewige Heil). Zu einer Frage der Ethik wurden die bona erst dann, wenn eine begründete Wahl zwischen konkurrierenden oder einander widerstreitenden Gütern zu treffen war. Dazu brauchte man Kriterien, Maßstäbe der Unterscheidung. Diese aber waren ihrerseits nicht wieder Werte, obwohl sie heute bei uns oft so genannt werden; vielmehr waren und sind dies Regeln und/oder Prinzipien; so die beiden keineswegs in gleiche Richtung weisenden Kriterien der Ranghöhe und der Dringlichkeit. Als Regeln gefasst: Das höhere Gut hat Vorrang, dennoch muss unter Umständen das dringlichere vorgezogen werden. Das Urteil darüber wurde gekennzeichnet als vernünftige Überlegung oder auch als Wahl- und Vorzugsakt.1

Um die richtige Wahl zu treffen, genügten aber keineswegs allgemeine Regeln oder Prinzipien, auch nicht eine vorgegebene Wertehierarchie. Vielmehr war das Sache der Klugheit, das heißt der Fähigkeit, das prinzipiell Gesollte oder Gute in der gegebenen Situation zu finden. Durchaus in Nähe zu dieser Vorstellung spricht Jürgen Habermas heute vom "Vermögen hermeneutischer Klugheit" (Habermas 1983, S. 191). Zu solcher Klugheit gehört nach traditioneller Ethik über die Kenntnis von Prinzipien hinaus die Erinnerung oder Erfahrung; die Belehrbarkeit durch neues Wissen; die Geschicklichkeit im Umgang mit den situativen Momenten; schließlich die Voraussicht, was nichts anderes heißt als das Bedenken der möglichen Folgen, auch ungewollter Nebenfolgen von Handlungen.2 Wir nennen das heute vereinfachend Verantwortungsethik.

Mir scheint diese Form der Ethik, unabhängig von ihrer vormodernen metaphysischen Begründung, politisch von höchster Relevanz. Deshalb habe ich sie immer wieder in unser didaktisches Gespräch eingebracht; mit wenig Resonanz, wie mir scheint. Ich frage mich manchmal, warum wir uns im Vergleich zu diesem Ethikmodell in unseren Werte-Diskussionen so schwer tun. Die praktisch-politischen Schwierigkeiten sind verständlich angesichts unseres Pluralismus und unserer gegenwärtigen komplexen Probleme. Aber warum tun wir uns theoretisch so schwer, in den Begründungsfragen? Meine These dazu wäre, dass wir von der Theorie zu viel erwarten; etwas, was sie nicht leisten kann. Wir stellen ideale theoretische Ethikbegründungen und wertfreie Praxis einander gegenüber und wundern uns, dass sie nicht zusammenkommen können.

Die Wertfrage als neuzeitliche Problematik

Das skizzierte alte Ethik-Modell war eines der praktischen, nicht der theoretischen Vernunft. Es beruhte auf der Einsicht in den Praxischarakter menschlichen Lebens. Menschen leben als Handelnde, intentional, interessiert sich auf Güter richtend. Sie können die dabei auftretenden Konflikte und Probleme kraft ihrer Vernunft im kommunikativen, auf Verständigung zielenden Miteinander lösen, sie können freilich gute Lösungen auch immer wieder verfehlen. Verständigung geschieht vormodern im Horizont allgemein als gültig angenommener Sinnorientierung. Solche Praxis bringt Gewohnheiten und Institutionen hervor, die ihrerseits Handlungsorientierung stützen. Der modernen Gesellschaft fehlt die allgemeingültige Sinnorientierung. Das macht die Verständigung zweifellos viel schwieriger, aber zugleich umso dringlicher. Diese kann nur gelingen, wenn wir die Werteproblematik nicht als eine theoretisch, durch letzte schlüssige Begründungen, sondern als eine praktisch-politisch zu lösende betrachten, ohne dabei in blanken Relativismus oder gar in Beliebigkeit zu geraten. Dazu brauchen wir eine gute Theorie von Praxis, nicht eine idealistische Theorie von letzten Werten.

Warum schleppen wir eine solche, oft vielleicht unbewusst, mit uns herum? Meine Antwort wäre, dass dies ein Erbe unseres deutschen Idealismus ist. Ich kann nur kurz skizzieren, wie das geistesgeschichtlich zu verstehen ist.

Bekanntlich löste Immanuel Kant erkenntniskritisch die Ethik von der überlieferten Metaphysik. Es genügte ihm aber auch nicht eine empirisch aus der Welt der "Erscheinungen" begründete Güterethik, weil so kein letztlich verbindliches Sollen zu begründen sei. Er sah vielmehr die Unbedingtheit des Sittlichen begründet in der inneren, der transzendentalen Erfahrung der sittlichen Freiheit. Die Erfahrung, dass der Mensch sich kraft seiner Vernunft selbst das Gesetz seines Handelns geben kann, bedeutete ihm zugleich die Pflicht, den Willen an dieses Vernunftgesetz zu binden. Deshalb beginnt Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten mit dem bekannten Satz: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille".3

Das allgemeine Prinzip dieser autonomen Moral konnte nur formal sein, weil alles Inhaltliche empirisch und damit nicht unbedingt ist. Die Unbedingtheit der Moralität gründet nach Kant unabhängig von den auf eine Güterwelt bezogenen Interessen und Neigungen, unabhängig auch von geschichtlich bedingter Moral, im unbedingten Willen zu vernunftgeleiteter Praxis. Deren Maximen müssen zugleich verallgemeinerbar sein, was Kant in den verschiedenen Formen seines kategorischen Imperativs ausdrückt. Im Prinzip der Verallgemeinerbarkeit verbindet Kant die Moralität der sittlichen Person mit ihrer Sozialität; diese ist offenkundig auch für ihn ein unhintergehbares Phänomen. Zwar unterscheidet er streng zwischen der Moralität als innerer Übereinstimmung mit dem sittlich Gebotenen und der Legalität als äußerer Befolgung des allgemeinen Gesetzes; und wir bewegen uns als Bürger des Rechtsstaates bis heute in dieser Unterscheidung. Das Recht kann uns nicht auf Moralität verpflichten. Aber eine absolute Trennung bedeutet das nicht. Rechtsgehorsam ist für die sittliche Person auch eine moralische Pflicht.

Kant kannte übrigens auch die Herkunft des Wertbegriffs aus der Ökonomie und machte deshalb den Unterschied zwischen Wert als Preis und Wert als Würde, die dem Menschen als sittlichem Subjekt zukommt. In Verbindung mit den Ideen vom Vertrag und den Menschenrechten haben wir hier eine zentrale Wurzel des freiheitlichen Verfassungsstaates, also wiederum ein wichtiges Erbe. Dennoch führte die Kantsche transzendentalphilosophisch begründete Ethik in die unpolitischen Verengungen des Idealismus und des modernen Subjektivismus. Das Ethische kommt jetzt gleichsam von oben bzw. von innen und tritt als strenge Sollensforderung, als Pflicht, dem realen Sein entgegen. So unterschied der Neukantianismus streng zwischen Sein und Gelten, was wissenschaftstheoretisch sein Echo fand in Max Webers "wertfreier Wissenschaft". Das damit aufgeworfene moderne Problem der Begründbarkeit moralischer Werte versuchte dann eine - allerdings nur kurzlebige - phänomenologische Wertphilosophie (Max Scheler, Nicolai Hartmann) zu lösen, indem sie Werte nicht als reale, sondern als ideale Gebilde konstatierte. Diese werden nicht wie die realen Dinge erkannt, sondern "gefühlt" oder intuitiv "geschaut". Ein Reich der Werte wird so dem Sein und der gesellschaftlichen Praxis gegenübergestellt. Mir scheint, einen Nachklang davon hören wir immer noch, wenn angesichts unserer heutigen Probleme "Werte" gleichsam abstrakt und appellativ beschworen werden, so als könnte man sie aus einem "Wertehimmel" herunterholen und wirksam machen. Das ist erzieherisch ebenso fruchtlos wie politisch.

Aber auch die sprachphilosophisch-kommunikativen Versuche der Ethikbegründung in einer "Transzendentalpragmatik" bleiben recht abstrakte und politikferne Ausformungen von Reflexionsmoral. Erst relativ spät schlägt etwa Jürgen Habermas eine Brücke zwischen dem "herrschaftsfreien Diskurs" und dem praktisch-politischen Diskurs im Kontext von Recht und Institutionen, so vor allem in "Faktizität und Geltung".4

Was ich mit dieser gewiss sehr vereinfachenden Skizze sagen will, ist dies: Unserem Reden von Werten und von politischer Moral haftet aus dem angedeuteten Erbe ein unpolitisch-idealistischer Grundzug an; die Gefahr, dass eigentlich Politische in der gesellschaftlichen Praxis zu verfehlen oder ihm Gewalt anzutun. Eine politische Ethik muss zwar geleitet sein von einem allgemeinen, Kant würde sagen von einem transzendentalen Begriff des Guten oder jedenfalls des Gerechten. Dieser wird geschichtlich-kulturell immer auch zu einer Idee vom Guten, wie wir sie heute zum Beispiel fassen in unserem gemeinsamen innerweltlichen Höchstwert Menschenwürde; die wir entfalten in Menschenrechten sowie in Leitprinzipien für politische Ordnung und politisches Handeln. Politische Ethik ist insofern immer auch mit der Frage nach möglicher Letztbegründung konfrontiert. Sie darf aber nicht beanspruchen, gleichsam von solcher Höhe herab politische Vorgänge, Einrichtungen, Entscheidungen angemessen beurteilen zu können. Will sie über eine Grundgesinnung hinaus als Verantwortungsethik konkret werden, braucht sie auch konkretere Kriterien, kleinere Münzen, die dem spezifischen Sein politischer Gebilde und dem spezifischen Handlungsmodus von Politik angemessen sind. In jeder Lebenspraxis, auch in der Politik, gehen wir ständig mit Werten im weiten Sinn des Wortes um, setzen Prioritäten, fällen Vorzugsurteile und bedienen uns dabei gewohnter Vorzugsregeln, im sozialen Konflikt auch förmlicher Verfahrensweisen. Zum moralischen Konflikt führt solche Praxis nur in den Grenzfällen, die uns dann auch nötigen, über Begründungen und Möglichkeiten der Letztbegründung nachzudenken. Grenzfälle sind aber nicht Regelfälle.

Die Wertfrage als Frage politischer Ethik

Das Politische an den Werten ist, jedenfalls vordergründig, ihre Konkurrenz im gesellschaftlichen Leben. Diese kann immer konflikthaft werden und bedarf deshalb politisch-rechtlicher Vorkehrungen, und zwar gerade deshalb, weil und je weniger sie in einer wertepluralistischen Gesellschaft durch Rekurs auf Letztbegründungen zu bewältigen ist.

Alle ethischen Reflexionen setzen voraus, dass wir Menschen uns als individuell und sozial Handelnde erfahren und dass uns in dieser Erfahrung Sollensansprüche begegnen. Letztbegründungen nehmen im Verhältnis zur sozial-moralischen Praxis immer Form und Funktion der Gesinnung an. Diese ist für das sittliche Selbst- und Sinnverständnis der Person notwendig, muss im Politischen zwar nicht aufgegeben, aber doch ein Stück weit zurückgenommen werden. Wer sich im sozialen Miteinander und im politischen Streit ständig oder auch nur häufig auf sein Gewissen zurückzieht, wird unfähig zum Interessenausgleich durch Aushandeln.

Das zentrale Element des Politischen ist nicht die autonome Selbstbestimmung des Individuums, sondern die auf die Gesellschaftswelt bezogene Intention der sozial konstituierten Person.5

Die Vielfalt solcher Intentionen führt zur Interferenz von Intentionen, zu einem konfliktträchtigen Geflecht von Interessen. Dieses Geflecht macht Politik nötig. Diese ist deshalb weder vom individuell handelnden Subjekt noch von den äußeren sozialen Gegebenheiten her hinlänglich bestimmbar. Das Politische ist eine spezifische Gesamtheit, ein Inbegriff von interpersonalen und Intergruppen-Beziehungen. Die "Werthaltungen", traditionell ausgedrückt die Tugenden, die dazu in Sozialerziehung aufgebaut werden müssen, heißen vor allem Fairness, Verträglichkeit und Toleranz, zusammengefasst in der sozialen Grundtugend der Gerechtigkeit.

Einseitig subjektivistische Sicht möchte dieses Politische am liebsten transzendieren, zum Verschwinden bringen, weil störend für Selbstentfaltung. Einseitig objektivistische Sicht möchte es wissenschaftlich bewältigen, es in Gesetzmäßigkeiten fassen und möglicherweise technisch, durch Machen überwinden. Idealistische Vorstellungen von "Herrschaftsfreiheit" und materialistische vom Absterben des Staates und der Politik sind so gesehen nahe Verwandte. In beiden werden die soeben genannten sozialen Tugenden vom Zielbegriff der Emanzipation verdrängt.

Selbstbestimmung im Politischen muss aber in Formen der Mitbestimmung übertragen werden, in Regeln und Institutionen, die es einem jeden ermöglichen, mit anderen zusammen darüber mitzubestimmen, durch wen und wie wir regiert werden. Damit treten die Verfassung, ihre Institutionen und Regeln ins Zentrum politischer Ethik. Das gilt auch und gerade für Politik im freiheitlichen Verfassungsstaat, von der wir verlangen, dass sie sich an den Menschenrechten als unseren "Grundwerten" orientiert; denn für eine Politik der Menschenrechte ist nicht deren Letztbegründung entscheidend, sondern ihre Geltung kraft wirksamer Institutionalisierung. Ich möchte nicht missverstanden werden; auch die Fragen der Letztbegründung brauchen ihren Ort im öffentlichen Diskurs. Die Positionen von Philosophien und Glaubensgemeinschaften und das Gespräch zwischen ihnen sind von öffentlicher Relevanz. Deshalb hat der säkulare Staat, gerade weil er keine Letztbegründungen vorgeben kann und darf, nicht das Recht, den Raum des Öffentlichen gleichsam weltanschauungsneutral zu machen. Überall, wo er als Kulturstaat tätig wird, muss er die Pluralität der geistig-gesellschaftlichen Kräfte respektieren. Aber politische Moral gewinnt objektive Gestalt und Wirksamkeit in Recht und Institutionen. Politische Ethik ist deshalb in ihrem Kern Institutionenethik, der freilich die eben angedeutete Tugendethik entsprechen muss. Die alte Institutionenkunde hat, sofern sie nicht nach dem Sinn von Institutionen fragte, deren Kern ebenso verfehlt wie ihre Gegenkonzepte, die glaubten, die Institutionen vernachlässigen zu können. Die ethische Bedeutung der Institutionen, ihre Eigenart als zentrale politisch-ethische Werte, soll hier in knappen Thesen verdeutlicht werden.6

1. Allgemein sind Institutionen zu begreifen als sozial-kulturell entwickelte Sinngebilde mit normativem Anspruch, das heißt mit Vorgaben für das Verhalten der Menschen im sozialen Miteinander. Sie regeln durch ihre Vorgaben vor allem sich wiederholende Lebensvollzüge und stiften damit im Verhältnis von Erwartungen und Verhaltensweisen eine gewisse Dauer und Verlässlichkeit.

2. Politische Institutionen haben die Aufgabe, verbindliche Entscheidungen für eine Gesamtgesellschaft zu ermöglichen und die Orientierung dieser Entscheidungen an Legitimitätsprinzipien der Gesamtordnung zu sichern. Ethisch betrachtet können sie nicht das gute Leben der Bürger innerhalb dieser Ordnung als Wirklichkeit selbst hervorbringen. Sie enthalten nicht die sittliche Substanz einer Gesellschaft. Sie sind aber als Formen der Vermittlung zwischen den vielfältigen Interessen und dem Gemeinwohl Bedingung der Möglichkeit guten Lebens. Sie erleichtern das gemeinwohlverträgliche Verhalten der Bürger und der Gruppen durch verbindliche Verhaltensvorgaben, besonders für die Austragung von Konflikten. Je freiheitlicher und zugleich wirksamer diese Vermittlung zwischen Interessen und Gemeinwohl gelingt, umso besser ist eine politische Ordnung. In den Institutionen spiegelt sich gleichsam das "ethische Programm" eines Staates.

3. Eine freiheitliche Institutionenordnung fordert von der Bürgern keine besonderen moralischen Anstrengungen, wohl aber den moralischen Willen, die gemeinsamen Institutionen zu respektieren. Alle sind sich gegenseitig zur Regeltreue und zum pfleglichen Umgang mit den Institutionen verpflichtet. Loyalität ist eine moralische Pflicht, aber in einer freiheitlichen Ordnung keine besondere moralische Leistung. Vielmehr entlasten gute Institutionen die Bürger von ständiger moralischer Anstrengung, weil und sofern ihre Forderungen für alle gelten und durchsetzbar sind. Zugleich müssen ihre Regeln so gestaltet sein, dass sie auch mit moralischem Fehlverhalten der Menschen rechnen und dieses aufarbeiten oder kompensieren können.

4. Moralische Forderungen an Politik müssen in die Sprache der Institutionen und in die Form des allen zumutbaren allgemeinen Gesetzes übersetzt werden können. Moralisches Wollen braucht die Verbindung mit politischer Rationalität, die dem Sinn der gemeinsamen freiheitlichen Institutionen entspricht. Auch zur Lösung neuer Probleme, wie sie uns etwa heute bedrängen, genügt nicht die Pflege von Betroffenheit und moralischer Empörung oder moralischer Appell; vielmehr können politisch wirksame Lösungen nur gefunden werden durch Weiterentwicklung bestehender oder durch den Aufbau neuer Institutionen. Das gilt zumal auch für die heute global gewordenen Probleme des Friedens, der Ökologie, der sozialen Gerechtigkeit.

5. Die moralische Qualität von Politik bemisst sich nicht nach der individuellen Moral politischer Repräsentanten, obwohl diese nicht nur wünschenswert ist, sondern auch eine gute Stütze der gemeinsamen Ordnung sein kann. Im Sinn von Institutionenethik ist von den politischen Akteuren zu allererst die Führung ihres öffentlichen Amtes gemäß seinem Sinn und im Rahmen der gesetzten Spielregeln zu fordern. Es kommt also hier nicht zuerst auf das persönliche, sondern auf das Amtsethos an. Darüber hinaus hängt aber die moralische Qualität von Politik wesentlich davon ab, ob es ihr gelingt, anstehende Probleme und Konflikte so zu lösen, dass die politischen Leitziele des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit immer erneut gesichert werden. In diesem Sinne Erfolg zu haben ist die entscheidende moralische Forderung an Politik. Die dazu nötige politische Rationalität schließt notwendigerweise strategisch-taktisches Machthandeln in Konfliktkonstellationen ein; dieses untersteht zwar ethischen Normen, ist aber von ihnen her nicht hinlänglich determinierbar, ist vielmehr Bewährungsfeld politischer Klugheit.

Das hier skizzierte Verständnis von politischer Ethik, das vom Praxischarakter der Politik ausgeht und die Institutionalisierung der gemeinsam geltenden "Grundwerte" ins Zentrum der Betrachtung rückt, vermeidet die unfruchtbare dichotomische Gegenüberstellung von Politik und Moral. Sie ist Ethik des Politischen als eines Grundmodus menschlichen Handelns, das auf die Vermeidung des schlimmsten Übels, nämlich des Krieges aller gegen alle, durch fortdauernde Gestaltung einer gemeinsamen Ordnung ebenso zielt wie auf die Ermöglichung des jeweils Besseren in der Regelung der aktuellen Konflikte. Die dieser Ethik entsprechende politische Moral ist die Moral der sittlichen Person in ihrer sozialen Bedingtheit, die sich den Sinn der freiheitlichen Ordnung verstehend zu eigen macht - das ist das Grundelement der Gesinnung; der Person, die aber darüber hinaus als mitbestimmender Bürger fähig ist, sich in den wechselnden öffentlichen Konflikten und Problemen ein begründetes Urteil zu bilden, welches die ethische Dimension der Fragen einschließt, aber nicht verabsolutiert.

Folgerungen für politische Bildung

Damit sind auch Ort und Anteil politischer Ethik an der politischen Bildung umschrieben. Politische Bildung ist keine "wertfreie" Veranstaltung, aber sie darf auch nicht moralisch, vor allem nicht individualmoralisch überfrachtet werden. Sie ist nicht Ethikunterricht, erst recht nicht Religionsunterricht. Sie kann beides nicht ersetzen, und deshalb sollte man nicht meinen, aus der Position der Politikdidaktik Legitimität oder Sinn des Religionsunterrichts in Frage stellen zu können.7 Politische Bildung kann auch schwerlich versäumte Sozialerziehung nachholen, und deshalb sollte man sie nicht auf soziales Lernen reduzieren wollen. Fragen politischer Ethik und also "Wertfragen" im engeren Sinn sind in ihr immer virulent und bedürfen deshalb systematisch didaktischer Einordnung. Die beiden dazu in der didaktischen Literatur allgemein anerkannten Wege sind die kategorial strukturierte Urteilsbildung und die dialogisch-kommunikative Struktur des Lernprozesses.

Demgegenüber sind Phasenstrukturen des Unterrichts variabel und unterschiedlich vorstellbar. Idealtypisch habe ich dafür immer den "Dreischritt" politischen Enscheidungsdenkens als hilfreich empfunden, nämlich die Unterscheidung von Situationsanalyse, Möglichkeitserörterung und Urteilsbildung bzw. Entscheidung. Ethische Kategorien haben bei dieser Anordnung besonderes Gewicht in der dritten Phase, müssen hier deshalb in hinreichender Differenzierung und dann auch begründet ins Spiel kommen. Aber Begründungs- und Handlungsfragen sind zu unterscheiden. Methodisch können sie wohl kaum in einem Schritt bearbeitet werden. Dabei gewinnt das seine Bedeutung, was man in öffentlicher Diskussion abgekürzt "Grundwerte" einer freiheitlich verfassten pluralistischen Gesellschaft nennt, also: Menschenwürde und Menschenrechte, die politischen Gemeinwohlziele Friede, Freiheit und Gerechtigkeit; ferner die Frage nach der Legitimität von Entscheidungen, aber auch nach ihrer Zumutbarkeit im Verfassungskonsens; schließlich die Fragen nach Wirksamkeit und Folgen und nach Verantwortbarkeit von Handlungen.8

Freilich kommen diese Wert- und Moralfragen nicht erst mit diesem dritten Schritt ins Spiel. Sie sind bereits virulent etwa in einem problemorientierten Einstieg, in der dabei stattfindenden Artikulation von Meinungen und subjektiver Betroffenheit, und sie müssen hier als Wertungen auch schon bewusst gemacht werden. Erzieherisch wird dann allerdings besonders wichtig die Fähigkeit und Bereitschaft, das eigene Urteil hintanzustellen und sich auf den Weg der Informationsaufnahme und -verarbeitung zur Erhellung von Situation und Möglichkeiten einzulassen. Subjektive Betroffenheit kann bekanntlich auch blockieren und auf Vorurteile fixieren. Deshalb muss erfahrbar und auf diesem Weg gelernt werden, dass und warum die Analyse komplexer Situationen und die Erkundung der Möglichkeiten und Grenzen von Politik ihrerseits von ethischer Qualität sind; nämlich als Bedingungen verantwortbaren Urteilens und Handelns. Erst wenn das geleistet ist, kehrt der Unterricht zur Ausgangs- und Leitfrage zurück und tritt in die Phase dialogisch strukturierter Urteilsfindung ein.

Es sei noch einmal betont, dass der Dreischritt politischen Urteilens und Entscheidens idealtypisch gedacht ist. Er kann in der Unterrichtspraxis von der bescheidensten Form einer aktuellen Diskussion bis zum anspruchsvollen Planspiel reichen und deshalb auch auf allen Altersstufen vorkommen. Die in ihm enthaltenen und verwendeten ethischen Kategorien müssen mit zunehmendem Alter der Lerngruppen selbst zunehmend Gegenstand der Reflexion und der Begründung werden. Das bedeutet Zunahme an Komplexität und Differenzierungsvermögen. Damit leistet Politikunterricht dann auch unmittelbar einen Beitrag zu ethischer Bildung, mit Lawrence Kohlberg gesprochen zu kognitiv-moralischer Entwicklung. Nur ist das ein langer Entwicklungsprozeß, der nicht dadurch abgekürzt werden kann, dass man Schülern das Kohlbergsche Modell als kategoriales Instrument in die Hand gibt. Das hat erst Sinn, wenn die Schüler die postkonventionelle Ebene in ihrer individuellen Entwicklung erreicht haben. Deshalb abschließend noch einige Anmerkungen zum Kohlberg-Modell in der politischen Bildung.

Ich habe es nie abgelehnt, mit diesem Modell zu arbeiten. Ich habe das Modell vielmehr prinzipiell positiv gewürdigt, weil es methodisch Gespräch und Auseinandersetzung fordert; weil es didaktisch dem Strukturlernen vor dem Inhaltslernen den Vorrang gibt; weil es pädagogisch auf Urteilsfähigkeit zielt (Sutor 1984 II, S. 29). Ich habe aber mehrfach erhebliche Bedenken formuliert gegen eine gewisse Euphorie und Einseitigkeit, mit der Lawrence Kohlberg in der politischen Didaktik rezipiert wurde; und ich sehe mit Genugtuung, dass Sibylle Reinhardt meine Bedenken prinzipiell teilt. Wir stimmen offenbar darin überein, dass politische Konflikte und Probleme nicht auf individualmoralisch gefasste Dilemmata reduziert und verkürzt werden dürfen, sondern politisch-sozialwissenschaftlich zu bearbeiten sind. Ich wiederhole meine Haupteinwände, wie sie auch Sibylle Reinhardt zustimmend referiert (Reinhardt 1999, S. 90ff.).

Erstens: Allgemeine Prinzipien und moralische Regeln sind zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für politische Urteilsbildung. Vielmehr bedarf es dazu der Sach- und Situationsanalyse sowie der Erschließung politischer Möglichkeiten mit den entsprechenden politisch-sozialwissenschaftlichen Kategorien. In sozialethischer Begründung gesagt: Das höhere Prinzip, die allgemeine Regel hilft zwar, Interessenkonflikte zu relativieren. Es klärt aber nicht die Fragen der Dringlichkeit, die sich situativ und kontextuell stellen und so zu den eigentlich politischen Fragen werden.

Zweitens: Wenn man mit Lawrence Kohlbergs Modell arbeitet, dann muss man unbedingt beachten, dass die niedrigeren Stufen moralischen Urteilens durch die höheren keineswegs obsolet werden, vielmehr in ihnen aufgehoben sind im doppelten Sinn des Wortes: Sie werden überschritten, behalten aber ihr relatives Recht. In der Alltagspolitik geht es um die Vereinbarung konkurrierender Interessen durch Aushandeln nach Regeln der Gegenseitigkeit. Das do ut des gemäß der zweiten Kohlbergschen Stufe ist hier unvermeidlich wirksam, allerdings im Rahmen einer geltenden Rechtsordnung, die sich allgemeiner Anerkennung gemäß Stufe vier erfreut. Diese Realitäten gesellschaftlich-politischen Lebens dürfen wir nicht überspringen in der Annahme, wir könnten sie von den Stufen fünf und sechs aus konkret bewältigen. Die Stufe fünf, der Gesellschaftsvertrag, hat vielmehr die Funktion, den Umgang miteinander gemäß Stufe vier zu begründen, zu legitimieren.

Drittens: Die Kohlbergsche Stufe sechs, im subjektiven Gewissen internalisierte allgemeine Prinzipien, zielt auf Fragen der Letztbegründung und der Gesinnung. Sie muss gemäß unserer europäischen Denktradition in einer Ethik der Menschenwürde den höheren Rang haben, auch über dem Gesellschaftsvertrag, aber der Rückzug auf sie impliziert Probleme, die politisch nicht mehr lösbar sind. Jeder kann und darf sich auf sein Gewissen berufen, es gehört aber zu politischer Bildung zu wissen, dass man in der Politik das Gewissen bzw. die eigene gute Gesinnung nicht unnötig strapazieren soll. Das führt zu gesinnungshaftem Moralisieren unter Vernachlässigung sowohl der fachlich zu klärenden Sachfragen wie der politischen Interessen-, Macht- und Konstellationsfaktoren. Jürgen Kahlert hat in seiner breit angelegten empirischen Untersuchung über umweltpädagogische Literatur der achtziger Jahre überzeugend nachgewiesen, wie fatal damit politische Erziehung ihre Aufgabe der verständigungsorientierten Kommunikation verfehlt.

Ich bleibe auch im Blick auf manche Unterrichtsmodelle, die nach Kohlberg strukturiert sind, bei meinen Bedenken. Motivationspsychologisch mag es hilfreich sein, zumal bei jüngeren Jahrgängen, mit einem individualmoralisch gefassten Dilemma in eine Problematik einzuführen. Nur kann man gerade jüngeren Lerngruppen das Kohlberg-Modell nicht einfach als Instrument an die Hand geben. Das moralische Dilemma sollte dazu helfen, zum politischen Konflikt und zu Fragen seiner Lösbarkeit hinzuführen, wenn wir denn politisches Urteilen einüben wollen. Deshalb stört es mich, dass in manchen nach Kohlberg konzipierten Entwürfen die sogenannte politische Ausweitung erst am Schluss kommt. Das Politische gehört ins Zentrum unseres Unterrichts, sonst kommen wir aus den verbreiteten moralisierenden Vorurteilen und Fixierungen nicht heraus. Nicht individualmoralische Dilemmata bilden das Zentrum politischer Bildung, sondern die Frage, wie politische Ordnung dazu hilft, solche Dilemmata zu vermeiden und die gesellschaftlich gemeinsamen Probleme zu lösen. Daran bemisst sich der ethische Wert einer Ordnung und der moralische Gehalt von Politik.

Anmerkungen:

1. Aristoteles: Nikomachische Ethik III 5, S. 1112a; Thomas von Aquin: Summa I/II 13 und 14

2. Ausführlicher dazu Bernhard Sutor 1991, S. 70ff.

  1. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hier zitiert nach Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Werken in zehn Bänden. Band 6. Darmstadt 1956, S. 18
  2. Zu Habermas vgl. Walter Reese-Schäfer 1997, S. 111ff.; zu "Faktizität und Geltung" S. 150ff. Zu dem philosophiegeschichtlichen Exkurs vgl. Ernst Vollrath 1996.
  3. Vgl. Hans Buchheim 1981, S. 15ff.
  4. Ausführlicher dazu Bernhard Sutor 1997, S. 41ff.
  5. Vgl. Sibyyle Reinhardt 1999, S. 149ff. Selbstverständlich gehört in die öffentliche Schule die gemeinsame Reflexion von Werten. Dazu bieten viele Fächer Gelegenheit, und auch ein von Toleranz geprägter Religionsunterricht steht dem nicht im Wege. Im Gegenteil, er am ehesten könnte in der Lage sein, eine Antwort zu finden auf die Frage, wie persönliche religiös-sittliche Identität und Toleranz zu vereinbaren sind, ohne in Indifferenz zu münden. Der Staat hat darauf keine Antwort, aber er lebt davon, dass möglichst viele seiner Bürger und Bürgerinnen eine solche finden und aus ihr leben.
  6. Ausführlichere Darstellung und Begründung von Phasenstruktur und Kategorien in Bernhard Sutor 1984 (II), S. 68ff.

Literaturverzeichnis

Bayertz, Kurt (Hrsg.): Politik und Ethik. Stuttgart 1996

Buchheim, Hans: Theorie der Politik. München und Wien 1981

Habermas, Jürgen: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt/Main 1983

Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt/Main 1992

Kahlert,Jürgen: Alltagstheorien in der Umweltpädagogik. Eine sozialwissenschaftliche Analyse. Weinheim 1990

Reese-Schäfer, Walter: Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik. Frankfurt/Main 1997

Reinhardt, Sibylle: Werte-Bildung und politische Bildung. Zur Reflexivität von Lernprozessen. Opladen 1999

Sutor, Bernhard: Neue Grundlegung politischer Bildung. 2 Bände. Paderborn 1984

Sutor, Bernhard: Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre. Paderborn 1991

Sutor, Bernhard: Kleine politische Ethik. Bonn und Opladen 1997

Vollrath, Ernst: Der reflexionsmoralische Fehlschluß. In: Kurt Bayertz (Hrsg.): Politik und Ethik. Stuttgart 1996, S. 91ff.


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