Baustein

"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

2.2 Euthanasie in Grafeneck

Die "T4-Aktion" und die Länderverwaltungen




Inhaltsverzeichnis     


Bei den hier behandelten Personen handelt es sich um staatliche Spitzenfunktionäre auf der Ebene der südwestdeutschen Länder- bzw. Anstaltsverwaltungen.

Der Gesamtvorgang der "Euthanasie"-Verbrechen, so auch der ‚Aktion T4‘, war, wie wir wissen, was die beteiligten Institutionen, Organisationen und Personen anging, ein komplexer arbeitsteilig organisierter Prozeß. Voraussetzung für sein reibungsloses Gelingen war, wenn man sowohl die staatlichen als auch parteiamtliche Stellen auf Reichsebene außer acht läßt, die Mitwirkung der Länderverwaltungen, die ihre Apparate in den Dienst der Vernichtungsaktion gestellt haben. Auch in Südwestdeutschland - Württemberg und Baden - waren, bedingt durch eine komplexe Anstaltsstruktur, eine Vielzahl verschiedener Stellen, Aufsichts- und Oberaufsichtsbehörden, involviert. Die organisatorischen Zentren stellten aber unzweifelhaft die Innenministerien - in Stuttgart und Karlsruhe angesiedelt - dar. Es handelte sich im einzelnen um die staatlichen Verwaltungsapparate in Gestalt der Gesundheitsverwaltungen und deren Personal (Funktionselite). Vorausgeschickt werden soll, daß keiner der bei der "Euthanasie" federführenden Akteure in deren Verlauf zurückgetreten ist, noch wurde dieser Schritt angedroht, noch wurde sonst irgendwie versucht, sich der Mitarbeit zu entziehen bzw. seine Mitwirkung zu versagen.

Nun zu den Akteuren, zwei stammen hierbei aus Württemberg, einer aus Baden. Es sind dies: Dr. med. Eugen Stähle (1890-1948), Obermedizinalrat und Ministerialrat, Leiter der württembergischen Medizinalverwaltung, Geschäftsteil X des Württembergischen Innenministeriums; Dr. med. Karl Mailänder (1883-1960), Oberregierungsrat, Leiter des Landesfürsorgeverbandes Württemberg und der ‚Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen‘ in Württemberg; Dr. med. Arthur Schreck (1878-1963), Medizinalrat und Anstaltsdirektor verschiedener staatlicher Heil- und Pflegeanstalten in Baden. Die Auswahl dieser drei Personen geschieht insofern bewußt, als sie innerhalb der südwestdeutschen Länderverwaltungen drei verschiedenen Hierarchieebenen angehörten.

Formal ranghöchster war der zuerst erwähnte Eugen Stähle, Leiter der Gesundheitsabteilung, Geschäftsteil X, des württembergischen Innenministeriums. Direkt unterstanden ihm alle staatlichen und privaten württembergischen Anstalten - indirekt auch die der freien Wohlfahrtspflege - aus denen 1940/41 über 4.000 Menschen in Grafeneck und Hadamar ermordet wurden. Seine Karriere verlief sehr steil. Er war das, was man einen überzeugten Nationalsozialisten nennen kann. Neben seiner exponierten Stelle im württembergischen Staatsdienst hatte er ebenfalls parteiamtliche und berufsständische Ämter und Funktionen inne. Nun kurz zu seinem Werdegang: Er absolvierte ein Medizinstudium in Tübingen, wo er derselben studentischen Verbindung "Normannia" wie der Leiter der Anstalt Stetten i.R., Ludwig Schlaich, angehörte. Er war Offizier im Ersten Weltkrieg, Mitglied der NSDAP seit 1923, Ortsgruppenleiter von Nagold (Kr. Calw), Reichstagsabgeordneter 1932/33, parteiamtlicher Gesundheitsführer bzw. Gauamtsleiter des Hauptamtes für Volksgesundheit in Württemberg, daneben Vorsitzender des Ärztevereins Calw/Nagold und später Vorsitzender des württembergischen Ärzteverbandes.

Im Rahmen des Grafeneck-Verfahrens gab er folgendes zu Protokoll:

"Die Maßnahmen wurden von der Reichsregierung eingeleitet und ich habe als Beamter die Pflicht, derartige Maßnahmen zu verteidigen und geistig zu unterbauen. Als Reichsverteidigungsmaßnahme im Falle eines Krieges billige ich die Sache im Falle eines außergewöhnlichen Notstandes. Dieser war gegeben durch Platzmangel in den Anstalten, Lebensmittelnot und Personalmangel."

Neben diese Trias "Raum-/Bettenmangel, Nahrungsmittelmangel, Ärzte-/ Pflegepersonalmangel" traten als Unterfütterung seiner Motivation biologistisch-sozialdarwinistische - rassenhygienische und rassenantisemitische Argumentationen.

Die ‚Pflichten‘ Stähles bestanden im einzelnen darin, den Wahl des Standortes für die erste Vernichtungsanstalt der "Aktion T4" festzulegen sowie die Beschlagnahme Grafenecks selbst, alle Verlegungen aus württembergischen Anstalten anzuordnen und nicht zuletzt, regelrechte Patientenselektionen durch seinen Stellvertreter Dr. Otto Mauthe und den Landesjugendarzt Dr. Max Eyrich in einer Zahl von württembergischen konfessionellen Anstalten vornehmen zu lassen. Ebenfalls läßt sich der sogenannte ‚Sperrerlaß‘ vom 9. September 1940, der Entlassungen von Patienten aus den Anstalten Württembergs von der Zustimmung der Medizinalverwaltung abhängig machte, auf Stähle zurückführen.

Wie alle Medizinaldezernenten der Länderverwaltungen war auch Stähle bereits im Herbst 1939 in Berlin über die bevorstehende ‚Aktion‘ unterrichtet worden. Aber nur er und sein Kollegen im badischen sowie im bayerischen Innenministerium, die Ministerialräte Dr. Ludwig Sprauer und Dr. Walter Schultze, mithin die Medizinaldezernenten der süddeutschen Länderverwaltungen, wurden zu den Beratungen über ein geplantes "Euthanasie"-Gesetz herangezogen.

Eine Hierarchieebene unter Stähle war Oberregierungsrat Karl Mailänder angesiedelt. Er war Vorstand der sogenannten 'Zentralleitung für das Stiftungs- und Anstaltswesen' in Württemberg. Ihm unterstanden die über ein Dutzend konfessionellen Anstalten des Landes; gleichzeitig fungierte er, sozusagen in ‚Personalunion‘, als Leiter des Württembergischen Landesfürsorgeverbandes. In dieser Funktion hatte er die Aufsicht über vier weitere Einrichtungen, die sogenannten Landesfürsorgeanstalten, inne. Neben seiner doppelten Funktion als "Fürsorgeexperte", in der er im Auftrag des württembergischen Innenministeriums Kontrollbefugnisse über die konfessionelle Anstalten und die Landesfürsorgeanstalten innehatte, war er Vorsitzender des Beamtenausschusses der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) sowie Vorsitzender des Vereins Höherer Verwaltungsbeamter in Württemberg.

Über die "Euthanasie"-Maßnahmen war Mailänder vollständig informiert. Alle staatliche Erlasse gingen über die Zentralleitung an die einzelnen Einrichtungen. Generelle Einwände wurden von ihm nicht formuliert. Nachweisbar sind jedoch Bedenken, was die Durchführungsmodalitäten angeht.

Als der Fachmann und Wohlfahrtsexperte leistete er dem NS-Regime unschätzbare Dienste bei der sukzessiven Vereinnahmung der freien Wohlfahrtsverbände durch die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und der Gleichschaltung des Wohlfahrtswesens. Damit leistete er, wie in einem neueren Werk zur Beamtenschaft in Württemberg ausgedrückt, einen beachtlichen Beitrag "zur Planierung teilautonomer gesellschaftlicher Institutionen" im Sinne des NS-Staates. Angedeutet wurde bereits daß er grundsätzlich keine Einwände gegen die "Euthanasie"-Aktion formulierte, im Einzelnen aber die Art der Durchführung beklagte und aus seiner Sicht ‚Auswüchse‘ bekämpfte. Hierbei kann man ihm - und das unterscheidet ihn von Stähle - Mut und Zivilcourage nicht gänzlich absprechen.

Daneben bereitete es ihm aber keine Schwierigkeiten im Auftrag des Württembergischen Innenministeriums in den ihm unterstehenden Anstalten diejenigen "geisteskranken, schwachsinnigen, und epileptischen" Patienten namentlich erfassen zu lassen, die dort auf öffentliche Kosten untergebracht waren. Am 10. Juni 1940 erreichte der Erlaß der Zentralleitung die betreffenden Einrichtungen. Bereits eineinhalb Monate später, am 26. August, konnte Mailänders Zentralleitung Vollzug melden und die angeforderten Patientendaten an Stähle im Württembergischen Innenministerium übergeben. Im 1949 stattgefundenen Grafeneck-Prozeß wurde keine Anklage gegen Mailänder erhoben.

Die dritte Person, Ministerialrat Dr. Arthur Schreck, war seit 1934 Direktor der neugegründeten staatlichen Pflegeanstalt Rastatt. Später, nachdem durch seine tatkräftige Mithilfe die eigene Anstalt Rastatt aufgelöst und die Mehrzahl der Patienten, 448 von 579, in Grafeneck ermordet worden war, wurde er zum kommissarischen Leiter der badischen Heil- und Pflegeanstalt Illenau und zum stellvertretenden Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Wiesloch bestellt. Auch die Auflösung der Illenau kann auf sein Wirken zurückgeführt werden. Seit Februar 1940 war er parallel hierzu einer der Gutachter der T4. Bis November 1940 "begutachtete" er 15.000 Meldebögen, davon 8000 mit dem roten Plus, was in der Regel den Todesurteil der Patienten bedeutete.

Betrachtet man die Motivation so lassen sich zwischen dem zuerst beschriebenen E. Stähle und dem letzt genannten A. Schreck eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten feststellen. Beide sind grundsätzlich Verfechter der "Euthanasie". Gedankliche Bezugspunkte sind die Begriffe "Staat" und "Volk" bzw. "Volkskörper".

Beide verweisen in den gegen sie angestrengten Nachkriegsprozessen auf ‚Befehlsnotstand‘, also auf Anordnungen vorgesetzter staatlicher Stellen.

Daneben aber, auffallend vor allem bei A. Schreck, stehen immer wieder reine Nützlichkeits- oder Zweckmäßigkeitserwägungen im Mittelpunkt der Argumentation.

Ganz wörtlich zu verstehen waren bei ihm das Motiv der "Ausschaltung überflüssiger Esser" im Interesse der Ernährungssicherung, der in Krisen- und Kriegszeiten notwendigen Sparmaßnahmen und nicht zuletzt der "Bereitstellung von Lazarettraum für die Wehrmacht".

Relativ schlüssig lassen sich bei Schreck Motivlagen und Handlungsweisen erklären. Auszugehen ist hierbei von einem Amalgam etatistischer und rassehygienischer Vorstellungen. Ganz oben in dieser Werteskala rangierten eindeutig Zweckmäßigkeitserwägungen des Staates und fiskalische Interessen.

 

In den 30er Jahren zeigte sich Schreck als konsequenter Befürworter einer Trennung der Pflege- von den Heilanstalten. In letzteren sollte mit Hilfe eines aktiven Programms geheilt werden, in ersteren, hierzu zählte auch seine eigene Pflegeanstalt Rastatt, sollten die Kranken möglichst kostengünstig aufbewahrt werden. (Konzept der Billig- und Leistungsmedizin). Oberstes Ziel war die Verwirklichung einer maximalen staatlichen Sparpolitik. In den Jahren 1939 und 1940 befürwortete Schreck dann auch die Errichtung sogenannter Landespflege- oder Reichsanstalten in denen dann ab Januar 1940 - Grafeneck - die Tötung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen begann.

Nach eigener Auffassung trieb er diese staatliche "Sparpolitik", erstes bei der Ausfüllung der Meldebogen für seine eigenen Patienten, zweitens bei der Liquidation der badischen Anstalten Rastatt und Illenau und drittens bei seiner Tätigkeit als Gutachter im Dienste der "Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten".

Das Gericht des in Freiburg stattgefundenen badischen "Euthanasie"-Prozesses befand, die Auslassungen Schrecks entsprechen einem "krassen Zweckdenken, dem er offensichtlich ganz verfallen ist (...) und der wiederholt vorgebrachten Ansicht (...) die ‚Euthanasie" sei eine Finanzfrage: In wirtschaftlich guten Zeiten könne sich der Staat den Luxus leisten, die unheilbar und schwer Geisteskranken auf Kosten der Gesunden mit durchzuschleppen, in Notzeiten müsse er sie abstoßen dürfen".

Das zu Beginn skizzierte Bild von den Tätern, die als auswechselbare ‚Rädchen im Getriebe‘ des Vernichtungsprozesses agierten, bedarf einer ergänzenden Sichtweise. Denn es betont zu stark die Rolle des ‚Getriebenen‘, des unter Handlungszwang und Befehlsnotstand handelnden. Vernachlässigt wird hierbei der Aspekt, daß die Täter nicht nur passive vollziehende Organe, sondern ebenfalls als ‚Treibende‘, beziehungsweise ‚Vorwärtstreibende‘ und somit - wenn auch in abgestufter Form und Verantwortlichkeit - ‚Motoren‘ des Vernichtungsprozesses waren.


 


Copyright ©   2000  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de