Baustein

"Euthanasie" im NS-Staat: Grafeneck im Jahr 1940

Hrsg: LpB, 2000

 

2.1 Grafeneck - Die Aktion T4

Die Meldebogen-Aktion




Inhaltsverzeichnis     


Bouhler bat erstmals schon im Juli 1939 15-20 Ärzte, z.T. namhafte Mediziner und Anstaltsdirektoren, zu einem Gespräch nach Berlin, um Maßnahmen für das geplante "Euthanasie"-Programm vorzubesprechen. Dabei erklärte er, durch die Tötung eines Teils der Geisteskranken werde notwendiger Lazarettraum für den bevorstehenden Krieg geschaffen und das freiwerdende Personal könne zur Versorgung der Verwundeten eingesetzt werden. Niemand, so betonte er, werde zum Mitmachen gezwungen, allerdings sei jedermann zur absoluten Geheimhaltung verpflichtet. Alle Anwesenden außer dem Berliner Ordinarius für Psychologie de Crinis sagten dabei ihre aktive Mitwirkung zu.

Am 9. Oktober 1939 versandte das Reichsinnenministerium einen von Staatssekretär und Reichsärzteführer Dr. Conti unterzeichneten Runderlaß an alle Anstalten, der den praktischen Anfang der Erfassung der für die Euthanasie auszusuchenden Opfer bedeutete. Die Anstaltsleitungen sollten Angaben über die Beschaffenheit ihrer Einrichtung machen und für bestimmte Patienten, die sich seit mindestens 5 Jahren in Behandlung befänden, Meldebogen auszufüllen (M 16, 17, s. auch 18). Die Adressaten für Württemberg standen auf einer Liste, die von Dr. Eugen Stähle, Ministerialrat im Württembergischen Innenministerium, erstellt wurde. Ebenso wurden auch alle Ärzte aufgefordert, entsprechende Privatpatienten zu melden.

Da für das Ausfüllen der Meldebogen knappe Fristen gesetzt waren, z.T. kaum mehr als eine Woche, wurden sie von manchen Anstalten oberflächlich und fehlerhaft bearbeitet, andere wiederum glaubten an eine beabsichtigte Trennung in Arbeitsfähige und Unheilbare, um erstere besser mit Lebensmitteln versorgen zu können. In manchen Fällen wurde die Flut der Bögen von einem einzigen Arzt im Eilverfahren bearbeitet, gelegentlich sogar von Nichtfachleuten. Manche Anstalt wollte auch ihre billigen und bewährten Arbeitskräfte, die längst hätten entlassen werden können, sich aber an das Leben in der Anstalt gewöhnt hatten, behalten und bewertete deshalb ihre Arbeitskraft weit unter Wert, in der Hoffnung, sie dann nicht zu verlieren. Tatsächlich war eine solche Bewertung aber das sichere Todesurteil.

Die von den Anstaltsleitungen ausgefüllten Meldebögen gingen dann zurück an Dr. Linden im Reichsinnenministerium, der allerdings nur als Briefkasten diente und die unbearbeiteten Bögen ins Columbus-Haus am Potsdamer Platz schickte, von wo sie an ausgewählte medizinische Gutachter weitergeleitet wurden. Auf der Gutachterliste von T4 standen bekannte Persönlichkeiten: Ordinarien, Professoren und Anstaltsdirektoren. Sie entschieden mit einem roten Plus (Tod) oder blauen Minus (Leben) darüber, ob der Patient sterben mußte oder nicht, ohne die betreffende Person oder ihre Akten je gesehen zu haben.

Dabei konnte man sich geschickt auch solcher "Elemente" entledigen, die in der Vergangenheit bereits irgendwie unangenehm aufgefallen waren.

War das Todesurteil erst einmal gefällt, bedurfte es nur noch der Planung des Abtransports, den man den Anstalten und Angehörigen gegenüber als "Verlegung" tarnte. In der Zentraldienststelle in Berlin wurde eine Liste der "positiv", d.h. mit einem den Tod bedeutenden roten Plus begutachteten Patienten zusammengestellt und an die einzelnen Tötungsanstalten verschickt. In Württemberg erhielten die Anstalten in diesem Zusammenhang ein Schreiben des Innenministeriums in Stuttgart, in dem sie Dr. Eugen Stähle, Ministerialrat, ein fanatischer Nationalsozialist und hundertprozentiger Anhänger der Euthanasie, darüber informierte, welche ihrer Heiminsassen durch die "Gemeinnützige Kranken-Transport GmbH" (Gekrat) jeweils abgeholt würden. Die beigefügten Transportlisten enthielten nur eine laufende Nummer, den Patientennamen, die Krankennummer, Geburtstag und -ort.

Da die Tötungsanstalten eine bestimmte "Höchstkapazität" besaßen, Grafeneck z.B. 75, blieb den Anstalten dann, wenn die Liste mehr Namen umfaßte, ein gewisser Spielraum, der von den Anstaltsleitungen in der Regel dazu benutzt wurde, bewährte und unentbehrliche Arbeitskräfte zu retten.

Die von der Verlegung betroffenen Geisteskranken und Behinderten hatten ihre eigene Kleidung und das gesamte Privateigentum mitzuführen, das in einer gesonderten Liste akribisch genau aufgeführt und später zusammen mit einem Trostbrief den Angehörigen zugestellt wurde (M 25).

Auch die Angehörigen erhielten eine Mitteilung über die Verlegung, die allerdings immer erst im nachhinein erfolgte und sehr allgemein gehalten war. Wohin ihr Angehöriger gekommen war, erfuhren sie erst aus einer weiteren Mitteilung durch die aufnehmende Tötungsanstalt. Aber zu dem Zeitpunkt, an dem sie dieses Schreiben bekamen, war ihr Angehöriger längst vergast.


 


Copyright ©   2000  LpB Baden-Württemberg   HOME

Kontakt / Vorschläge / Verbesserungen bitte an: lpb@lpb-bw.de