Baustein

"Evakuiert" und
"Unbekannt verzogen"

Die Deportation der Juden aus Württemberg und Hohenzollern 1941 - 1945

 

1. Texte und Materialien



Inhaltsverzeichnis


M 1

In einem parteiinternen Bericht des Obersten Parteigerichts der NSDAP vom Februar 1939, der 1946 in Nürnberg dem Internationalen Militärgerichtshof als Beweisstück vorgelegt wird, heißt es:

"Die mündlich gegebenen Weisungen des Reichspropagandaleiters sind von sämtlichen anwesenden Parteiführern so verstanden worden, dass die Partei nach außen nicht als Urheber der Demonstrationen in Erscheinung treten, sie in Wirklichkeit aber organisieren und durchführen sollte." 36

M 2

"Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung gehen z. Z. laufend Eisenbahntransporte mit je 1000 Juden aus dem Altreich [...] nach dem Reichskommissariat Ostland. Württemberg ist daran zunächst mit einem Transport von 1000 Juden beteiligt, der am 1.12.1941 von Stuttgart aus abgeht. [...]
Die in Frage kommenden Juden wurden bereits hier zahlenmäßig und personell erfasst. [...]
Der für die Beförderung der Juden vorgesehene Eisenbahnzug fährt fahrplanmäßig am 1. Dezember 1941 zwischen 8 und 9 Uhr von Stuttgart ab. Die zu evakuierenden Juden [...] werden in einem Durchgangslager auf dem Gelände der früheren Reichsgartenschau (Killesberg) in Stuttgart vom 27.11.1941 ab konzentriert. [...]
 
Es darf pro Person mitgenommen werden:
Zahlungsmittel bis zu RM 50.– in Reichskreditkassenscheinen. Die Beschaffung dieser Zahlungsmittel erfolgt von hier aus, so dass die dortigen Juden praktisch keine Zahlungsmittel beim Transport mit sich führen dürfen.
1 oder 2 Koffer mit Ausrüstungsstücken [...]. Dieses Gepäck darf das Gewicht von 50 kg nicht überschreiten.
Bettzeug [...], Vollständige Bekleidung [...], Mundvorrat für 1-2 Tage [...] Essgeschirr [...].
 
N i c h t mitgenommen werden dürfen: Wertpapiere, Devisen, Sparkassenbücher usw., Wertsachen aller Art (Gold, Silber, Platin, mit Ausnahme des Eherings), lebendes Inventar.
 
Die ab 1.12.1941 gültigen Lebensmittelkarten sind vorher [...] abzugeben.
Vor Überstellung der [...] Transporte nach hier ist durch die Ortspolizeibehörde eine eingehende Durchsuchung nach Waffen, Munition , Sprengstoffen, Gift, Devisen, Schmuck usw. vorzunehmen. Das dabei erfasste Vermögen ist listenmäßig dem örtlichen Finanzamt zu übergeben [...]
 
Um etwaigen Vermögensverschiebungen vorzubeugen, wird das Vermögen der abzuschiebenden Juden in seiner Gesamtheit staatspolizeilich beschlagnahmt.
Über die Jüdische Kultusvereinigung ist den Juden bereits das als Anlage beigefügte Formular einer Vermögenserklärung zugegangen, in dem sie ihr Vermögen restlos aufzuführen und das Verzeichnis bis spätestens 15.11.1941 dem jeweiligen Bürgermeisteramt vorzulegen haben. Die Bürgermeister haben die Verzeichnisse stichprobenweise nachzuprüfen und dem zuständigen Finanzamt einzusenden.
Das gesamte Vermögen dieser Juden wird generell eingezogen. [...]. Die Liquidation führt der Oberfinanzpräsident in Württemberg durch die örtlichen Finanzämter durch. Ich ersuche daher, sofort mit diesen wegen der Versiegelung der Wohnungen und sonstigen Maßnahmen in Fühlung zu treten [...].
 
Die zur Evakuierung kommenden Juden wurden aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung und der Einheitlichkeit wegen auf meine Anordnung durch die Jüdische Kultusvereinigung heute durch das in Mehrfertigung beiliegende Rundschreiben (Einschreiben) verständigt. [...]
 
Zur Sammlung des übrigen, zum Teil schweren Gepäcks habe ich für den ganzen Bereich Württemberg und Hohenzollern die Firma Barr, Möhring und Co., Stuttgart, beauftragt. Sie hat im Benehmen mit der dortigen Behörde das anfallende Gut [...] zusammenzuziehen und zum Abgangsbahnhof zu befördern [...]
Weil in dem Siedlungsgebiet zur Errichtung eines Ghettos nicht das geringste Material vorhanden ist, ersuche ich ferner [...] zu veranlassen, das sich eine nach der jeweiligen Kopfzahl richtende Menge von Baugerät, Werkzeugkästen, ferner Küchengerät für Gemeinschaftsverpflegung, z.B. Kessel, sowie Öfen, Eimer und Sanitätskästen vorhanden sind. [...]: Auf je 10 Personen einen Eimer, eine Schaufel oder einen Spaten, einen Pickel, ein scharfes Beil oder eine Axt, auf je 20 Personen eine Säge, einen größeren Werkzeugkasten, auf je 50 Personen einen Ofen mit Ofenrohr und Ofenblech und Sanitätskasten, auf je 100 Personen einen Kochkessel und eine Nähmaschine [...].
 
Dortige Aufgabe 37 [d.h. Aufgabe der Landrats- und der Bürgermeisterämter] ist es also, die Juden rechtzeitig zu sammeln, im Benehmen mit den Finanzbehörden das Vermögen sicherzustellen, die Wohnungen zu versiegeln, evtl. Hausverwalter zu bestellen, die einzelnen Personen durchsuchen zu lassen, das Gepäck zu kontrollieren und mit einer entsprechenden Anzahl von Beamten im Sammellager Stuttgart einzuliefern.
Soweit für den Personentransport nach Stuttgart im Hinblick auf die Zahl der zu befördernden Personen besondere Eisenbahnwagen benötigt werden, ist das Erforderliche von dort aus zu veranlassen. Der Transportführer (Beamter) hat eine genaue Transportliste, die die Transportnummer, die Personalien, den Beruf und die Kennummer enthält, in vierfacher Fertigung vorzulegen.
In Vertretung:

Mußgay." 38

M 3

z.B.:
Für den Erwerb der erlaubten Reichskreditkassenscheine in Höhe von RM 50,-- sowie zweier Proviantpakete im Wert von RM 7,65 sind umgehend RM 57,65 bei der Jüdischen Kultusvereinigung Stuttgart einzuzahlen. Die eingeteilten Personen haben sich ab dem 26. November 1941 in ihrer Unterkunft bereit zu halten und dürfen diese ohne besondere Erlaubnis der Behörden nicht verlassen. Beigefügt ist dem Schreiben auch eine zweiseitige Auflistung, die je nach Erfordernis der Zusammenstellung des persönlichen Gepäcks dienen soll.

M 4

Sammellager auf dem Killesberg
in der sog. "Ehrenhalle des Reichsernährungsstandes"
der Reichsgartenschau 1939
Quelle: Stadtarchiv Stuttgart

 

 

M 5 (mit dem Film „Synagoge Baisingen“ kombinieren)

Harry Kahn
Die wenigen Überlebenden machten bis zu ihrer Befreiung oft eine wahre Odyssee mit: Harry Kahn aus Baisingen (*1911) blieb bis 1944 in Jungfernhof, wurde nach kurzem Aufenthalt in den Lagern Ogre und Kaiserwald nach Stuttgart gebracht. Von dort aus kam er nach Buchenwald, dann nach Rehmsdorf und Komotau. Seine letzte Station als KZ-Häftling war Theresienstadt. Zum Zeitpunkt der Befreiung waren von den 828 Juden, die bereits am 30. Januar 1933 in Baden-Württemberg ansässig gewesen und am 1.12.1941 von Stuttgart aus deportiert worden waren, noch 35 am Leben.39

M 6

Das Deportationsgleis am Nordbahnhof im Frühjahr 2002.
Foto: Stiftung Geißstraße Sieben

 

M 7

Ansichtsskizze zum Entwurf für die Gedenkstätte aus dem Wettbewerb.
Foto: Stiftung Geißstraße Sieben

M 9

Literarische Parallelen – Jurek Becker, Jakob der Lügner
Pünktlich zum Arbeitsbeginn trifft Jakob vor dem verschlossenen Bahnhofstor ein und liest die dort befestigte Bekanntmachung. Daß wir alle uns heute Mittag, Punkt dreizehn Uhr, auf dem Platz vor dem Revier einzufinden haben, fünf Kilo Gepäck pro Person, die Wohnungen sind unverschlossen und in sauberem Zustand zurückzulassen, wer nach der festgesetzten Zeit in seinem Haus angetroffen wird, das gleiche gilt auch für Bettlägerige und Gebrechliche, Näheres um dreizehn Uhr am angegebenen Ort. […] Dann fahren wir. In dem Waggon ist es sehr stickig und heiß, die Juden hocken oder sitzen neben ihren fünf Kilogramm auf dem Boden, mindestens dreißig, meine ich. Das Schlafen in der Nacht, falls die reise so lange dauert, wird ein Problem, denn hinlegen können sich alle auf einmal nicht, man wird es schichtweise tun müssen. Dunkel ist es auch, die wenigen schmalen Luken unter dem dach geben nur schwaches Licht, außerdem sind sie fast ständig besetzt. Gespräche sind kaum zu hören, die meisten sehen aus, als hätten sie über schrecklich wichtige und ernste Dinge nachzudenken, dabei könnte man sich unter dem Geräusch der rollenden Räder unbelauscht unterhalten, trotz der Enge, wenn man nur wollte. […] wir fahren, wohin wir fahren.40

M 12

Erschießungs- und Gräberstätte Bikernieki 1941

 

M 13
Erschießungs- und Gräberstätte Bikernieki 2001.
Durch das weitläufige Gelände führt der "Weg des Todes", vom zentralen Gedenkplatz zu den einzelnen Grabfeldern. Entlang des Weges stehen Betonstelen mit Davidstern, Kreuz oder Dornenkranz.
Außer den jüdischen Opfern des Ghettos wurden hier auch lettische Verfolgte (für sie steht das Kreuz) und Kriegsgefangene unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Nationalität (Dornenkranz) ermordet.

M 15

Die heutige Gräber- und Gedenkstätte Riga.
Die weiße Marmorstruktur bildet das Zentrum. Das Feld mit den Granitsteinen symbolisiert sowohl die Zahl der Opfer wie auch die widerstrebende und unwirtliche Aura des Ortes.
Der Künstler Sergejs Rizs sagt dazu: "Die Steine sind wie ein Schrei der schuldlos Getöteten und lassen erkennen, dass der gesamte Ort ein einziger Hinrichtungsplatz war". Im Vordergrund eine der Stelen entlang des "Weges des Todes". Sie tragen je nach den Gruppen von Opfern unterschiedliche Symbole, hier mit Dornenkranz als Märtyrer-Zeichen für die sowjetischen Kriegsgefangenen.

Foto: Uldis Briedis, Riga

M 16

Motiv von Plakat und Katalog der Wanderausstellung
" Ruth 'Sara' Lax, 5 Jahre alt, deportiert nach Riga "
Deportation und Vernichtung badischer und württembergischer Juden
Quelle: Staatsarchiv Ludwigsburg / Katharina Schmidt, Kirchheim u.T.



Ansprechpartner für Auskünfte und Buchungen ist das
Bundesarchiv - Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte,
Frau Jesse, Herrenstraße 18 (Schloss), Postfach 1235, 76402 Rastatt,
Tel.: (07222) 77139-4, Fax: 777139-7


 

Kommentiertes Verzeichnis der Quellen und Literatur

Umfangreiches Quellenmaterial zu den Deportationen ist im Hauptstaatsarchiv Stuttgart im Bestand EA 99/001 zusammengestellt.

Einen raschen Zugriff auf wichtige Dokumente erlaubt:

Sauer, Paul:

Dokumente über die Verfolgung der Jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933-1945. Teile I und II. Im Auftrag der Archivdirektion Stuttgart bearb. von Paul Sauer. Stuttgart 1966. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden Württemberg, Bd. 16 und Bd. 17).

Immer noch die umfassendsten und zuverlässigsten Werke:

Sauer, Paul:

Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933-1945. Stuttgart 1969. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden Württemberg, Bd. 20).

Gedenkbuch:

Die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Baden-Württemberg 1933-1945. Ein Gedenkbuch. Hrsg. von der Archivdirektion Stuttgart. [Bearb. von Paul Sauer]. Stuttgart 1969. (Veröffentlichungen der Staatlichen Archivverwaltung Baden Württemberg, Beiband zu Bd. 20).

Was die Deportationen aus Baden-Württemberg anlangt, weitgehend auf dem vorgenannten

Gedenkbuch basierend, und mit einem benutzerfreundlichen Ortsindex versehen:

Gedenkbuch:

Gedenkbuch. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945. Bearb. vom Bundesarchiv Koblenz, und dem Internationalen Suchdienst Arolsen. 2 Bde. Koblenz 1986.

Ein wichtiges Hilfsmittel für die Erforschung der weiteren Schicksale der nach Theresienstadt deportierten Juden:

Theresienstädter Gedenkbuch:

Theresienstädter Gedenkbuch: Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942-1945. Prag und Berlin 2000.

Benützte Quellen und Literatur

Neben den bereits oben erwähnten Quellen und der Literatur wurden weiter benützt:

Quellen, Gesetzestexte

Stadtarchiv Haigerloch

Akten Nr. 697 und 898.

Staatsarchiv Sigmaringen

Ho 400 Nr. 576

Reichsgesetzblatt

Teil I, Jg. 1938 und Jg. 1941

Literatur

Goebbels, Joseph:
Tagebücher. Hg. von Ralf Georg Reuth. Bd. 3. München 2.1992.

Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT):
Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof.
Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946. (Deutsche Ausgabe). Nachdruck München 1984.

Kammer, Hilde / Elisabet Bartsch:
Lexikon Nationalsozialismus. Begriffe, Organisationen und Institutionen. Reinbek b. Hamburg 1999.

Krausnick, Helmut:
Judenverfolgung. In: Buchheim, Hans [u.a.] (Hg.): Anatomie des SS-Staates. Bd. II.
München1967, S. 233-366.

Poliakov, Léon / Joseph Wulf:
Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze. Berlin 1955.

Sauer, Paul:
Zum 40. Jahrestag der "Reichskristallnacht". Die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg 1933 bis 1945. In: Lehren und Lernen, 4. Jg. 1978, Heft 10, S. 16-52.

Walk, Joseph:
Das Sonderrecht für Juden im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Maßnahmen und Richtlinien – Inhalt und Bedeutung. Heidelberg 2.1996.


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