Baustein 3
Das Warschauer Ghetto
Klassenstufe: |
10 |
Zeitaufwand: |
ca. 4 Unterrichtsstunden (Hauptphase) |
Themen: |
Entstehung und Organisation des Ghettos,
Situation und Überlebensstrategien der Ghettobewohner,
„Gegenwelt" Kultur,
Wendepunkt: Liquidierung des Ghettos / Vernichtung,
Lebensweg eines jüdischen Prominenten: Marcel Reich-Ranicki,
Verbindungslinien Gegenwart / Vergangenheit |
Kombination: |
Die Rettung der Joasia Fichtelbaum (Baustein 8) |
Dem Warschauer Ghetto kommt unter den polnischen Ghettos eine
besondere Bedeutung zu. Es war zunächst das Ghetto der Hauptstadt
Polens, des „größten jüdischen Zentrums in Europa" (A. Mostowicz). Sein
besonderer Status ergibt sich aber nicht nur aus seiner Größe (die Zahl
der eingepferchten Ghettobewohner betrug zeitweilig bis zu einer halben
Million), sondern aus den spezifischen historischen Ereignissen, wie dem
Ghettoaufstand im April 1943 und der nachfolgenden vollständigen
Liquidierung des Ghettos (Mai bis September 1943) _ nicht zuletzt aber
auch aus seinem Stellenwert für das jüdische Selbstverständnis und seine
politisch-symbolischen Bedeutung für die deutsch-jüdische und
deutsch-polnische Aussöhnung.
Über die genannten Aspekte hinaus bietet sich die Behandlung des
Warschauer Ghettos im Unterricht auch wegen der reichhaltigen und leicht
zugänglichen historischen Quellen, wie z.B. Tagebüchern (z.B. Kaplan,
Szajn-Lewin), Fotosammlungen (z.B. Heydecker, Schwarberg/Jöst) und
Filmaufnahmen, an. Durch sie lassen sich Einblicke in Zusammenhänge und
Probleme der Themenbereiche „Ghetto", „Nationalsozialismus" und
„Judentum" vermitteln. Darüber hinaus ist aber zu fragen, ob das
Unterrichtsthema einen Bezugspunkt in der Lebenswirklichkeit der Schüler
hat oder in ihre Alltagswirklichkeit hineinführen kann. Und letztlich
stellt sich die Frage, ob allein die genannten Dokumente des
Schrecklichen einen auf die Dauer tragfähigen Zugang zu dieser Thematik
bieten oder ob nicht, begleitend und unterstützend, im weitesten Sinne
kulturelle Aspekte hinzugenommen werden sollten. Aus diesem Anliegen
heraus wird im folgenden der Versuch unternommen, einen
fächerübergreifenden Ansatz zu skizzieren, der bewußt auch „positivere",
kulturelle Aspekte aufnimmt, ohne allerdings die dunklen Seiten des
Themas zur verharmlosen. Textgrundlage ist deshalb nicht das
empfehlenswerte Tagebuch von Chaim A. Kaplans, sondern die
Autobiographie Marcel Reich-Ranickis, des fast achtzigjährigen, in
Frankfurt lebenden Literaturkritikers, dem „Star" des „Literarischen
Quartetts".
Die Annahme, alle Zehntklässler sähen regelmäßig und mit Begeisterung
das „Literarische Quartett", ist sicherlich unrealistisch. Aber über die
Medien vermittelt, hat Marcel Reich-Ranicki einen derartigen
Bekanntheitsgrad, daß beinahe jeder zumindest eine kabarettistische
Parodie seiner Sprech- und Argumentationsweise kennt. Wohldosierte
Ausschnitte des „Quartetts", in denen er polternd, humorvoll oder
leidenschaftlich-engagiert auftritt, sprechen Schüler erfahrungsgemäß
an, zumal dann, wenn durch den Deutschunterricht auch ihr Urteil über
die besprochenen Bücher gefragt ist. Am Beispiel einer Person der
Zeitgeschichte, eines „VIPs" der heutigen Medienwelt, läßt sich also
eine Linie in das Warschauer Ghetto zurückverfolgen.
Reich-Ranicki gehört innerhalb der Ghetto-Gesellschaft zu einer
gebildeten, bürgerlichen, mit der deutschen und polnischen Kultur
gleichermaßen vertrauten Schicht, die bewußt jüdisch, aber assimiliert
lebt. Im Ghetto kommen dem gerade zwanzigjährigen Reich-Ranicki seine
Deutschkenntnisse und seine solide Berliner Schulbildung zugute. Als
Korrespondent und Übersetzer arbeitet er für den „Judenrat" und steht
damit im Zentrum der Ereignisse, an der Nahtstelle zwischen den
NS-Machthabern und den unterdrückten Juden, und erlebt dort unter
anderem den Moment der Erteilung des Auslöschungsbefehls, wird also zum
Protokollanten seines eigenen Todesurteils. Die persönliche Nähe zu
wichtigen Ereignissen gibt der Autobiographie als „Zeitzeugnis" des
Warschauer Ghettos ihre besondere Qualität.
Die Ich-Perspektive des Textes ermöglicht eine schnelle Identifikation.
Sprachlich ist die Biographie zwar anspruchsvoll, aber, für
Reich-Ranicki typisch, klar und gut verständlich und teilweise spannend
geschrieben; sie liest sich besser als vergleichbare Sachtexte zu diesem
Thema. Je nach Schwerpunktsetzung läßt sich, beispielsweise unter
Hinzunahme von Interviews, die thematische Linie bis in die heutige
Situation der Juden in der Bundesrepublik verlängern bzw. kann über die
prägenden Erfahrungen des Ghettos reflektiert werden. Vergangenheit und
Gegenwart lassen sich insofern in Beziehung setzen.
Kurz sei noch erwähnt, daß die besondere Situation des polnischen
Judentums im Unterricht erläutert werden muß, um bei der Besprechung von
Fotodokumenten usw. nicht Mißverständnisse hervorzurufen. In Warschau
(und in Polen allgemein) gab es „zwei getrennte jüdische Welten" (M.
Reich-Ranicki), eine assimilierte, ausschließlich polnisch sprechende
und eine orthodoxe, jiddisch sprechende. Besonders diese zweite jüdische
Gruppe, die „fern aller Modernität" (A. Szczypiorski) meist auf dem
Lande lebte, traf die Verelendung durch die Zwangsübersiedlung ins
Ghetto in voller Härte, besonders sie waren der Willkür der Nazis (u.a.
durch das Abschneiden oder Abbrennen der Bärte) ausgesetzt. Diese
Zusatzinformationen können in einer „Vorlauf-Reihe" vermittelt werden.
Im Anschluß an die Hauptphase der skizzierten Unterrichtseinheit könnte
ergänzend und vertiefend das Konzentrationslager Treblinka, in dem die
meisten Bewohner des Warschauer Ghettos getötet wurden, behandelt
werden.
Vorlauf, Vorinformation (Religion/Ethik, Geschichte)
Judentum, jüdische Gemeinden in Europa, jüdisches Leben in Warschau vor
der NS-Invasion
Materialien (hier nicht abgedruckt):
- Szczypiorski, A.: Mein Warschau von vor über fünfzig Jahren.
- Vishniac, R.: Verschwundene Welt. (Besonders Foto Nr. 22: Die
Nalewki-Straße, die auch Szczypiorski erwähnt, gehört später zum
Ghetto)
Hauptphase (Geschichte oder Deutsch)
Entstehung des Warschauer Ghettos, Situation und Überlebensstrategien
verschiedener Gruppen, Bedeutung der Musik, Wendepunkt: Befehl zur
„Umsiedlung", gelungene Flucht Reich-Ranickis
Materialien:
- Text: Autobiographie Reich-Ranicki (s. Text 1-5)
- Grundriß des Ghettos. In: Szajn-Lewin, E.: Aufzeichnungen aus dem
Warschauer Ghetto, S. 126-127.
- Fotos: Heydecker, J.J.: Das Warschauer Ghetto.
Alternativ: Schwarberg, G.: Das Getto. [darin: Fotos von Heinrich Jöst]
- Skizzen über Deportationswege ins Ghetto: Heydecker: Das
Warschauer Ghetto, S. 23.
- Zeittafel, zusammengestellt von Arnold Mostowicz (in: Szajn-Lewin,
S. 116ff.)
Arbeitsimpulse
(detaillierte Arbeitsaufgaben können auf dieser Grundlage für die
konkrete Schülergruppe formuliert werden)
Themenbereich 1: Entstehung, Organisation (Text 1)
- Textgattung erläutern, Hintergrundinformationen zur
Autobiographie, Textauszüge auswerten und besprechen,
- Zusammenhänge zwischen Autobiographie, Fotos und Skizzen
herstellen
- Zeitleiste erstellen, berichtete Ereignisse einordnen (s.
Mostowicz)
- in einem historischen Stadtplan Warschaus (30er Jahre)
Ghettogrenzen einzeichnen
- Bevölkerungsdichte (Maximalstand: 500 000 Menschen auf 4 km2,
Vorkriegsstand: 160.000 Menschen), mit eigenem Wohnort vergleichen
- „Organisationsprobleme" aus Sicht der NS-Machthaber / der
Ghettobewohner
- propagandistischen Sprachgebrauch, Verschleierung (z.B. „Jüdischer
Wohnbezirk") analysieren
- Situation, Handlungsmöglichkeiten einzelner Personen überlegen
(ausgehend von Fotos oder Texten)
Themenbereich 2: Leben und Überleben im Ghetto (Text 2, 3, 5)
- Situation und Überlebensstrategien der Menschen: Schutz vor
Krankheit, „Mundraub", „Gegenwelt der Musik", Fluchtversuche
- anthropologischer Aspekt: Notwendigkeit einer „Perspektive" für den
Menschen, um weiterleben zu können (vgl. Funktion des Radios in „Jakob
der Lügner")
- das erwähnte Beethoven-Streichquartett anhören; Zusammenhang zum
Vorspann des „Literarischen Quartetts" aufzeigen: Videoausschnitt
- diese Art und Weise des Erinnerns wahrnehmen und besprechen
- Ergänzung: Geschehnisse außerhalb der Ghettomauer: Fluchtversuche,
Rettungsaktionen etc.; in literarischer Form bei: Szczypiorski, A.: Die
schöne Frau Seidenman.
Themenbereich 3: Wendepunkt (Text 4)
- Widerspruch zwischen Musik draußen (Walzer) und dem Geschehen
innen (Mordbefehl) herausarbeiten
- propagandistischer Sprachgebrauch, Verschleierung (z.B.
„Umsiedlung) analysieren
- geplante Ausbeutung/ Bereicherung (s. Schmuck- und Geldmitnahme)
erläutern
- Auswertung: Zusammenhang von Ghetto und Konzentrationslager
Themenbereich 4: Flucht (Text 5)
- "Umschlagplatz" auf der Kartenskizze suchen
- Bunker-Bau: Zusammenhang zum Ghettoaufstand aufzeigen
Vertiefungs-/ Ergänzungsphase (Geschichte oder Deutsch)
Lebenslauf Marcel-Reich-Ranickis bis heute, Juden in der Bundesrepublik
heute, prägende Erfahrungen des Ghettos, „Literarisches Quartett"
Material:
- Schreiber M.: „Den tiefsten Schmerz".
- Michaelsen, S.: „Ich habe keinen Tag meines Lebens an Gott
geglaubt". [in beiden Materialien auch weitere Fotos]
alternativ: Warschauer Ghetto und deutsche Ostpolitik: Kniefall Willy
Brandts (1970)
alternativ: vom Ghetto zum Konzentrations-/Vernichtungslager: Beispiel
Treblinka
Literaturhinweise:
Buch der Agonie. Das Warschauer Tagebuch des Chaim A. Kaplan, hrsg. v.
Abraham I. Katsh. Frankfurt 1967. (Neuauflage in Vorbereitung)
Heydecker, Joe J.: Das Warschauer Ghetto. Foto-Dokumente eines deutschen
Soldaten aus dem Jahr 1941. München 1999.
Michaelsen, Sven: „Ich habe keinen Tag meines Lebens an Gott geglaubt".
Marcel Reich-Ranicki legt diese Woche seine Memoiren vor. In: Stern, Nr.
34, 19.8.1999, S. 36-42. (Interview)
Reich-Ranicki, Marcel: Mein Leben. Stuttgart 1999.
Ringelblum, Emanuel: Ghetto Warschau. Tagebücher aus dem Chaos.
Stuttgart 1967.
Schreiber, Mathias / Traub, Rainer: „Den tiefsten Schmerz". Marcel
Reich-Ranicki hat seine Memoiren geschrieben. In: Der Spiegel, Nr. 32,
9.8.1999, S. 142-147.
Schwarberg, Günther: Das Getto. Göttingen 1989.
Szajn-Lewin, Eugenia: Aufzeichnungen aus dem Warschauer Ghetto. Juli
1942 bis April 1943. Leipzig 1994.
Szczypiorski, Andrzej: Die schöne Frau Seidenman. Zürich 1988.
Szczypiorski, Andrzej: Mein Warschau von vor über fünfzig Jahren. In:
Europa ist unterwegs, Essays und Reden. Zürich 1996.
Vishniac, Roman: Verschwundene Welt. 3. Aufl. München 1984.
Yad Vashem (Hrsg.): Everyday Life in the Warsaw Ghetto _ 1941.
[Unterrichtseinheit mit Dias, Lehrer- und Schülerheft, auch in deutscher
Version erhältlich: $ 41, Fax-Bestellung: 00972/2/643/3511 oder P.O.B.
3477, 91034 Jerusalem)
Marcel Reich-Ranicki:
Mein Leben
Text 1
Schon wenige Wochen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Warschau
verfügte die SS, daß die Juden ab sofort nur in einem bestimmten Teil
der Stadt wohnen und sich aufhalten durften. Ein Getto wurde also
angeordnet. Verheimlichen konnte man diese Rückkehr zum Mittelalter
nicht, aber doch offiziell beschönigen und tarnen. Daher wurde das Wort
„Getto" sorgfältig vermieden - ebenso in den plakatierten
Bekanntmachungen wie in den Zeitungen, es tauchte auch niemals im
Briefwechsel mit den verschiedenen deutschen Dienststellen auf. Was
erreichtet werden sollte, hieß stets „der jüdische Wohnbezirk". […] Die
Juden hatten innerhalb von drei Tagen in die nördlichen, meist häßlichen
und vernachlässigten Viertel Warschaus umzuziehen. Gleichzeitig sollten
die dort lebenden Nichtjuden diese Viertel verlassen und ebenfalls mit
Sack und Pack umziehen.
[…] Im Frühjahr erhielt der von Juden bewohnte Bezirk eine neue
Bezeichnung: „Seuchensperrgebiet". Der „Judenrat" hatte ihn mit einer
drei Meter hohen Mauer zu umgeben, die oben noch mit einem ein Meter
hohen Stacheldrahtzaun versehen werden sollte. An den Eingängen zu
diesem Terrain, dessen Grenze Juden nicht überschreiten durften, wurden
Tafeln mit einer deutschen und einer polnischen Inschrift aufgestellt:
„Seuchensperrgebiet - Nur Durchfahrt gestattet."
Die Behörden teilten allen Ernstes mit, es seien menschenfreundliche
Motive, die sie veranlaßten, diese Mauern anzuordnen: Sie seien dazu da,
die Juden vor Überfällen und Ausschreitungen zu schützen.
Gleichzeitig war in den für die polnische Bevölkerung bestimmten
Zeitungsartikeln und anderen Veröffentlichungen zu lesen, die
Besatzungsmacht sei gezwungen, die Juden zu isolieren, um die deutsche
und die polnische Bevölkerung der Stadt vor Typhus und anderen
Krankheiten zu bewahren. […]
Am 16. November 1940 wurden die 22 Eingänge (später waren es nur noch
fünfzehn) geschlossen und von da an Tag und Nacht von jeweils sechs
Posten bewacht: zwei deutschen Gendarmen, zwei polnischen Polizisten und
zwei Angehörigen der jüdischen Miliz, die „Jüdischer Ordnungsdienst"
hieß. Diese Miliz war nicht uniformiert, doch leicht erkennbar: Die
Milizionäre trugen neben dem für alle verbindlichen Armband auch noch
ein zweites in gelber Farbe, ferner eine Uniformmütze und auf der Brust
ein Metallschild mit einer Nummer. Bewaffnet waren sie mit einem
Schlagstock.
So war aus dem „Seuchensperrgebiet", aus dem offiziell „der jüdische
Wohnbezirk" genannten Stadtteil ein riesiges Konzentrationslager
geworden: das Warschauer Getto. […]
Mitten durch das Getto verlief eine der wichtigsten Warschauer
Ausfallstraßen, die Ost-West-Achse. An ihr war die Wehrmacht stark
interessiert, ganz besonders im Frühjahr 1941, also unmittelbar vor
Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges. Denn der ganze Verkehr vom
Westen über Warschau nach dem Osten konnte nur über diese Straße
geleitet werden. Dadurch war der den Juden zugewiesene Wohnbezirk
geteilt: Es gab jetzt das sogenannte große und das kleine Getto, die
durch eine Überführung, eine (übrigens vom „Judenrat" erbaute und
finanzierte) Holzbrücke miteinander verbunden waren.
aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 199ff, S.
206f., S. 211.
Text 2
Freilich waren die Straßen stets überfüllt - eine leere Straße habe ich
im Getto nie gesehen, eine halbleere nur selten. Die gefürchtete
Tuchfühlung mit anderen Fußgängern ließ sich nicht immer vermeiden: Auch
auf der Straße konnte man sich also eine Laus holen und damit die in den
meisten Fällen zum Tode führende Epidemie. Man traf ihn im Getto auf
Schritt und Tritt - den Tod. Das ist wörtlich gemeint: Am Straßenrand
lagen, vor allem in den Morgenstunden, die mit alten Zeitungen nur
dürftig bedeckten Leichen jener, die an Entkräftung oder Hunger oder
Typhus gestorben waren und für deren Beerdigung niemand die Kosten
tragen wollte.
Zum Straßenbild im Getto gehörten unzählige Bettler, die, an eine
Hauswand, gelehnt, auf der Erde saßen und laut jammernd um ein Stück
Brot baten; ihr Zustand ließ vermuten, daß sie sehr bald nicht mehr
sitzen, sondern liegen würden - von Zeitungen bedeckt. Viel Lärm machten
die professionellen Straßenverkäufer und die armen Menschen, die
irgendwelche Gegenstände, bisweilen Kleidungsstücke zum Verkauf anboten,
um sich etwas zu essen kaufen zu können. Charakteristisch waren auch die
„Reißer". So nannte man Halbwüchsige, die in der Nähe von Läden auf
Passanten warteten, die dort Brot oder jedenfalls etwas Eßbares gekauft
hatten. Denen entrissen sie unversehens ihr Päckchen, rannten sofort weg
oder bissen trotz der Papierverpackung an Ort und Stelle hinein.
aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 212f.
Text 3
Juden galten immer schon als musikalisch, besonders jene aus
osteuropäischen Ländern. Bei den Warschauer Philharmonikern, in den
Orchestern der Warschauer Oper und des Polnischen Rundfunks, in den
vielen Ensembles der Unterhaltungs-, Tanz-, und Jazzmusik- überall
fanden sich nicht wenige Juden. Sie waren nun im Getto und allesamt
arbeitslos. Da sie meist keine Ersparnisse hatten, wurde ihre Not von
Tag zu Tag größer. Damals konnte man überraschende Klänge hören: in
einem Hof Beethovens Violinkonzert, im nächsten Mozarts
Klarinettenkonzert, allerdings ohne Begleitung. […] Bald kamen
umsichtige Musiker auf eine Idee: man möge doch im Getto ein
Symphonieorchester organisieren. Um der holden Kunst zu dienen, um den
Menschen Freude und Vergnügen zu bereiten? O nein anderes hatten sie im
Sinn: sie wollten etwas verdienen, um den Hunger zu stillen. […] Es läßt
sich kaum vorstellen, mit welcher Hingabe damals geprobt, mit welcher
Begeisterung damals musiziert wurde. Als wir 1988 im Zweiten deutschen
Fernsehen das „Literarische Quartett" vorbereiteten, fragte man mich,
welche Musik ich mir denn für den Vorspann und den Abspann wünsche. Ich
bat um die ersten Takte des Allegro molto aus Beethovens Quartett opus
59, Nr. 3, C-Dur, das im Getto vom Streichorchester besonders oft und
besonders gut aufgeführt wurde. Wann immer ich beim „Literarischen
Quartett" diese Takte von Beethoven höre, denke ich an die Musiker, die
im Getto gespielt haben. Sie wurden alle vergast.
[…] Die Konzerte waren immer gut besucht, die Symphoniekonzerte meist
überfüllt. Der Not zum Trotz? Nein, nicht Trotz trieb die Hungernden,
die Elenden in die Konzertsäle, sondern die Sehnsucht nach Trost und
Erbauung - und so verbraucht diese Vokabeln auch sein mögen, hier sind
sie am Platz. Die unentwegt um ihr Leben Bangenden, die auf Abruf
Vegetierenden waren auf der Suche nach Schutz und Zuflucht für eine
Stunde oder zwei, auf der Suche nach dem, was man Geborgenheit nennt,
vielleicht sogar nach Glück. Sicher ist: Sie waren auf eine Gegenwelt
angewiesen.
aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 222f., S. 228.
Text 4
Die auf die Straße hinausgehenden Fenster standen an diesem warmen und
besonders schönen Tag weit offen, was den Sturmbannführer und seine
Leute nicht störte. So konnte ich genau hören, womit sich die vor dem
Haus in ihren Autos wartenden SS-Männer die Zeit vertrieben: Sie hatten
wohl ein Grammophon im Wagen, einen Kofferapparat wahrscheinlich, und
hörten Musik und nicht einmal schlechte. Es waren Walzer von Strauß
[...].
Höfle eröffnete die Sitzung mit den Worten: „Am heutigen Tag beginnt die
Umsiedlung der Juden aus Warschau. Es ist euch ja bekannt, daß es hier
zuviele Juden gibt. Euch, den „Judenrat", beauftrage ich mit dieser
Aktion. Wird sie genau durchgeführt, dann werden auch die Geiseln wieder
freigelassen, andernfalls werdet ihr alle aufgeknüpft dort drüben." Er
zeigt mit der Hand auf den Kinderspielplatz der gegenüberliegenden
Straße. […] Höfle diktierte weiter. Jetzt war davon die Rede, daß die
„Umsiedler" fünfzehn Kilogramm Reisegepäck mitnehmen dürften, sowie
„sämtliche Wertsachen, Geld, Schmuck, Gold usw.". Mitnehmen durften oder
mitnehmen sollten?- fiel mir ein. Noch am selben Tag, am 22. Juli 1942,
sollte der Jüdische Ordnungsdienst, der die Umsiedlungsaktion unter der
Aufsicht des „Judenrates" durchführen mußte, 6000 Juden zu einem an
einer Bahnlinie gelegenen Platz bringen, dem Umschlagplatz. Von dort
fuhren die Züge in Richtung Osten ab. Aber noch wußte niemand, wohin die
Transporte gingen, was den „Umsiedlern" bevorstand.
Im letzten Abschnitt, der „Eröffnung und Auflagen" wurde mitgeteilt, was
jenen drohte, die etwa versuchen sollten, „die Umsiedlungsmaßnahmen zu
umgehen oder zu stören". Nur eine einzige Strafe gab es, sie wurde am
Ende eines jeden Satzes refrainartig wiederholt: „...wird erschossen".
[…]
Wenige Augenblicke später verließen die SS-Führer mit ihren Begleitern
das Haus. Kaum waren sie verschwunden, da verwandelte sich die tödliche
Stille nahezu blitzartig in Lärm und Tumult: Noch kannten die vielen
Angestellten des „Judenrates" und die zahlreichen wartenden Bittsteller
die neuen Anordnungen nicht. Doch schien es, als wüßten oder spürten sie
schon, was sich eben ereignet hatte - daß über die größte jüdische Stadt
Europas das Urteil gefällt worden war, das Todesurteil.
Höfle, Hermann: SS-Sturmbannführer, Leiter der „Ausrottungskommando"
genannten Hauptabteilung Reinhard beim SS- und Polizeiführer
aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 236-239.
Text 5
Da der Weg zum „Umschlagplatz" sehr kurz war, konnte uns die Flucht aus
der Kolonne nur jetzt gelingen oder nie - zumal die Flucht aus dem
Eisenbahnzug nach Treblinka so gut wie unmöglich war.
Auf jene, die aus der Kolonne ausscherten, wurde sofort geschossen -
wenige blieben auf dem Straßendamm liegen. Aber dieses Risiko mußten wir
in Kauf nehmen. Ich gab Gustawa Jarecka, die mit ihren beiden Kindern in
unserer Reihe stand, ein Zeichen, daß wir ausbrechen wollten, und sie
uns folgen solle. Sie nickte. Schon wollte ich fliehen, doch den
tödlichen Schuß befürchtend, zögerte ich noch einen Augenblick. Da
zerrte mich Tosia aus der Reihe, wir rannten in das Tor eines schon im
September 1939 zerstörten Hauses [...]. Gustawa Jarecka folgte uns
nicht, sie ist mit ihren beiden Kindern im Waggon nach Treblinka
umgekommen. [...] Vor dem Tor der Hausruine in der Mila-Straße sprangen
wir in einen Keller, der zu unserer Verwunderung mit anderen Kellern
verbunden war. Offenbar hatte man hier die Mauern durchbrochen, um einen
Bunker zu bauen. So kamen wir in den letzten von der Straße schon
ziemlich weit entfernten Keller. Hier hörte man keine Schreie und keine
Schüsse, hier war alles vollkommen still - und hier blieben wir bis zum
Abend. Niemand suchte uns.
Tosia: Reich-Ranickis Ehefrau, die er im Ghetto (zu ihrem Schutz)
heiratete
Gustawa: polnische Schriftstellerin, Arbeitskollegin
Bunker: Vorbereitungen des Ghetto-Austandes
aus: Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben. Stuttgart 1999, S. 271.
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