Baustein

Ghettos
Vorstufen der Vernichtung

1939-1944
Menschen in Grenzsituationen

Texte und Unterrichtsvorschläge

Hrsg: LpB, 2000




 

Inhalt

 

Baustein 4

Das Prager Ghetto

Klassenstufe: 7-13
Zeitaufwand: ca. 6 Unterrichtsstunden, beliebig erweiterbar
Themen: Geschichte und Kultur der jüdischen Bevölkerung in Prag
Wahrheit und Geschichte in jüdischen Legenden (Rabbi Löw).

Franz Kafka und der Prager Kreis

Gustav Meyrink: Der Golem

Seit dem frühen Mittelalter war Prag die Stadt der drei Völker: der Tschechen, der Deutschen und der Juden. Nur in dieser Stadt war die eigentümliche Verschmelzung von Slawischem, Deutschem und Jüdischem möglich.
Prag, am Kreuzpunkt einiger bedeutender Handelswege gelegen, besaß zugleich eine der ältesten jüdischen Siedlungen Europas;
Caput regni Praga - Prag, das Haupt der Macht, eine der Hauptstätte europäischen Schicksals;
Prag, die österreichische Provinzstadt, die 300 Jahre lang, im Schatten Wiens, einen Dornröschenschlaf hielt;
Prag, die Stadt von Nationalitätenkämpfen, die Haltung und Eigenart des `Prager Kreises' beeinflußten;
Prag zur Zeit Masaryks, eine Phase, die nach dem ersten Weltkrieg ein friedliches Mit- und Nebeneinander der drei Kulturen ermöglichte;
Prag, die Zufluchtsstätte für deutsche Emigranten nach 1933;
Prag die Stadt des Attentats auf Heydrich.

Zehntausende von Prager Juden sind während der NS-Zeit ermordet worden (ihre Namen sind auf den Wänden der Pinkas Synagoge eingraviert) und nach dem 2. Weltkrieg wurde mit der Vertreibung der Deutschen ein weiterer Bestandteil der Prager Kultur zerstört.

Die Anfänge der Prager Judengemeinde verlieren sich im Dunkel der Sage und gehen angeblich schon auf das 10. Jahrhundert zurück. Immer wieder war sie im Lauf der Jahrhunderte furchtbaren Verfolgungen ausgesetzt. Zu Ende des Dreißigjährigen Krieges lebten in Prag knapp 1 500 Juden, bis Ende des 18. Jahrhunderts dann schon 14 000, um 1900 wuchs die Zahl auf 25 000 und 1935 waren es nach offiziellen jüdischen Angaben 35 000, von denen nicht einmal 20 % das Kriegsende überlebten.

Prags Geschichte und Kultur wäre ohne die Juden nicht denkbar. Über Jahrhunderte hinweg haben sie das Leben der Stadt beeinflußt und befruchtet. Stets standen sie dabei zwischen Tschechen und Deutschen.

Die Macht der Vergangenheit manifestierte sich auf eine besondere Weise in dem architektonischen Kuriosum des jüdischen Ghettos, dessen Eigenart und Atmosphäre das Gesicht der Stadt prägten. Ursprünglich war es eine von Mauern umgebene Stadt mit eigener Verwaltung, in weiten Teilen war es unterkellert, um den Juden im Fall von Pogromen Fluchtmöglichkeiten zu bieten.

„Es war eine eigene Welt, in der das Gesetz seine Gültigkeit verloren zu haben schien, wo halbnackte Kinder sich tummelten, und Weiber ihre persönlichsten Angelegenehiten vor den Augen der Nachbarn verrichteten. Hier wurde unter freiem Himmel zu Mittag und zu Abend gegessen, an Sommerabenden, wenn die Schwüle einen drinnen nicht mehr atmen ließ, wurden von Tor zu Tor, von Fenster zu Fenster die heikelsten Dinge hin- und hergerufen, tschechisch, deutsch, jiddisch, in jenem Jargon, den außerhalb dieser Gemeinschaft nur wenige verstanden. Gleich neben den Bordellen wohnten die Frommen, die die Feiertage hielten; wo aus den Kneipen die Stimmen Betrunkener grölten, drang gleich daneben aus den Synagogen das Gemurmel der Gebete." (Jiri Grusa: Franz Kafka aus Prag. Frankfurt/M. 1983, S.)

Es ist kein Zufalll, daß die hohe Geltung der Prager Judenschaft mit der Zeit Kaiser Rudolfs II. zusammenfällt, zugleich auch mit dem Höhepunkt der jesuitischen Unduldsamkeit gegenüber den Juden in Spanien unter Philipp II. Der Glanz des Ghettos in dieser Zeit verbindet sich mit zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten: mit Marcus Mordechai Meisel, dem Primas der Judenstadt und mit Rabbi Jehuda Bezalel Löw. Der erste erreichte seine hervorragende Stellung sowohl als Finanzier der Kriegsunternehmen des Kaisers als auch als Bauherr der Judenstadt, der zweite durch seine Gelehrsamkeit und Weisheit. Sein Wissen umfaßte die Bereiche der Religionsphilosophie wie auch der Naturwissenschaften, besonders der Astronomie und Astrologie. Der Einfluß beider Männer, den sie auch beim christlichen Herrscher geltend machen konnten, war eine große Stütze der Judengemeinde gegen ihre Feinde. Ihr Wirken und die mystische Stimmung, die sich damit verband, ist festgehalten in den Sagen und Legenden der Prager Judenstadt.

1781 wurde das Ghetto unter Josef II. geöffnet und die Juden hatten jetzt auch das Recht in andere Stadtteile überzusiedeln. Aus Erinnerung an dieses Ereignis wurde es seither Josefsstadt genannt.

Mit Spitzhacken begann man 1895 die Sanierung der Altstadt und zerstörte im Laufe von 22 Jahren Haus um Haus, um diesen Teil der Stadt den hygienischen Verhältnissen anzupassen. Als das Ghetto fiel, blieben vor allem der jüdische Friedhof und die Altneuschul, die Synagoge aus dem 13. Jahrhundert als Zeugen dieser arichtektonischen Besonderheit.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen die Konflikte natürlich anders aus, doch es zeigen sich auch verblüffende Parallelen, wieder saßen die Juden „zwischen allen Stühlen und gehörten nirgends so richtig hin". Die Autoren des „Prager Kreises", die fast ausnahmslos jüdisch und von der Kultur des Ghettos geprägt waren, verband eine Art „Haßliebe" mit Prag.

Kafka urteilte über diese Stadt:
„An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vysehrad und am Hradshin, dann wäre es möglich, daß wir loskommen."

oder Gustav Meyrink, langjähriger Simplicissimus Mitarbeiter und Autor spannender gespenstisch - mystischer Romane:
„Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gerne den Rücken kehren möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag: aber auch keine, nach der man sich so zurücksehnt, kaum, daß man sie verlassen hat."

oder Egon Erwin Kisch, der 1897 als Kind den berühmt-berüchtigten Dezembersturm miterlebte, der mit dem Angriff auf deutsche Institutionen begann, dann aber in antisemitischen Terror umschlug.
„Zu denen zu gehören, die gehetzt, mißhandelt wurden und selbst zuhause nicht vor dem Wahnwitz der Gasse sicher waren, mitzuerleben, wie gebrandschatzt und zertrümmert wurde, wie der Feuerschein des Nationalen durch die ausgebrannten Ladentüren und die zertrümmerten Fensterscheiben züngelte, überall hin, wie plötzlich durch die vorhin noch menschenvollen, heulenden, klirrenden Gassen die Hufe der Kavalleriepferde klapperten, die Trompeten Sturm bliesen, die Säbel und Bajonette in klarer Ordnung im Gaslicht blitzten."

Man hat die Situation der deutschsprachigen, jüdischen Autoren oft als dreifaches Ghetto bezeichnet: ein deutsches - denn sie sprachen und schrieben deutsch und waren damit von ihrer tschechischen Umgebung abgesondert -, ein bürgerliches - denn sie gehörten alle der sozial besser gestellten Schicht an - und ein jüdisches - denn die Prager deutsche Kolonie errichtete auch im Innern eine unsichtbare Mauer zwischen ihren jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern. Zusätzlich verschärft wude diese Situation durch die Reaktion des jüdischen Bürgertums, das sich mit der Parole „es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird", mit allen Künsten von der Realität absperrte und die Existenz des Judenhasses leugnete.

Die Prager deutschen Schriftsteller ahnten, daß der habsburgischen Monarchie der Abgrund und das Ende nahten. Österreich-Ungarn war die erste europäische Großmacht, die nicht nur vom Untergang bedroht war, sondern diesen bereits erlebte. Prag war der Hauptschauplatz des Nationalitätenkampfes, dessen Intensität die Prager Deutschen vor allen anderen zu spüren bekamen. Die deutschen Juden hatten unter diesen Spannungen am meisten zu leiden, denn sie wurden von keiner Gruppe akzeptiert. Innerhalb der deutschen Gruppe als Juden isoliert, begegnete ihnen genauso der Judenhaß der tschechischen Nationalisten, die mehrheitlich antisemitisch eingestellt waren. Später beschreibt Kafka diesen Konflikt so:

„Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit den beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten, denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite im Kampf mit dem ersten, denn er treibt ihn zurück. Denn es sind ja nicht nur zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt eigentlich seine Ansichten. Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in einem unbewachten Moment - dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster wie noch keine war - aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner wird."

(Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes in: Sämtliche Erzählungen, Hamburg 1980, S.222)

Literaturhinweis:

Ausführliches Material über die Geschichte und das Leben der Prager Juden finden Sie in folgenden Büchern:

Alois Hofmann und Renate Heuer (Hrsg.): Aus dem böhmischen Ghetto - Sagen, Legenden und Erzählungen. Frankfurt/M. 1995.

Fritz Böhm: 6 mal Prag. München, Zürich 1988.


Rabbi Löw

Viele Legenden ranken sich um diesen Weisen, der im 16. Jahrhundert angeblich eine Gestalt aus Lehm und Ton zum Leben erweckte, eine Art jüdischen Frankenstein, der die jüdische Gemeinde vor Anschlägen und Pogromen warnen sollte. Als dieser künstliche Mensch sich verselbständigte und anfing Unheil anzurichten, entnahm der Rabbi ihm seinen Lebensfunken wieder und bettete ihn unter dem Dach der Altneusynagoge zur Ruhe.

In den Märchen und Sagen um diesen jüdischen Weisen verbirgt sich die Sehnsucht der Gedemütigten, ihre Demütigung loszuwerden, sich zu verteidigen oder manchmal das nackte Leben zu retten. Zwei wichtige Orte in Prag erinnern besonders an ihn: die jüdische Synagoge aus dem 13. Jahrhundert, die Altneuschul, und der jüdische Friedhof: Ein bizarrer Hügel, heute eingekeilt zwischen bürgerlichen Häusern, in der Nähe des Altstädter Rings, gebildet von vielen Schichten Gräber. Die alten Grabsteine stehen dicht beeinander; es sind Tausende.

„Zwischen den Gräberzeilen hinten an der Mauer geht jemand suchend umher. Dann bleibt er am Grabmal des berühmten jüdischen Gelehrten Rabbi Löw stehen. Jetzt beugt er sich über das Grab. Vielleicht legt er ein Steinchen darauf, dem Toten zum ehrenden Angedenken. Wie es die Juden taten, als sie durch die Wüste zogen, wo es keine Blumen gab. Vielleicht aber schiebt er in einen Riß des Grabmals ein Zettelchen mit seinem geheimsten Wunsch und der Bitte um dessen Erfüllung. Den Glauben an die Wunderkräfte des Rabbis vermochten selbst die Jahrhunderte nicht zu erschüttern.

Schon streicht der Nebel lautlos auch um das Grab des berühmten Rabbis, und über ein Weilchen wird er alles verhüllen. Die Umrisse der Grabmale verschwimmen. Nahes entfernt sich, und Entferntes ist nah.

Der Schritt des letzten Friedhofbesuchers verhallt. Dann nur noch Stille und Dämmer. Es ist die Stunde, da Sagen und Märchen zum Leben erwachen und all jene aufsuchen, die gerne zuhören.

Hören auch wir zu."

(Aus: Der Golem, Jüdische Sagen und Märchen aus dem alten Prag, 1992, S. 10)

Gustav Meyrink: Der Golem

Gustav Meyrink, der langjährige Simplicissimus - Mitarbeiter und Autor spannender gespenstisch - mystischer Romane war in einer ähnlichen Haßliebe mit Prag verbunden wie Franz Kafka. Seine unverhohlene Abneigung gegen die Prager und die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Stadt stand in direktem Gegensatz zur seltsamen Faszination, die diese Stadt zeitlebens auf ihn ausübte.

Zum Zeitpunkt des Abbruchs des alten Ghettos, um 1900 spielt sein Roman Der Golem, der sofort nach seinem Erscheinen 1915 ein Bestseller wurde. Das scheinbar Tote der engverschachtelten Ghettohäuser mit ihren deformierten Über- und Nebenbauten belebt, ja dämonisiert Meyrink zu einem Bild von Bosheit und Grauen.

Ähnlich wie in den phantastischen Romanen von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allen Poe verschwimmen im Golem Alltagswelt, traumhafte Phantasie und magische Vision. Der Ich-Erzähler des Romans träumt der Gemmenschneider Athenasiums Pernath zu sein, der die Erinnerung an seine Vergangenheit verloren hat und darum ringt, dieses Rätsel zu lösen. Im Verlauf des Romans entdeckt er eines Nachts „das Zimmer ohne sichtbaren Zugang". In diesem Zimmer gewinnt die Gestalt des Golem, der im Roman ein Doppelgänger und damit Teil seines eigenen Ichs ist, Gestalt. Damit wird die Verbindung geschlagen zur wohl größten Gestalt, die das jüdische Ghetto hervorgebracht hat, der des Rabbi Löw. Dieser große Weise erweckte im 16. Jahrhundert der Sage nach den Golem, eine Gestalt aus Lehm und Ton zum Leben und sandte ihn zum Schutz seiner Gemeinde aus, um Anschläge gegen sie aufzuspüren und zu vereiteln. Die historische Sagengestalt des Rabbi Löw hat mit Meyrinks Titelgestalt wenig zu tun. Bei ihm wird sie zu einem immer wieder auftauchenden Gespenst, das eine erhebliches Maß an Unheimlichkeit ausstrahlt und das sowohl psychologische als auch mystische Elemente symbolisiert. Nur mancher Begnadete, der dem Golem als Doppelgänger ins Gesicht gesehen und ihn überwunden hat, darf sich rühmen, ein wahrhaft bewußt handelnder Mensch zu sein. Im Grunde ist er eine Metapher für das Ringen mit dem Unterbewußten und der Angst, um die eigene Identität zu finden. Der Ich-Erzähler erlebt diesen notwendigen Kampf in einem Zimmer ohne Zugang, zu dem er tief in der Nacht nach einem langen Irrweg durch die Gänge und Schächte des unterkellerten Ghettos gelangt.



I.) Arbeitshinweise zu dem Text „Wie der Golem die Juden beschützte".

  • Bitte fasse den Inhalt der Legende „Wie der Golem die Juden beschützte" zusammen.
  • Was erfahren wir über das Leben der Juden im Ghetto?
  • Was erfahren wir über den Konflikt zwischen Christen und Juden?
  • Wer war der Golem und welche Funktion hatte er für die jüdische Gemeinde?
  • Bitte informiere Dich über die Person des Rabbi Löw.

Hinweis:

Informationen über die Person Rabbi Löws und Legenden über die Erschaffung und Geschichte des Golem finden sich in den Literaturverweisen des Einführungstextes des vorliegenden Bausteins.

II.) Arbeitshinweise zu Gustav Meyrink Der Golem

  • Wie wird die Atmosphäre des jüdischen Ghettos im vorliegenden Textauszug geschildert?
  • Was erfahren wir hier über das Leben der Menschen im Ghetto?

Erweiterung:

zusätzliche Arbeitshinweise zu Gustav Meyrink Der Golem und Franz Kafka Das Stadtwappen

  • Wie läßt sich die Haßliebe Kafkas und Meyrinks zu Prag anhand der vorliegenden Texte belegen?
  • Bitte informieren Sie sich über die historisch-gesellschaftlichen Konflikte, die dieser Haßliebe zugrunde lagen.

Die Unterrichtseinheit läßt sich zeitlich beliebig erweitern, indem wichtige andere Textpassagen aus Meyrinks Roman Der Golem oder der Roman insgesamt behandelt werden. Das Wissen über die besondere Kultur des jüdischen Ghettos Ende des 19. Jahrhundert, über die Atmosphäre, über jüdisches Leben und jüdische Mystik läßt sich anhand der Lektüre erweitern und vertiefen.

III.) Arbeitshinweise zu Franz Kafka Das Stadtwappen

  • Versuchen Sie, den Ablauf des babylonischen Unternehmens und seine Folgen zu beschreiben; beachten Sie dabei den Zeitpunkt, von dem aus erzählt wird.
  • Woran scheitert nach Ihrem Textverständnis der Turmbau?
  • Wie deuten Sie die Sehnsucht der Menschen nach der Zerstörung der Stadt?

Einen besonders für Schülerinnen und Schüler interessanten Zugang zu Kafka - seine Beziehung zu Prag und zum Judentum - findet sich in dem teilweise als Comic illustrierten Band von David Zane Mairowitz und Robert Crumb: Kafka for Beginners. Cambridge 1993 und weiterhin in Jirí Grusa: Franz Kafka und Prag. Frankfurt/M. 1983.

Petra Schneider

 


Wie der Golem die Juden beschützte

Rabbi Löw sandte allnächtlich den Golem aus, über die Gassen der Judenstadt und der Prager Altstadt zu wachen. Sollte er etwas Verdächtiges sehen oder jemanden entdecken, der gegen die Juden Böses im Schilde führte, hatte er sogleich einzugreifen.

Zumal vor dem Pessachfest, von dem unter den Christen allerlei falsche Vorstellungen umgingen, beobachtete er besonders wachsam alles, was sich zu nachtschlafener Zeit in der Judenstadt und rings ums Ghetto tat.

Seine Rundgänge unternahm der Golem als christlicher Lastenträger verkleidet. Wenn er eine ausnehmend schwierige Aufgabe zu bewältigen hatte, hängte Rabbi Löw ihm ein Amulett um den Hals, ein Stück Hirschleder, mit Geheimzeichen beschriftet. Das Amulett machte den Golem unsichtbar. Ungesehen betrat er Prager Schenken und lauschte den Gesprächen, ungesehen strafte er jene, die Strafe verdienten.

Um diese Zeit geschah es, daß in der Prager Judenstadt eine christliche Dienstmagd verschwand. An Samstagen, da den Juden jedwede Art von Arbeit verboten ist, hatte die christliche Dienstmagd in jüdischen Haushalten ausgeholfen. Und nun war sie weg und niemand wußte, wohin sie verschwunden war. Einige Tage nach dem Verschwinden der Magd verschwand aus dem Ghetto auch das Mädchen Dina, die Tochter eines jüdischen Wundarztes.

Anfangs standen die beiden Fälle offenbar in keinem Zusammenhang. Aber bald entwuchs aus ihnen eine Gefahr, welche die ganze Judenstadt bedrohte. Die Tochter des Wundarztes war in ein nahegelegenes Kloster geflohen. Sie hatte schon längere Zeit heimlich mit den Mönchen verhandelt. Sie wollte dem jüdischen Glauben abschwören und den christlichen annehmen. Ihre Flucht versetzte ganz Prag in Aufregung. Aber in noch größere Aufregung versetzte Christen und Juden das, was Dina aussagte.

Ein hoher kirchlichen Würdenträger stellte mit Dina, der Tochter des Wundarztes, ein langes Verhör an, wie in solchen Fällen damals üblich. Er fragte sie aus, warum sie entschlossen sei, dem jüdischen Glauben abzuschwören, er fragte sie aus nach ihrem Leben, und Dina gab auf alles bereitwillig Antwort. Sie wollte als zum christlichen Glauben Bekehrte Lob und Bewunderung ernten. Daher meinte sie auch, durch üble Nachrede all das verunglimpfen zu müssen, dem sie entstammte.

»Sprich«, sagte der Geistliche, »ist es wahr, daß die Juden für ihr Osterbrot Christenblut verwenden?«

»Ja, es ist wahr«, bestätigte Dina eifrig. »Weißt du etwa«, fragte der Geistliche weiter, »wo die Juden das Christenblut zum Backen des Osterbrotes heuer herbekommen haben?« Dina überlegte, aber nicht lange.

»Und ob ich das weiß«, sagte sie. »Vor dem Frühlingsfest ist in der Judenstadt eine christliche Magd verschwunden.«

»Bedenke genau, was du da behauptest, Tochter«,
sagte der Geistliche.

Und da, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, schwor das jüdische Mädchen Dina bei seiner Seele, es habe mit eigenen Ohren die Unterhaltung der beiden Synagogendiener Abraham Chaim und Josef mitangehört.

»Josef ist doch stumm«, wandte der Geistliche ein.

»Stumm mag er sein«, entgegnete Dina unbeirrt, »aber er redet mit den Händen besser als so manch anderer mit der Zunge. Ganz bestimmt haben die beiden über die Dienstmagd gesprochen und davon, wie sie ihr das Leben genommen haben.«

Noch am selben Tag, als Dina den furchtbaren Verdacht auf die jüdische Gemeinde gewälzt hatte, erfuhr der hohe Rabbi Löw von ihrer Aussage, und ihm wurde traurig zumute. Ein großes Elend ist den Menschen auferlegt, dachte er, und ein schweres Joch lastete auf Adams Söhnen. Und ein Bibelvers kam ihm in den Sinn, der da lautet: Denn aus Kleidern geht die Motte hervor, und aus einer unwürdigen Frau die Schlechtigkeit.

Aber es mußte unverzüglich gehandelt werden. Der Rabbi ahnte, daß die Stadtwache gar bald kommen würde, um die Synagogendiener Abraham Chaim und Josef zu ergreifen. Und er beschloß, den Golem um jeden Preis zu retten. Er brauchte ihn nämlich zu einem höchst wichtigen Zweck. Also versteckte er den Golem in einem Alkoven seines Hauses und zog des Golems Kleider einem anderen Stummen an. Er baute darauf, daß die Richter, denen man den Stummen vorführen würde, das wahre Aussehen des Golems nicht kannten.

Kaum war es ihm gelungen, das Nötigste zu bewerkstelligen, da erschienen auch schon die Büttel. Sie führten Abraham Chaim in ihrer Mitte und wollten jetzt den Josef holen. Sie nahmen jedoch den Falschen mit.

Rabbi Löw atmete auf. Die erste List war gelungen, nun mußte auch noch die zweite gelingen.

Er befreite den Golem aus dem Alkoven, zog ihm Bauernkleider an und hielt ihm einen Brief hin.

»Josef«, sprach er, »du suchst ganz Prag ab, und wenn du eine christliche Magd findest, die in der Judenstadt gedient hat, gibst du ihr diesen Brief und bringst sie mit hierher. Wenn du sie in Prag nicht findest, suchst du die ganze Umgebung der Stadt ab, und wenn du sie dort nicht findest, suchst du, wenn es nicht anders geht, ganz Böhmen ab.«

Und der hohe Rabbi erklärte dem Golem, was für ein Unheil über die Judenstadt hereinbrechen würde, wenn die Magd nicht rechtzeitig zurückkam.

Der Golem nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte.

Er war in allem, was den Schutz der jüdischen Gemeinde betraf, regsam und flink. Er war dazu erschaffen, wie der Singvogel zum Singen erschaffen ist und der helle Tag zur Arbeit und die dunkle Nacht zum Schlafen.

Der Rabbi händigte dem Golem den Brief aus. In dem Brief bat er die Magd im Namen ihrer Dienstherrin, sich rasch wieder einzufinden. Und falls es ihr an Mitteln mangle, werde er ihr alles vergüten. Einstweilen übersende er ihr ein Aufgeld von 25 Talern.

Der Golem verließ das Haus des Rabbis, und eine lange Zeit des Wartens brach an.

Mittlerweile rückte der Gerichtstag näher. Rabbi Löw war als Vertreter der jüdischen Gemeinde vorgeladen worden. Obwohl er weise und redegewandt war, befürchtete er diesmal, nicht viel erreichen zu können, wenn der Golem die Magd nicht fand, ohne deren Anwesenheit die Verleumdungen nicht entkräftet werden konnten.

In allen Prager Synagogen ging es in diesen Tagen lebhaft zu. Die Juden beteten um die Abwendung der Gefahr, die schon bedrohlich nahe war. Falls sie den Gerichtsprozeß verloren, konnten sie so gut wie sicher sein, daß rachsüchtige, raubende und mordende Banden in die Judenstadt einfielen wie weiland zu Lebzeiten des Gelehrten und Dichters Awigdor Kara.

Der Gerichtstag war gekommen, und der Golem hatte noch immer nichts von sich verlauten lassen. Rabbi Löw ordnete strenges Fasten an, aber der Himmel wollte sich nicht erbarmen.

Die Morgenröte des schicksalhaften Gerichtstages überraschte den hohen Rabbi Löw am Fenster. Er hoffte immer noch, der Golem werde plötzlich in der Gasse auftauchen und alles retten.

Mit zunehmender Tageshelle schwand des Rabbis Hoffnung.

In der Altneu-Synagoge fanden an diesem Tage feierliche Gottesdienste statt wie beim Versöhnungsfest. Und die Menschen vergaben einander die Sünden, und Sorge und Trauer hielten tränenreich Einzug unter dem Gewölbe der Synagoge. Nach Hause aber gingen die Juden trotz allem gestärkt von den Worten des Rabbis.

Für alle brach ein arbeitsreicher Tag an. Dem hohen Rabbi Löw und dem Gemeindevorsteher Mordechai Meisl fiel die traurige Pflicht zu, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. An ein Gewinnen des Prozesses war nicht im Traum zu denken. Und vom Golem und von der Magd noch immer keine Spur. Vor dem Gebäude, in dem das Gericht tagte, hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt. Sobald Dina, die Tochter des Wundarztes, mit ihren Begleitern erschien, erschollen Jubelrufe und Begeisterungsschreie. Ihr folgten durchs Gedränge der Gemeindevorsteher Meisl und der hohe Rabbi Löw. Die Menge begann zu murren, von allen Seiten hagelte es Drohungen: ein Vorspiel des Unheils, das die beiden Juden heraufziehen sahen.

Kaum hatten sie den Gerichtssaal betreten, richteten sich die Blicke aller Anwesenden auf sie und folgten ihnen, als hätten sie selbst die heimlichen und ruchlosen Untaten begangen.

Der Richter eröffnete die Verhandlung und befahl, die beiden Synagogendiener vorzuführen: den echten Abraham Chaim und den stummen mutmaßlichen Jo
sef. Beide wurden des Mordes an der christlichen Dienstmagd beschuldigt, die im Ghetto verschwunden war.

Dann ließ der Richter die Kronzeugin vorführen, des Wundarztes Tochter Dina, und stellte ihr folgende Frage:

»Erkennst du die Synagogendiener? Sind es jene, deren Gespräch über die christliche Dienstmagd du belauscht hast?«

»Und ob ich sie erkenne«, sagte Dina. »Der eine heißt Abraham und der andere Josef. Genau diese beiden haben geprahlt, daß sie die Dienstmagd ermordet haben.«

Nach dieser Auskunft geriet der Richter ins Sinnen. Da drang in seine Gedanken und in die Stille des Saales durchs offene Fenster das Rattern eines in rasender Fahrt herannahendes Fuhrwerks. Das Geratter brach vor dem Tor des Gerichtsgebäudes ab, schon flogen die beiden Flügel der Saaltür auf, und da war der Golem, die Hand der totgeglaubten Dienstmagd fest in der seinen. Verwirrt von den vielen Menschen im Saal, suchte er irrenden Blicks die Stelle, wo der hohe Rabbi Löw saß. Der hatte sich jedoch bereits erhoben und winkte dem Golem zu. Der Golem stapfte zu ihm hinüber und begann unverzüglich, ihm in der Zeichensprache zu berichten, was er erlebt hatte.

Die Dienstmagd hatte er weder in Prag gefunden noch in den Dörfern, die ihm ihre Bekannten genannt hatten. Er mußte sich bis ans andere Ende von Böhmen aufmachen, zu ihrem Bruder, wohin sie zu Besuch gefahren war. Dort hatte er sie dann angetroffen, hatte ihr den Brief ausgehändigt und ihren Bruder gezwungen, sie beide so schnell wie möglich nach Prag zu fahren. Hätten sie wegen der Pferde nicht rasten müssen, wären sie schon früher angekommen. Sie waren zum Haus des Rabbi Löw gefahren, und dessen Frau hatte ihnen gesagt, sie würden ihren Ehemann hier antreffen. Und da waren sie also, und dem Himmel sei Dank dafür.

Ein Raunen der Verwunderung ging durch den Gerichtssaal. Die Leute zeigten auf die totgeglaubte Dienstmagd und auf Josef, und das Gericht mußte den lebenden Beweis anerkennen. Dina erbleichte und starrte bald den echten und bald den falschen Josef an.

Sodann ergriff der hohe Rabbi Löw das Wort und hielt eine seiner glänzendsten Reden. Er zeigte an Dinas Zeugnis auf, wie eine Lüge sich selbst das Grab gräbt. Mit flammenden Worten verwahrte er sich gegen die Verleumdungen und erläuterte am Beispiel der christlichen Dienstmagd, wie um ein Haar großes Unrecht geschehen wäre. Die beschuldigten Synagogendiener, der echte sowie der vermeintliche, kehrten mit Rabbi Löw, mit dem Gemeindevorsteher Meisl, dem glücklichen Golem und der christlichen Dienstmagd in die Judenstadt zurück.

Mit ihrer Rückkehr zog in die jüdischen Häuser wieder Ruhe und Frieden ein.

(aus: Eduard Petiska, Der Golem - Jüdische Sagen und Märchen aus dem alten Prag, Prag 1992, S. 61ff)

 


 

Prag

... und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten. Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!

Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt.

An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt - vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn, - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.

Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.

In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.

Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können - es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern.

Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen - nicht von Müttern geboren -, die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste all mit vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.

Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses - in ihrem Hirn aus.

Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen Geschöpfen!

Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem - wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.

Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.

Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemächtigen.

»Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an.

Wie konnte er wissen, woran ich dachte?

So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind, auf das Gehirn des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende Funken, fühlte ich. [...]

Mir war, als starrten die Häuser mit tückischen Gesichtern voll namenloser Bosheit auf mich herüber - die Tore: aufgerissene schwarze Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, Rachen, die jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend und haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte.

(aus: Gustav Meyrink, Der Golem, Berlin 1988, S. 32f)

 


Franz Kafka:

Das Stadtwappen


Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung; ja, die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser, Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke, einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser Hinsicht aber muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit, zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühen? Das hätte nur dann Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich denken, daß die nächste Generatin mit ihrem vervollkommneten Wissen die Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebäude niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Solche Gedanken lähmten die Kräfte, und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben, dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Dazu kam, daß schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu sehr miteinander verbunden, um die Stadt zu verlassen.

Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlägen zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im Wappen.

Franz Kafka, Das Stadtwappen, in: Sämtliche Erzählungen Hamburg 1970,

S. 306f

 


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