Baustein 4
Das Prager Ghetto
Klassenstufe: |
7-13 |
Zeitaufwand: |
ca. 6 Unterrichtsstunden, beliebig erweiterbar |
Themen: |
Geschichte und Kultur der jüdischen Bevölkerung in
Prag
Wahrheit und Geschichte in jüdischen Legenden (Rabbi Löw).
Franz Kafka und der Prager Kreis
Gustav Meyrink: Der Golem |
Seit dem frühen Mittelalter war Prag die Stadt der drei Völker: der
Tschechen, der Deutschen und der Juden. Nur in dieser Stadt war die
eigentümliche Verschmelzung von Slawischem, Deutschem und Jüdischem
möglich.
Prag, am Kreuzpunkt einiger bedeutender Handelswege gelegen, besaß
zugleich eine der ältesten jüdischen Siedlungen Europas;
Caput regni Praga - Prag, das Haupt der Macht, eine der Hauptstätte
europäischen Schicksals;
Prag, die österreichische Provinzstadt, die 300 Jahre lang, im Schatten
Wiens, einen Dornröschenschlaf hielt;
Prag, die Stadt von Nationalitätenkämpfen, die Haltung und Eigenart des
`Prager Kreises' beeinflußten;
Prag zur Zeit Masaryks, eine Phase, die nach dem ersten Weltkrieg ein
friedliches Mit- und Nebeneinander der drei Kulturen ermöglichte;
Prag, die Zufluchtsstätte für deutsche Emigranten nach 1933;
Prag die Stadt des Attentats auf Heydrich.
Zehntausende von Prager Juden sind während der NS-Zeit ermordet worden
(ihre Namen sind auf den Wänden der Pinkas Synagoge eingraviert) und
nach dem 2. Weltkrieg wurde mit der Vertreibung der Deutschen ein
weiterer Bestandteil der Prager Kultur zerstört.
Die Anfänge der Prager Judengemeinde verlieren sich im Dunkel der Sage
und gehen angeblich schon auf das 10. Jahrhundert zurück. Immer wieder
war sie im Lauf der Jahrhunderte furchtbaren Verfolgungen ausgesetzt. Zu
Ende des Dreißigjährigen Krieges lebten in Prag knapp 1 500 Juden, bis
Ende des 18. Jahrhunderts dann schon 14 000, um 1900 wuchs die Zahl auf
25 000 und 1935 waren es nach offiziellen jüdischen Angaben 35 000, von
denen nicht einmal 20 % das Kriegsende überlebten.
Prags Geschichte und Kultur wäre ohne die Juden nicht denkbar. Über
Jahrhunderte hinweg haben sie das Leben der Stadt beeinflußt und
befruchtet. Stets standen sie dabei zwischen Tschechen und Deutschen.
Die Macht der Vergangenheit manifestierte sich auf eine besondere Weise
in dem architektonischen Kuriosum des jüdischen Ghettos, dessen Eigenart
und Atmosphäre das Gesicht der Stadt prägten. Ursprünglich war es eine
von Mauern umgebene Stadt mit eigener Verwaltung, in weiten Teilen war
es unterkellert, um den Juden im Fall von Pogromen Fluchtmöglichkeiten
zu bieten.
„Es war eine eigene Welt, in der das Gesetz seine Gültigkeit verloren zu
haben schien, wo halbnackte Kinder sich tummelten, und Weiber ihre
persönlichsten Angelegenehiten vor den Augen der Nachbarn verrichteten.
Hier wurde unter freiem Himmel zu Mittag und zu Abend gegessen, an
Sommerabenden, wenn die Schwüle einen drinnen nicht mehr atmen ließ,
wurden von Tor zu Tor, von Fenster zu Fenster die heikelsten Dinge hin-
und hergerufen, tschechisch, deutsch, jiddisch, in jenem Jargon, den
außerhalb dieser Gemeinschaft nur wenige verstanden. Gleich neben den
Bordellen wohnten die Frommen, die die Feiertage hielten; wo aus den
Kneipen die Stimmen Betrunkener grölten, drang gleich daneben aus den
Synagogen das Gemurmel der Gebete." (Jiri Grusa: Franz Kafka aus Prag.
Frankfurt/M. 1983, S.)
Es ist kein Zufalll, daß die hohe Geltung der Prager Judenschaft mit der
Zeit Kaiser Rudolfs II. zusammenfällt, zugleich auch mit dem Höhepunkt
der jesuitischen Unduldsamkeit gegenüber den Juden in Spanien unter
Philipp II. Der Glanz des Ghettos in dieser Zeit verbindet sich mit zwei
außergewöhnlichen Persönlichkeiten: mit Marcus Mordechai Meisel, dem
Primas der Judenstadt und mit Rabbi Jehuda Bezalel Löw. Der erste
erreichte seine hervorragende Stellung sowohl als Finanzier der
Kriegsunternehmen des Kaisers als auch als Bauherr der Judenstadt, der
zweite durch seine Gelehrsamkeit und Weisheit. Sein Wissen umfaßte die
Bereiche der Religionsphilosophie wie auch der Naturwissenschaften,
besonders der Astronomie und Astrologie. Der Einfluß beider Männer, den
sie auch beim christlichen Herrscher geltend machen konnten, war eine
große Stütze der Judengemeinde gegen ihre Feinde. Ihr Wirken und die
mystische Stimmung, die sich damit verband, ist festgehalten in den
Sagen und Legenden der Prager Judenstadt.
1781 wurde das Ghetto unter Josef II. geöffnet und die Juden hatten
jetzt auch das Recht in andere Stadtteile überzusiedeln. Aus Erinnerung
an dieses Ereignis wurde es seither Josefsstadt genannt.
Mit Spitzhacken begann man 1895 die Sanierung der Altstadt und zerstörte
im Laufe von 22 Jahren Haus um Haus, um diesen Teil der Stadt den
hygienischen Verhältnissen anzupassen. Als das Ghetto fiel, blieben vor
allem der jüdische Friedhof und die Altneuschul, die Synagoge aus dem
13. Jahrhundert als Zeugen dieser arichtektonischen Besonderheit.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sahen die Konflikte natürlich anders
aus, doch es zeigen sich auch verblüffende Parallelen, wieder saßen die
Juden „zwischen allen Stühlen und gehörten nirgends so richtig hin". Die
Autoren des „Prager Kreises", die fast ausnahmslos jüdisch und von der
Kultur des Ghettos geprägt waren, verband eine Art „Haßliebe" mit Prag.
Kafka urteilte über diese Stadt:
„An zwei Seiten müßten wir es anzünden, am Vysehrad und am Hradshin,
dann wäre es möglich, daß wir loskommen."
oder Gustav Meyrink, langjähriger Simplicissimus Mitarbeiter und
Autor spannender gespenstisch - mystischer Romane:
„Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gerne den Rücken kehren
möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag: aber auch keine, nach der man
sich so zurücksehnt, kaum, daß man sie verlassen hat."
oder Egon Erwin Kisch, der 1897 als Kind den berühmt-berüchtigten
Dezembersturm miterlebte, der mit dem Angriff auf deutsche Institutionen
begann, dann aber in antisemitischen Terror umschlug.
„Zu denen zu gehören, die gehetzt, mißhandelt wurden und selbst zuhause
nicht vor dem Wahnwitz der Gasse sicher waren, mitzuerleben, wie
gebrandschatzt und zertrümmert wurde, wie der Feuerschein des Nationalen
durch die ausgebrannten Ladentüren und die zertrümmerten Fensterscheiben
züngelte, überall hin, wie plötzlich durch die vorhin noch
menschenvollen, heulenden, klirrenden Gassen die Hufe der
Kavalleriepferde klapperten, die Trompeten Sturm bliesen, die Säbel und
Bajonette in klarer Ordnung im Gaslicht blitzten."
Man hat die Situation der deutschsprachigen, jüdischen Autoren oft als
dreifaches Ghetto bezeichnet: ein deutsches - denn sie sprachen und
schrieben deutsch und waren damit von ihrer tschechischen Umgebung
abgesondert -, ein bürgerliches - denn sie gehörten alle der sozial
besser gestellten Schicht an - und ein jüdisches - denn die Prager
deutsche Kolonie errichtete auch im Innern eine unsichtbare Mauer
zwischen ihren jüdischen und nicht-jüdischen Bürgern. Zusätzlich
verschärft wude diese Situation durch die Reaktion des jüdischen
Bürgertums, das sich mit der Parole „es wird nichts so heiß gegessen,
wie es gekocht wird", mit allen Künsten von der Realität absperrte und
die Existenz des Judenhasses leugnete.
Die Prager deutschen Schriftsteller ahnten, daß der habsburgischen
Monarchie der Abgrund und das Ende nahten. Österreich-Ungarn war die
erste europäische Großmacht, die nicht nur vom Untergang bedroht war,
sondern diesen bereits erlebte. Prag war der Hauptschauplatz des
Nationalitätenkampfes, dessen Intensität die Prager Deutschen vor allen
anderen zu spüren bekamen. Die deutschen Juden hatten unter diesen
Spannungen am meisten zu leiden, denn sie wurden von keiner Gruppe
akzeptiert. Innerhalb der deutschen Gruppe als Juden isoliert, begegnete
ihnen genauso der Judenhaß der tschechischen Nationalisten, die
mehrheitlich antisemitisch eingestellt waren. Später beschreibt Kafka
diesen Konflikt so:
„Er hat zwei Gegner: der erste bedrängt ihn von hinten, vom Ursprung
her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vorn. Er kämpft mit den
beiden. Eigentlich unterstützt ihn der erste im Kampf mit dem zweiten,
denn er will ihn nach vorn drängen und ebenso unterstützt ihn der zweite
im Kampf mit dem ersten, denn er treibt ihn zurück. Denn es sind ja
nicht nur zwei Gegner da, sondern auch noch er selbst, und wer kennt
eigentlich seine Ansichten. Immerhin ist es sein Traum, daß er einmal in
einem unbewachten Moment - dazu gehört allerdings eine Nacht, so finster
wie noch keine war - aus der Kampflinie ausspringt und wegen seiner
Kampfeserfahrung zum Richter über seine miteinander kämpfenden Gegner
wird."
(Franz Kafka, Beschreibung eines Kampfes in: Sämtliche Erzählungen,
Hamburg 1980, S.222)
Literaturhinweis:
Ausführliches Material über die Geschichte und das Leben der Prager
Juden finden Sie in folgenden Büchern:
Alois Hofmann und Renate Heuer (Hrsg.): Aus dem böhmischen Ghetto -
Sagen, Legenden und Erzählungen. Frankfurt/M. 1995.
Fritz Böhm: 6 mal Prag. München, Zürich 1988.
Rabbi Löw
Viele Legenden ranken sich um diesen Weisen, der im 16. Jahrhundert
angeblich eine Gestalt aus Lehm und Ton zum Leben erweckte, eine Art
jüdischen Frankenstein, der die jüdische Gemeinde vor Anschlägen und
Pogromen warnen sollte. Als dieser künstliche Mensch sich
verselbständigte und anfing Unheil anzurichten, entnahm der Rabbi ihm
seinen Lebensfunken wieder und bettete ihn unter dem Dach der
Altneusynagoge zur Ruhe.
In den Märchen und Sagen um diesen jüdischen Weisen verbirgt sich die
Sehnsucht der Gedemütigten, ihre Demütigung loszuwerden, sich zu
verteidigen oder manchmal das nackte Leben zu retten. Zwei wichtige Orte
in Prag erinnern besonders an ihn: die jüdische Synagoge aus dem 13.
Jahrhundert, die Altneuschul, und der jüdische Friedhof: Ein bizarrer
Hügel, heute eingekeilt zwischen bürgerlichen Häusern, in der Nähe des
Altstädter Rings, gebildet von vielen Schichten Gräber. Die alten
Grabsteine stehen dicht beeinander; es sind Tausende.
„Zwischen den Gräberzeilen hinten an der Mauer geht jemand suchend
umher. Dann bleibt er am Grabmal des berühmten jüdischen Gelehrten Rabbi
Löw stehen. Jetzt beugt er sich über das Grab. Vielleicht legt er ein
Steinchen darauf, dem Toten zum ehrenden Angedenken. Wie es die Juden
taten, als sie durch die Wüste zogen, wo es keine Blumen gab. Vielleicht
aber schiebt er in einen Riß des Grabmals ein Zettelchen mit seinem
geheimsten Wunsch und der Bitte um dessen Erfüllung. Den Glauben an die
Wunderkräfte des Rabbis vermochten selbst die Jahrhunderte nicht zu
erschüttern.
Schon streicht der Nebel lautlos auch um das Grab des berühmten Rabbis,
und über ein Weilchen wird er alles verhüllen. Die Umrisse der Grabmale
verschwimmen. Nahes entfernt sich, und Entferntes ist nah.
Der Schritt des letzten Friedhofbesuchers verhallt. Dann nur noch Stille
und Dämmer. Es ist die Stunde, da Sagen und Märchen zum Leben erwachen
und all jene aufsuchen, die gerne zuhören.
Hören auch wir zu."
(Aus: Der Golem, Jüdische Sagen und Märchen aus dem alten Prag, 1992, S.
10)
Gustav Meyrink: Der Golem
Gustav Meyrink, der langjährige Simplicissimus - Mitarbeiter und Autor
spannender gespenstisch - mystischer Romane war in einer ähnlichen
Haßliebe mit Prag verbunden wie Franz Kafka. Seine unverhohlene
Abneigung gegen die Prager und die gesellschaftlichen Verhältnisse in
der Stadt stand in direktem Gegensatz zur seltsamen Faszination, die
diese Stadt zeitlebens auf ihn ausübte.
Zum Zeitpunkt des Abbruchs des alten Ghettos, um 1900 spielt sein Roman
Der Golem, der sofort nach seinem Erscheinen 1915 ein Bestseller wurde.
Das scheinbar Tote der engverschachtelten Ghettohäuser mit ihren
deformierten Über- und Nebenbauten belebt, ja dämonisiert Meyrink zu
einem Bild von Bosheit und Grauen.
Ähnlich wie in den phantastischen Romanen von E.T.A. Hoffmann oder Edgar
Allen Poe verschwimmen im Golem Alltagswelt, traumhafte Phantasie und
magische Vision. Der Ich-Erzähler des Romans träumt der Gemmenschneider
Athenasiums Pernath zu sein, der die Erinnerung an seine Vergangenheit
verloren hat und darum ringt, dieses Rätsel zu lösen. Im Verlauf des
Romans entdeckt er eines Nachts „das Zimmer ohne sichtbaren Zugang". In
diesem Zimmer gewinnt die Gestalt des Golem, der im Roman ein
Doppelgänger und damit Teil seines eigenen Ichs ist, Gestalt. Damit wird
die Verbindung geschlagen zur wohl größten Gestalt, die das jüdische
Ghetto hervorgebracht hat, der des Rabbi Löw. Dieser große Weise
erweckte im 16. Jahrhundert der Sage nach den Golem, eine Gestalt aus
Lehm und Ton zum Leben und sandte ihn zum Schutz seiner Gemeinde aus, um
Anschläge gegen sie aufzuspüren und zu vereiteln. Die historische
Sagengestalt des Rabbi Löw hat mit Meyrinks Titelgestalt wenig zu tun.
Bei ihm wird sie zu einem immer wieder auftauchenden Gespenst, das eine
erhebliches Maß an Unheimlichkeit ausstrahlt und das sowohl
psychologische als auch mystische Elemente symbolisiert. Nur mancher
Begnadete, der dem Golem als Doppelgänger ins Gesicht gesehen und ihn
überwunden hat, darf sich rühmen, ein wahrhaft bewußt handelnder Mensch
zu sein. Im Grunde ist er eine Metapher für das Ringen mit dem
Unterbewußten und der Angst, um die eigene Identität zu finden. Der
Ich-Erzähler erlebt diesen notwendigen Kampf in einem Zimmer ohne
Zugang, zu dem er tief in der Nacht nach einem langen Irrweg durch die
Gänge und Schächte des unterkellerten Ghettos gelangt.
I.) Arbeitshinweise zu dem Text „Wie der Golem die Juden beschützte".
- Bitte fasse den Inhalt der Legende „Wie der Golem die Juden
beschützte" zusammen.
- Was erfahren wir über das Leben der Juden im Ghetto?
- Was erfahren wir über den Konflikt zwischen Christen und Juden?
- Wer war der Golem und welche Funktion hatte er für die jüdische
Gemeinde?
- Bitte informiere Dich über die Person des Rabbi Löw.
Hinweis:
Informationen über die Person Rabbi Löws und Legenden über die
Erschaffung und Geschichte des Golem finden sich in den
Literaturverweisen des Einführungstextes des vorliegenden Bausteins.
II.) Arbeitshinweise zu Gustav Meyrink Der Golem
- Wie wird die Atmosphäre des jüdischen Ghettos im vorliegenden
Textauszug geschildert?
- Was erfahren wir hier über das Leben der Menschen im Ghetto?
Erweiterung:
zusätzliche Arbeitshinweise zu Gustav Meyrink Der Golem und Franz
Kafka Das Stadtwappen
- Wie läßt sich die Haßliebe Kafkas und Meyrinks zu Prag anhand der
vorliegenden Texte belegen?
- Bitte informieren Sie sich über die historisch-gesellschaftlichen
Konflikte, die dieser Haßliebe zugrunde lagen.
Die Unterrichtseinheit läßt sich zeitlich beliebig erweitern, indem
wichtige andere Textpassagen aus Meyrinks Roman Der Golem oder der Roman
insgesamt behandelt werden. Das Wissen über die besondere Kultur des
jüdischen Ghettos Ende des 19. Jahrhundert, über die Atmosphäre, über
jüdisches Leben und jüdische Mystik läßt sich anhand der Lektüre
erweitern und vertiefen.
III.) Arbeitshinweise zu Franz Kafka Das Stadtwappen
- Versuchen Sie, den Ablauf des babylonischen Unternehmens und seine
Folgen zu beschreiben; beachten Sie dabei den Zeitpunkt, von dem aus
erzählt wird.
- Woran scheitert nach Ihrem Textverständnis der Turmbau?
- Wie deuten Sie die Sehnsucht der Menschen nach der Zerstörung der
Stadt?
Einen besonders für Schülerinnen und Schüler interessanten Zugang zu
Kafka - seine Beziehung zu Prag und zum Judentum - findet sich in dem
teilweise als Comic illustrierten Band von David Zane Mairowitz und
Robert Crumb: Kafka for Beginners. Cambridge 1993 und weiterhin in Jirí
Grusa: Franz Kafka und Prag. Frankfurt/M. 1983.
Petra Schneider
Wie der Golem die Juden beschützte
Rabbi Löw sandte allnächtlich den Golem aus, über die Gassen der
Judenstadt und der Prager Altstadt zu wachen. Sollte er etwas
Verdächtiges sehen oder jemanden entdecken, der gegen die Juden Böses im
Schilde führte, hatte er sogleich einzugreifen.
Zumal vor dem Pessachfest, von dem unter den Christen allerlei falsche
Vorstellungen umgingen, beobachtete er besonders wachsam alles, was sich
zu nachtschlafener Zeit in der Judenstadt und rings ums Ghetto tat.
Seine Rundgänge unternahm der Golem als christlicher Lastenträger
verkleidet. Wenn er eine ausnehmend schwierige Aufgabe zu bewältigen
hatte, hängte Rabbi Löw ihm ein Amulett um den Hals, ein Stück
Hirschleder, mit Geheimzeichen beschriftet. Das Amulett machte den Golem
unsichtbar. Ungesehen betrat er Prager Schenken und lauschte den
Gesprächen, ungesehen strafte er jene, die Strafe verdienten.
Um diese Zeit geschah es, daß in der Prager Judenstadt eine christliche
Dienstmagd verschwand. An Samstagen, da den Juden jedwede Art von Arbeit
verboten ist, hatte die christliche Dienstmagd in jüdischen Haushalten
ausgeholfen. Und nun war sie weg und niemand wußte, wohin sie
verschwunden war. Einige Tage nach dem Verschwinden der Magd verschwand
aus dem Ghetto auch das Mädchen Dina, die Tochter eines jüdischen
Wundarztes.
Anfangs standen die beiden Fälle offenbar in keinem Zusammenhang. Aber
bald entwuchs aus ihnen eine Gefahr, welche die ganze Judenstadt
bedrohte. Die Tochter des Wundarztes war in ein nahegelegenes Kloster
geflohen. Sie hatte schon längere Zeit heimlich mit den Mönchen
verhandelt. Sie wollte dem jüdischen Glauben abschwören und den
christlichen annehmen. Ihre Flucht versetzte ganz Prag in Aufregung.
Aber in noch größere Aufregung versetzte Christen und Juden das, was
Dina aussagte.
Ein hoher kirchlichen Würdenträger stellte mit Dina, der Tochter des
Wundarztes, ein langes Verhör an, wie in solchen Fällen damals üblich.
Er fragte sie aus, warum sie entschlossen sei, dem jüdischen Glauben
abzuschwören, er fragte sie aus nach ihrem Leben, und Dina gab auf alles
bereitwillig Antwort. Sie wollte als zum christlichen Glauben Bekehrte
Lob und Bewunderung ernten. Daher meinte sie auch, durch üble Nachrede
all das verunglimpfen zu müssen, dem sie entstammte.
»Sprich«, sagte der Geistliche, »ist es wahr, daß die Juden für ihr
Osterbrot Christenblut verwenden?«
»Ja, es ist wahr«, bestätigte Dina eifrig. »Weißt du etwa«, fragte der
Geistliche weiter, »wo die Juden das Christenblut zum Backen des
Osterbrotes heuer herbekommen haben?« Dina überlegte, aber nicht lange.
»Und ob ich das weiß«, sagte sie. »Vor dem Frühlingsfest ist in der
Judenstadt eine christliche Magd verschwunden.«
»Bedenke genau, was du da behauptest, Tochter«,
sagte der Geistliche.
Und da, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen, schwor das jüdische
Mädchen Dina bei seiner Seele, es habe mit eigenen Ohren die
Unterhaltung der beiden Synagogendiener Abraham Chaim und Josef
mitangehört.
»Josef ist doch stumm«, wandte der Geistliche ein.
»Stumm mag er sein«, entgegnete Dina unbeirrt, »aber er redet mit den
Händen besser als so manch anderer mit der Zunge. Ganz bestimmt haben
die beiden über die Dienstmagd gesprochen und davon, wie sie ihr das
Leben genommen haben.«
Noch am selben Tag, als Dina den furchtbaren Verdacht auf die jüdische
Gemeinde gewälzt hatte, erfuhr der hohe Rabbi Löw von ihrer Aussage, und
ihm wurde traurig zumute. Ein großes Elend ist den Menschen auferlegt,
dachte er, und ein schweres Joch lastete auf Adams Söhnen. Und ein
Bibelvers kam ihm in den Sinn, der da lautet: Denn aus Kleidern geht die
Motte hervor, und aus einer unwürdigen Frau die Schlechtigkeit.
Aber es mußte unverzüglich gehandelt werden. Der Rabbi ahnte, daß die
Stadtwache gar bald kommen würde, um die Synagogendiener Abraham Chaim
und Josef zu ergreifen. Und er beschloß, den Golem um jeden Preis zu
retten. Er brauchte ihn nämlich zu einem höchst wichtigen Zweck. Also
versteckte er den Golem in einem Alkoven seines Hauses und zog des
Golems Kleider einem anderen Stummen an. Er baute darauf, daß die
Richter, denen man den Stummen vorführen würde, das wahre Aussehen des
Golems nicht kannten.
Kaum war es ihm gelungen, das Nötigste zu bewerkstelligen, da erschienen
auch schon die Büttel. Sie führten Abraham Chaim in ihrer Mitte und
wollten jetzt den Josef holen. Sie nahmen jedoch den Falschen mit.
Rabbi Löw atmete auf. Die erste List war gelungen, nun mußte auch noch
die zweite gelingen.
Er befreite den Golem aus dem Alkoven, zog ihm Bauernkleider an und
hielt ihm einen Brief hin.
»Josef«, sprach er, »du suchst ganz Prag ab, und wenn du eine
christliche Magd findest, die in der Judenstadt gedient hat, gibst du
ihr diesen Brief und bringst sie mit hierher. Wenn du sie in Prag nicht
findest, suchst du die ganze Umgebung der Stadt ab, und wenn du sie dort
nicht findest, suchst du, wenn es nicht anders geht, ganz Böhmen ab.«
Und der hohe Rabbi erklärte dem Golem, was für ein Unheil über die
Judenstadt hereinbrechen würde, wenn die Magd nicht rechtzeitig
zurückkam.
Der Golem nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte.
Er war in allem, was den Schutz der jüdischen Gemeinde betraf, regsam
und flink. Er war dazu erschaffen, wie der Singvogel zum Singen
erschaffen ist und der helle Tag zur Arbeit und die dunkle Nacht zum
Schlafen.
Der Rabbi händigte dem Golem den Brief aus. In dem Brief bat er die Magd
im Namen ihrer Dienstherrin, sich rasch wieder einzufinden. Und falls es
ihr an Mitteln mangle, werde er ihr alles vergüten. Einstweilen
übersende er ihr ein Aufgeld von 25 Talern.
Der Golem verließ das Haus des Rabbis, und eine lange Zeit des Wartens
brach an.
Mittlerweile rückte der Gerichtstag näher. Rabbi Löw war als Vertreter
der jüdischen Gemeinde vorgeladen worden. Obwohl er weise und
redegewandt war, befürchtete er diesmal, nicht viel erreichen zu können,
wenn der Golem die Magd nicht fand, ohne deren Anwesenheit die
Verleumdungen nicht entkräftet werden konnten.
In allen Prager Synagogen ging es in diesen Tagen lebhaft zu. Die Juden
beteten um die Abwendung der Gefahr, die schon bedrohlich nahe war.
Falls sie den Gerichtsprozeß verloren, konnten sie so gut wie sicher
sein, daß rachsüchtige, raubende und mordende Banden in die Judenstadt
einfielen wie weiland zu Lebzeiten des Gelehrten und Dichters Awigdor
Kara.
Der Gerichtstag war gekommen, und der Golem hatte noch immer nichts von
sich verlauten lassen. Rabbi Löw ordnete strenges Fasten an, aber der
Himmel wollte sich nicht erbarmen.
Die Morgenröte des schicksalhaften Gerichtstages überraschte den hohen
Rabbi Löw am Fenster. Er hoffte immer noch, der Golem werde plötzlich in
der Gasse auftauchen und alles retten.
Mit zunehmender Tageshelle schwand des Rabbis Hoffnung.
In der Altneu-Synagoge fanden an diesem Tage feierliche Gottesdienste
statt wie beim Versöhnungsfest. Und die Menschen vergaben einander die
Sünden, und Sorge und Trauer hielten tränenreich Einzug unter dem
Gewölbe der Synagoge. Nach Hause aber gingen die Juden trotz allem
gestärkt von den Worten des Rabbis.
Für alle brach ein arbeitsreicher Tag an. Dem hohen Rabbi Löw und dem
Gemeindevorsteher Mordechai Meisl fiel die traurige Pflicht zu, der
Gerichtsverhandlung beizuwohnen. An ein Gewinnen des Prozesses war nicht
im Traum zu denken. Und vom Golem und von der Magd noch immer keine
Spur. Vor dem Gebäude, in dem das Gericht tagte, hatte sich eine große
Menschenmenge angesammelt. Sobald Dina, die Tochter des Wundarztes, mit
ihren Begleitern erschien, erschollen Jubelrufe und
Begeisterungsschreie. Ihr folgten durchs Gedränge der Gemeindevorsteher
Meisl und der hohe Rabbi Löw. Die Menge begann zu murren, von allen
Seiten hagelte es Drohungen: ein Vorspiel des Unheils, das die beiden
Juden heraufziehen sahen.
Kaum hatten sie den Gerichtssaal betreten, richteten sich die Blicke
aller Anwesenden auf sie und folgten ihnen, als hätten sie selbst die
heimlichen und ruchlosen Untaten begangen.
Der Richter eröffnete die Verhandlung und befahl, die beiden
Synagogendiener vorzuführen: den echten Abraham Chaim und den stummen
mutmaßlichen Jo
sef. Beide wurden des Mordes an der christlichen Dienstmagd beschuldigt,
die im Ghetto verschwunden war.
Dann ließ der Richter die Kronzeugin vorführen, des Wundarztes Tochter
Dina, und stellte ihr folgende Frage:
»Erkennst du die Synagogendiener? Sind es jene, deren Gespräch über die
christliche Dienstmagd du belauscht hast?«
»Und ob ich sie erkenne«, sagte Dina. »Der eine heißt Abraham und der
andere Josef. Genau diese beiden haben geprahlt, daß sie die Dienstmagd
ermordet haben.«
Nach dieser Auskunft geriet der Richter ins Sinnen. Da drang in seine
Gedanken und in die Stille des Saales durchs offene Fenster das Rattern
eines in rasender Fahrt herannahendes Fuhrwerks. Das Geratter brach vor
dem Tor des Gerichtsgebäudes ab, schon flogen die beiden Flügel der
Saaltür auf, und da war der Golem, die Hand der totgeglaubten Dienstmagd
fest in der seinen. Verwirrt von den vielen Menschen im Saal, suchte er
irrenden Blicks die Stelle, wo der hohe Rabbi Löw saß. Der hatte sich
jedoch bereits erhoben und winkte dem Golem zu. Der Golem stapfte zu ihm
hinüber und begann unverzüglich, ihm in der Zeichensprache zu berichten,
was er erlebt hatte.
Die Dienstmagd hatte er weder in Prag gefunden noch in den Dörfern, die
ihm ihre Bekannten genannt hatten. Er mußte sich bis ans andere Ende von
Böhmen aufmachen, zu ihrem Bruder, wohin sie zu Besuch gefahren war.
Dort hatte er sie dann angetroffen, hatte ihr den Brief ausgehändigt und
ihren Bruder gezwungen, sie beide so schnell wie möglich nach Prag zu
fahren. Hätten sie wegen der Pferde nicht rasten müssen, wären sie schon
früher angekommen. Sie waren zum Haus des Rabbi Löw gefahren, und dessen
Frau hatte ihnen gesagt, sie würden ihren Ehemann hier antreffen. Und da
waren sie also, und dem Himmel sei Dank dafür.
Ein Raunen der Verwunderung ging durch den Gerichtssaal. Die Leute
zeigten auf die totgeglaubte Dienstmagd und auf Josef, und das Gericht
mußte den lebenden Beweis anerkennen. Dina erbleichte und starrte bald
den echten und bald den falschen Josef an.
Sodann ergriff der hohe Rabbi Löw das Wort und hielt eine seiner
glänzendsten Reden. Er zeigte an Dinas Zeugnis auf, wie eine Lüge sich
selbst das Grab gräbt. Mit flammenden Worten verwahrte er sich gegen die
Verleumdungen und erläuterte am Beispiel der christlichen Dienstmagd,
wie um ein Haar großes Unrecht geschehen wäre. Die beschuldigten
Synagogendiener, der echte sowie der vermeintliche, kehrten mit Rabbi
Löw, mit dem Gemeindevorsteher Meisl, dem glücklichen Golem und der
christlichen Dienstmagd in die Judenstadt zurück.
Mit ihrer Rückkehr zog in die jüdischen Häuser wieder Ruhe und Frieden
ein.
(aus: Eduard Petiska, Der Golem - Jüdische Sagen und Märchen aus dem
alten Prag, Prag 1992, S. 61ff)
Prag
... und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie
verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten. Wie unheimlich
und verkommen sie alle aussahen!
Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden
dringt.
An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest
eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt - vor
zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die
übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit
zurückspringender Stirn, - ein andres daneben: vorstehend wie ein
Eckzahn.
Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man
spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von
ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt
und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in
mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden
des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt
eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da
ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt,
Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder
und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer
Ursache zu forschen.
Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften
Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen
eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens
entäußern und es wieder an sich ziehen können - es tagsüber den
Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit
Wucherzinsen wieder zurückzufordern.
Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen,
wie Wesen - nicht von Müttern geboren -, die in ihrem Denken und Tun wie
aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste all mit
vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche
Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch
wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.
Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem
künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein
kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem
gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches
Zahlenwort hinter die Zähne schob.
Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in
der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so
müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem
Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein
nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem
einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich
Unbestimmtes, Haltloses - in ihrem Hirn aus.
Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen
Geschöpfen!
Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie
früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem
Atem - wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren
Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann
fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre
Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich
seiner zu bemächtigen.
»Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe
genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an.
Wie konnte er wissen, woran ich dachte?
So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind,
auf das Gehirn des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende Funken,
fühlte ich. [...]
Mir war, als starrten die Häuser mit tückischen Gesichtern voll
namenloser Bosheit auf mich herüber - die Tore: aufgerissene schwarze
Mäuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, Rachen, die jeden
Augenblick einen gellenden Schrei ausstoßen konnten, so gellend und
haßerfüllt, daß es uns bis ins Innerste erschrecken müßte.
(aus: Gustav Meyrink, Der Golem, Berlin 1988, S. 32f)
Franz Kafka:
Das Stadtwappen
Anfangs war beim babylonischen Turmbau alles in leidlicher Ordnung; ja,
die Ordnung war vielleicht zu groß, man dachte zu sehr an Wegweiser,
Dolmetscher, Arbeiterunterkünfte und Verbindungswege, so als habe man
Jahrhunderte freier Arbeitsmöglichkeit vor sich. Die damals herrschende
Meinung ging sogar dahin, man könne gar nicht langsam genug bauen; man
mußte diese Meinung gar nicht sehr übertreiben und konnte überhaupt
davor zurückschrecken, die Fundamente zu legen. Man argumentierte
nämlich so: Das Wesentliche des ganzen Unternehmens ist der Gedanke,
einen bis in den Himmel reichenden Turm zu bauen. Neben diesem Gedanken
ist alles andere nebensächlich. Der Gedanke, einmal in seiner Größe
gefaßt, kann nicht mehr verschwinden; solange es Menschen gibt, wird
auch der starke Wunsch da sein, den Turm zu Ende zu bauen. In dieser
Hinsicht aber muß man wegen der Zukunft keine Sorgen haben, im
Gegenteil, das Wissen der Menschheit steigert sich, die Baukunst hat
Fortschritte gemacht und wird weitere Fortschritte machen, eine Arbeit,
zu der wir ein Jahr brauchen, wird in hundert Jahren vielleicht in einem
halben Jahr geleistet werden und überdies besser, haltbarer. Warum also
schon heute sich an die Grenze der Kräfte abmühen? Das hätte nur dann
Sinn, wenn man hoffen könnte, den Turm in der Zeit einer Generation
aufzubauen. Das aber war auf keine Weise zu erwarten. Eher ließ sich
denken, daß die nächste Generatin mit ihrem vervollkommneten Wissen die
Arbeit der vorigen Generation schlecht finden und das Gebäude
niederreißen werde, um von neuem anzufangen. Solche Gedanken lähmten die
Kräfte, und mehr als um den Turmbau kümmerte man sich um den Bau der
Arbeiterstadt. Jede Landsmannschaft wollte das schönste Quartier haben,
dadurch ergaben sich Streitigkeiten, die sich bis zu blutigen Kämpfen
steigerten. Diese Kämpfe hörten nicht mehr auf; den Führern waren sie
ein neues Argument dafür, daß der Turm auch mangels der nötigen
Konzentration sehr langsam oder lieber erst nach allgemeinem
Friedensschluß gebaut werden sollte. Doch verbrachte man die Zeit nicht
nur mit Kämpfen, in den Pausen verschönerte man die Stadt, wodurch man
allerdings neuen Neid und neue Kämpfe hervorrief. So verging die Zeit
der ersten Generation, aber keine der folgenden war anders, nur die
Kunstfertigkeit steigerte sich immerfort und damit die Kampfsucht. Dazu
kam, daß schon die zweite oder dritte Generation die Sinnlosigkeit des
Himmelsturmbaus erkannte, doch war man schon viel zu sehr miteinander
verbunden, um die Stadt zu verlassen.
Alles was in dieser Stadt an Sagen und Liedern entstanden ist, ist
erfüllt von der Sehnsucht nach einem prophezeiten Tag, an welchem die
Stadt von einer Riesenfaust in fünf kurz aufeinanderfolgenden Schlägen
zerschmettert werden wird. Deshalb hat auch die Stadt die Faust im
Wappen.
Franz Kafka, Das Stadtwappen, in: Sämtliche Erzählungen Hamburg 1970,
S. 306f
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