Wilhelm Schmid

Globalisierung als Chance: Individueller Umgang mit Wandel

Ein wandlungsfähiges Selbstverhältnis als Grundlage für die Bewältigung von Wandel


Dr. habil. Wilhelm Schmid lehrt am Institut für Philosophie der Pädagogischen Hochschule Erfurt.

1. Das Konzept der Identität

Wenn der individuelle Umgang mit Wandel thematisiert werden soll, genauer: Wenn Möglichkeiten für einen solchen Umgang eröffnet werden sollen, dann erscheint es erforderlich, bis zur Wurzel unseres Verhältnisses zu uns selbst zurückzugehen. Die abendländische Tradition offeriert uns diese Möglichkeit, denn im Laufe dieser Geschichte hat sich ein Selbst herausgebildet, das nicht nur dieses und jenes Selbst ist, sondern sich verdoppelt um ein Sich" und nun von sich selbst" sprechen kann, sich wie von Außen betrachten, verstehen und verändern kann, kurz: Sich zu sich verhalten kann.

Welches Selbstverhältnis wir haben, nehmen wir für gewöhnlich nicht wahr. Nicht weil wir ignorant sind, sondern weil es uns als selbstverständlich erscheint. Und es erscheint uns wiederum als selbstverständlich, weil wir zu seinem Zustandekommen für gewöhnlich nichts beigetragen haben - wir haben es nur übernommen von den in unserer Gesellschaft unausgesprochen geltenden, unverdächtigen und unbewußten Normen des Selbstverhältnisses; es wird uns nahegebracht von Anderen, deren Autorität wir vertrauen und die selbst wiederum auf die unangefochtene Autorität des Selbstverhältnisses vertrauen, das seine Autorität aus Tradition und Konvention bezieht.

Und doch ist ein Selbstverständnis nichts als ein kulturelles Konstrukt, konstruiert nicht zuletzt von Philosophen im Laufe der Geschichte der Philosophie; ein solches Konstrukt ist dann ein Subjektkonzept". Eines dieser Konzepte ist das der Identität". Es ist prägend geworden für die Zeit, die man die Moderne nennt. Merkwürdig ist nur: Seit es dieses Konzept gibt, gibt es auch die Suche nach Identität, nur gefunden wird sie relativ selten, und kaum hat jemand sie gefunden, ist sie auch schon wieder verloren gegangen. Allgemein wird das Problem in der fehlenden Identität gesehen, niemand vermutet das Problem im Konzept der Identität selbst.


Identität wird postuliert, um sie dann unentwegt in der Krise" zu sehen; Individuen und Gesellschaften haben gleichermaßen viel zu tun, ihre jeweiligen Identitäten gegen alle möglichen Bedrohungen zu verteidigen, nur um sich dann zu fragen, was das eigentlich ist, ihre Identität". Nur von logischer Identität weiß man aber präzise, was sie ist: Vollkommene Übereinstimmung, d.h. Gleichheit in allen Hinsichten in der Relation eines Einzelnen zu sich". Etwas davon muß Eingang gefunden haben in die Konzeptionen von personaler Identität", wonach ein Selbst auch bei innerer und äußerer Veränderung mit sich identisch" bleiben muß. Ebenso in das Verständnis von nationaler Identität", wonach die Mitglieder einer Gesellschaft selbst bei noch so großen Differenzen untereinander in wesentlichen Punkten miteinander übereinstimmen" müssen.

Mit sich identisch zu bleiben, versucht das moderne Subjekt der Identität in seinen beiden, nur scheinbar sich ausschließenden Ausprägungen zu erreichen: Als sich selbst gleichbleibende Vernunft des reinen Denkens (rationalistisches Subjekt), und als sich selbst gleichbleibende Innerlichkeit des reinen Fühlens (romantisches Subjekt). Personal, national, rationalistisch, romantisch: Ein Problem bringt jede Identität trotz anderslautender Bekundungen mit sich, nämlich mit Anderem" nicht zurechtzukommen, im äußersten Fall Andere, Anderes, Abweichung und Veränderung auszuschließen. An diesem Befund ändert sich nichts, wenn zugestanden werden muß, daß Identität erforderlich ist, um etwas als etwas und jemanden als jemanden anzusprechen, denn das Problem besteht darin, dieses Etwas als etwas festzulegen, obwohl es auch Anderes ist, und jemanden mit Eigenschaften zu identifizieren, die sein Anderssein und seine mögliche Veränderung verkennen. Wie problematisch dies ist, wird am besten nachvollziehbar, wenn man sich selbst von Anderen identifiziert" sieht und fortan dieser und jener ist".

Nur vor dem Hintergrund der Identitätshysterie, die sich im Laufe der Moderne breitgemacht hat, ist zu verstehen, wie es in einer extremen Gegenreaktion zum Traum von einem postmodernen Subjekt der Multiplizität kommen konnte, dessen andere Seite der pathologische Befund einer multiplen Persönlichkeit" ist, die die Tendenz zur Schizophrenie, zur Gespaltenheit in sich trägt. Die moderne reine Vernunft" fühlt sich bedroht von der Konfrontation mit diesen postmodernen Formen der Vielfältigkeit, wohl weil die Defizite ihrer Identität" in diesem Moment aufgewiesen werden und die bestehende Einheit nur noch als ein vom Einsturz bedrohtes Gebäude erscheint. Aber sie steht auf verlorenem Posten, denn immer und ständig eins sein zu sollen mit sich, zieht für die Individuen nur Enttäuschungen nach sich und setzt sie dem täglichen Gefühl des Scheiterns und Versagens aus. Daher die Flucht vor der Identität in den Traum der Multiplizität, in die Krankheit der Gespaltenheit, bedrängt von der Realität einer sich weiter beschleunigenden Moderne, die dabei ist, zur vollkommenen Kultur der Zeit zu werden, in der die immerwährende Veränderung jeden Ansatz zur Identität schon im Keim erstickt und die multiple Subjektkonzeption zur Überlebensfrage macht - so wie einst die einsetzende Modernisierung, als die überlieferten Gewißheiten wankend wurden, dem Subjekt abverlangte, irgendwie noch dasselbe" zu bleiben.

Leider bringt es die Identität, das ständige Sich-Selbst-Gleich-Bleiben", im Nebeneffekt mit sich, für die vollständige Ausrechenbarkeit eines Individuums zu sorgen, so daß es problemlos einsetzbar wird für eine beherrschende, berechnende Macht. Freilich gibt es auch ein schwerwiegendes Problem am anderen Ende der Skala, wenn nämlich die Multiplizität die völlige Unberechenbarkeit, Unzuverlässigkeit und wiederum die beliebige Verwendbarkeit des Individuums, das keinen Punkt der Resistenz mehr in sich hat, nach sich zieht. Beidem, sowohl der ängstlichen Einheit der Identität, wie auch der völligen Auflösung dessen, was Selbst" sein kann, gilt es in einer reflektierten Lebenskunst gegenzusteuern.

2. Die Kohärenz des Selbst

Auf das Problem der Identität wie ihrer Auflösung versucht in der anderen Moderne, ausgehend vom Subjekt der Sorge um sich, daher eine Organisation des Selbst zu antworten, bei der nicht krampfhaft an der modernen Forderung nach seiner Einheit" festgehalten wird, jedoch auch das postmoderne vielfältige Subjekt nicht nur seiner Beliebigkeit überlassen wird. Was Kant als ein vielfärbiges, verschiedenes Selbst" bezeichnet hatte,1 unvereinbar mit dem identischen Selbst" der transzendentalen Einheit der Apperzeption eines Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können", gewinnt von neuem an Interesse, und doch richtet sich die Sorge darauf, das Konglomerat dieses Selbst zu organisieren und einen Zusammenhang weit unterhalb der strengen Einheit, aber weit oberhalb der bloßen Beliebigkeit herzustellen. Das Werk, an dem die Sorge arbeitet, ist die Kohärenz des Selbst. Die Kohärenz ist das Gefüge, das die vielen Aspekte des Ichs" in einem vielfarbigen Selbst in einen wechselseitigen Zusammenhang bringt. Sie leistet das, was häufig schon der von ihrem eigentlichen Begriff abgekommenen Identität zugeschrieben wird, von der nur noch verlangt wird, das Selbst und sein Leben als zusammenhängendes Ganzes" zu gestalten. Konsistenz wäre für diesen Zusammenhang schon ein zu starker Begriff, der Ruhe, Stillstand, Abwesenheit von Bewegung meint. Daher, vorsichtiger, die Kohärenz: Das, was zusammenhängt, was organisch zusammenhält, miteinander verwachsen und mit Anderem verbunden ist, auch wenn es in sich widersprüchlich und immer in Bewegung ist. Die Kohärenz ist nicht einfach schon gegeben, sie ist ein Konstrukt, sie wird in der Lebenskunst bewußt und reflektiert erst hergestellt, um das Selbst zum Werk zu machen.

Und wenn es an der dafür nötigen Sorge fehlt? Dann kommt es zur Auflösung von Subjekt und Selbst.

Das Konzept der Kohärenz trägt dem Umstand Rechnung, daß wir, fern davon, identisch" zu bleiben, unentwegt Andere sind und Anderen begegnen, die uns verändern; daß wir Erfahrungen machen und mit Zufällen und Situationen zu tun haben, die uns nicht als dieselben belassen, so daß wir sagen müssen: Ich bin dieses Selbst und bin es doch auch nicht. Die Kohärenz sorgt sich um die Integration des Anderen in jedem Sinne, arbeitet ständig neu an der Strukturierung des Selbst und ermöglicht ihm auf diese Weise, sich selbst" nicht zu verlieren.

Die Veränderung des Subjekts in der Zeit, seine Zerstreuung im Raum, seine vielfältigen Wahlmöglichkeiten, aber auch seine Gebrochenheit in sich, wie sie vom modernen Subjekt der Identität negiert und vom postmodernen Subjekt der Multiplizität affirmiert worden ist, wird in die Kohärenz aufgenommen, die nicht transzendental", nicht zeitlos und unveränderlich ist und dennoch für die Stabilität und Kontinuität des Subjekts sorgt. Sie ist es, die macht, daß wir uns, obwohl wir nicht dieselben bleiben, uns doch als uns selbst" empfinden, und die dafür sorgt, daß auch die Brüche und Unsicherheiten noch ein Bezugsfeld haben und weder ins Leere gehen noch zur Selbstauslöschung führen müssen. Das Subjekt besteht nun auch aus den Ruinen des abgelebten Lebens, den abgebrochenen Linien und Beziehungen, den Fragmenten, die nicht mehr um der Herrschaft eines glanzvollen identischen Ichs willen hinausgeworfen werden müssen.

Es ist schwierig, diese Kohärenz näher zu definieren, die aus einer Vielzahl von Aspekten und Momenten gebildet

und als Text" hergestellt wird, ohne daß dieser Prozeß jemals zu Ende käme. Von der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen", die Kant zugrunde legt, unterscheidet sie sich dadurch, daß sie zwar ein bewußt hergestelltes Gefüge, aber keine strikte Einheit" ist, daß sie ferner nicht nur im Denken, sondern leiblich und seelisch hergestellt wird, und daß sie schließlich auch Widersprüche zusammenzuhalten vermag, die in ihrer Konstellation und Kontinuität das Selbst erkennbar machen. Alle Widersprüche finden sich in mir", sagte Montaigne,² Prototyp des Subjekts der Kohärenz. Widersprüche sind nicht etwa nebensächliche, vernachlässigbare oder gar zu eliminierende Störfaktoren: Ich bin meine Widersprüche. Darüber, daß es Widerspruchsfreiheit im Subjekt ohnehin nicht geben kann, ist das Konzept der Identität immer großzügig hinweggegangen. Es kommt aber darauf an, die Widersprüche ernstzunehmen, mit ihnen zu arbeiten und sie im Selbst anzusiedeln.

Sie sorgen für die Eigenheiten, die das Selbst ausmachen und seine Individualität begründen, wenn es hierbei auch eine Typisierung gibt, d.h. bestimmte allgemeinere Züge einer Kohärenz, die bei verschiedenen Individuen in ähnlicher Weise auftreten, vielleicht von Strukturen in einer Kultur oder Gesellschaft bedingt. Dieses widersprüchliche Gefüge kann eine enorme Beharrungskraft haben und ist nicht jederzeit beliebig veränderbar; die Biographie des Individuums, die Geschichte seines Lebens zeichnet sich darin vollständig ab. Es wird nicht nur von Erfahrungen, Ereignissen und Eigenschaften gebildet, sondern auch von Träumen, Phantasien und Vorstellungen; ferner werden die Beziehungen zu Anderen in die Textur des Selbst eingefügt - sie gehören zu seiner Kohärenz, können sie allerdings auch in Frage stellen, und das geschieht vor allem dann, wenn die Beziehungen zerbrechen. Aber der Verlust der Kohärenz ist wesentlich, um sie neu zu finden und zu erfinden. Darüber hinaus kommt es ständig vor, daß ein neuer Punkt außerhalb des bestehenden Gefüges ins Spiel kommt; die Arbeit der Kohärenz besteht darin, das bestehende Netz unter seiner Einbeziehung zu restrukturieren.

3. Kohärenz als "Gesellschaftsbau" des Selbst

Man kann sich die Kohärenz abgestuft vorstellen zwischen einem Kernbereich, dessen Zusammenhalt festgefügt und nicht so ohne weiteres zu modifizieren ist, dort also, wo das Selbst sich am stärksten herauskristallisiert", das Selbst in kristalliner Form, worin sich auch sein Charakter" findet als dem Eigensten des Selbst zugehörig; sowie den stufenweise weniger festgefügten inneren, peripheren und äußeren Bereichen, bei denen eine wachsende Fluktuation möglich ist. Es ist der Kern, der inmitten aller Veränderbarkeit und auch Widersprüchlichkeit eine relative Beständigkeit garantiert.

Die Herstellung der Kohärenz ist eine Kunst der Disposition, eine Arbeit an der wechselseitigen Inbezugsetzung der verschiedenen Elemente, um sie in ein Verhältnis zueinander zu bringen und es nicht nur bei einem Sammelsurium von Selbst zu belassen. Sie ist der Gesellschaftsbau" der Gedanken, Verhaltensweisen und Gefühle und der vielen verschiedenen Stimmen im Selbst, die allesamt Ich" sagen und dabei jeweils die Gesamtheit des Subjekts für sich in Anspruch nehmen. Das Vorgefundene und das Erfundene finden darin Eingang; auch die Fehltritte und Irrtümer, Abwege und Umwege haben hier ihren Ort und ihre Bedeutung für das Selbst.

So kommt es gegenüber der Einförmigkeit des nach dem Maßstab der Identität konstituierten Subjekts zu einem sehr viel größeren Reichtum des Selbst, das zugleich nicht ein bloßes Chaos ist. Dieses Subjekt, das nicht mehr perfekt sein muß, vielmehr porös sein kann, hat vielleicht auch weniger Schwierigkeiten damit, Fehler zu machen und sie einzugestehen, denn es hat keinen makellosen Kreis des Identischen zu bewahren; es ist kein cartesianisches Subjekt, das wie eine Maschine perfekt zu funktionieren hätte. Wer immer nur der Gleiche und perfekt sein will, hat sich in der ontologischen Dimension geirrt, denn das ist das Attribut von Göttern.

4. Narrative Identität"

Das Chaos von Ereignissen, Erlebnissen, Begegnungen, Eindrücken zu strukturieren und in Bezug zu dem, was Selbst war und neu wird, zu setzen, kann in Gesprächen, Geschichten und Erzählungen geschehen, die der Selbstverständigung dienen.

Wo von Identität als Kategorie der Subjektkonstitution überhaupt noch die Rede ist, ist sie bereits umgedeutet zur narrativen Identität,³ die eine diachrone" und nicht mehr nur synchrone" Identität meint und auf einem Subjekt beruht, das sich in der Zeit entfaltet und Geschichte und Fiktion gleichermaßen umfaßt. Das ist kein Sich-Selbst-Gleich-Bleiben" mehr; statt einer Identität stellt das Subjekt seine Narrativität her, die für den Zusammenhang von Erfahrungen, Beziehungen, Verhaltensweisen etc. sorgt und das Selbstverständnis des Subjekts am Leitfaden der Zeit entwickelt. Sich die eigene Geschichte immer wieder neu zu erzählen, sie zu finden und zu erfinden im Gespräch mit Anderen, frühere Erzählungen zu überarbeiten und neu zu interpretieren: Das ist eine Identi tät", die sich selbst immer wieder neu befragt und restrukturiert. Das Selbst hat nicht mehr die Nadelspitzen-Identität des Ich, die völlig bedeutungsleer ist. Ist diese erzählte Identität aber nicht eine Illusion? Vorausgesetzt, sie wäre es, bestünde darin kein Problem: Als Illusion wäre sie wirksam, also wirklich.

5. Ähnlichkeit und Differenz

Das Kohärenz-Konzept hat seine eigene Geschichte,4 aber in der Art, in der es hier für die Lebenskunst des reflektierten Selbst eingeführt wird, kann nicht davon die Rede sein, daß damit die Gestaltung eines Ganzen" gemeint sei - es kann sich vielmehr um ein fragmentiertes Selbst handeln, das so unvollendet bleibt, wie es unvollkommen ist. In der Erzählung fügt das Selbst sich zusammen, definiert seinen festen Kern und sortiert die Bereiche darum herum. Entscheidend ist dabei nicht, was es als mit sich identisch oder different erkennt, entscheidend ist vielmehr die Ähnlichkeit und Differenz.

Ähnlich ist das, was weder identisch noch different ist. Die Ähnlichkeit erlaubt keine scharfe Trennlinie zwischen Selbst und Anderem bzw. Anderen und ist daher der Selbstorganisation des multiplen Subjekts angemessen; sie ermöglicht es, die Festgefügtheit des Selbst zu konzipieren und zugleich seine Offenheit beizubehalten. Die auf Ähnlichkeit gegründete Kohärenz, die porös ist und deren Ränder fließend sind, wirft auch nicht mehr das Problem einer alleinherrschenden Position des Subjekts gegenüber bloßen Objekten" auf, wie sie so signifikant für das cartesianische Subjekt und für die gesamte Moderne war; das Subjekt kann wieder in eine stärker interagierende Beziehung zu anderen Subjekten, Wesen, Dingen, Verhältnissen treten, die neben ihrer Differenz zum Selbst immer auch Elemente der Ähnlichkeit an sich haben.

6. Ästhetik der Existenz

Es ist die Kohärenz des Subjekts, die den Begriff der Ästhetik der Existenz für sich in Anspruch nehmen kann, in den verschiedenen Bedeutungen, die für diesen Begriff erschlossen werden können. Die Kohärenz ist Ausdruck der Selbstmächtigkeit des Subjekts, die nicht mit Selbstherrschaft oder Selbstbeherrschung" verwechselt werden darf, sondern ein Spiel der Macht im Inneren des Selbst und nach Außen hin anzeigt, das auf der prinzipiellen Umkehrbarkeit von Machtbeziehungen beruht und nicht die einseitige Herrschaft eines Teils über einen anderen meint. Dies ist gleichsam die demokratische Verfassung des Selbst im Inneren wie nach Außen hin. Mithilfe des Konzepts der Kohärenz gibt das Selbst sich selbst eine starke Struktur und macht sich und sein Leben zum Kunstwerk: Die kunstvolle Gestaltung des Selbst und der Existenz vollzieht sich in der Gestaltung ihres Zusammenhangs.

Dem liegen verschiedene Akte der Wahl zugrunde: Nicht nur das Konzept der Kohärenz ist (wie jedes Subjektkonzept) eine Frage der Wahl, sondern auch die Art der Kohärenz; sogar die Eckpunkte der Beständigkeit, die die Kohärenz im engeren Sinne bilden, können eine Frage der Wahl sein, und es obliegt der Wahl des Individuums, seine Eigenheit oder aber seine Ähnlichkeit gegenüber Anderen in den Vordergrund zu rücken. Es geht bei dieser Kohärenz um die Möglichkeit zur vollen Entfaltung der sinnlichen und geistigen Fähigkeiten, um letzten Endes ein schönes, d.h. bejahenswertes Leben zu realisieren, und ein schönes Selbst zu gestalten, barock in seiner Vielfältigkeit anstelle der Eindeutigkeit und Schmucklosigkeit einer Identität".

7. Zeit und Perspektive

Vor allem aber kann sich die Kohärenz des Selbst beträchtlich durch den Raum und durch die Zeit erstrecken. Sie ist vorstellbar als vierdimensionales Netz - nach Innen hin, weil das Subjekt selbst ein Universum ist, und nach Außen hin, weil es seinerseits vernetzt ist mit Anderen und mit der Welt". Kohärenz also als Konstruktion eines vierdimensionalen Gebildes in Raum und Zeit, dessen Raum sich aufspannt zwischen all den Orten, den reellen und den imaginären, zu denen das Selbst in Beziehung steht und zwischen denen es sich bewegt; und dessen zeitliche Dimension all die Zeiten und Zeitmomente umfaßt, die biographischen wie die historischen, die das Selbst durchläuft, die es sich in seiner Erinnerung angeeignet hat, und die künftig, individuell oder gesellschaftlich, das Selbst tangieren werden und seine eigene Existenz womöglich weit übersteigen und dennoch seinem Selbstverständnis noch immer zugehören.

So ist es ein geräumiges, ein weites Selbst", in dem vieles Platz hat und viele Ichs sich finden; ein Selbst, dessen Konturen sich bei weitem nicht auf die Umrisse seiner unmittelbaren Erscheinung reduzieren lassen, und das von seiner Grundverfassung her in der Lage ist, den konzentrischen Kreisen der Klugheit Rechnung zu tragen, von Grund auf ein soziales und ökologisches Selbst.

Es ist ein Selbst über sich hinaus", auf dem Weg hin zum Anderen, zur Welt", zum Möglichen und Künftigen; darum kümmert sich die Selbstsorge, die das Selbstverständnis eines Individuums immer wieder über seine Ränder hinaustreibt, und die dafür sorgt, daß der Blick von Au ßen auf das Selbst zum Bestandteil seiner eigenen Kohärenz wird und seine Selbstreflexion befördert. Denn zur Kohärenz gehört es, aus vielen Perspektiven blicken zu lernen: Den Perspektiven Anderer, um dem Umkehrgebot der Klugheit Genüge zu tun; den Perspektiven äußerer Verhältnisse, um wahrzunehmen, woher das kommt, was durch das Selbst hindurchgeht; den Perspektiven des Möglichen, um das Selbst unentwegt in einem Möglichkeitshorizont zu sehen; den Perspektiven des Künftigen, um das Selbst schließlich vom äußersten Rand seiner Existenz her zu sehen und zu beurteilen, und auch das noch mit einzubeziehen, was weit jenseits seiner selbst liegt.

Man kann einwenden, daß ein wirklicher" Blick von Außen gar nicht möglich sei, weil es eine völlige Loslösung des Selbst von sich nicht geben kann. Aber die verschiedenen imaginierten Perspektiven des Blicks von Außen kann das Selbst sehr wohl mit sich herumtragen, ohne den Anspruch zu erheben, eine absolute" Beobachterperspektive einzunehmen. Es sind die äußersten Eckpunkte seiner selbst, von denen her eine Selbstbetrachtung möglich ist und die doch zugleich der Kohärenz des Selbst zugehören.

8. Reflexion

Auf diese Weise ist die Kohärenz eine mit Hilfe von Reflexion und Selbstreflexion organisierte Gestalt. Kann man hierin die stoische Konzeption des festgefügten Selbst" wiederfinden? Tatsächlich geht es darum, dem Selbst eine gewisse Festigkeit und Stabilität zu verleihen, aber im Unterschied zum stoischen Konzept ist dieses Selbst immer wieder ein Balanceakt, schwankend und oszillierend, weniger rigide und weitaus poröser, nicht völlig durchrationalisiert, um die Sensibilität nicht zu verlieren; und auch nicht gänzlich den Gefühlen überantwortet, um die reflektierte Haltung zu ermöglichen.

Die Kohärenz dieser Ästhetik der Existenz ist eukosmisch, wohlgeordnet", offen zum Anderen hin und offen für Veränderung, mit einer Art von Ordnung, die vom Selbst nicht unbedingt offen gelegt wird und die auch nicht in jedem Fall offen zu Tage tritt. Diese variable Ordnung fügt es, daß die Kohärenz des Selbst die Grundlage für eine Ethik der individuellen, reflektierten Haltung sein kann, eine Ethik des Ethos. Denn für die Haltung selbst ist Beständigkeit und Kontinuität erforderlich, für die reflektierte Haltung aber auch Veränderbarkeit aufgrund besserer Einsicht. Die Haltung ermöglicht das Festhalten an einer einmal getroffenen Wahl, die nur dann ins Werk gesetzt werden kann, wenn sie nicht unentwegt wieder umgestoßen wird: Beharrlichkeit ist eine Leistung der Kohärenz. Die reflektierte Haltung aber erlaubt die Korrektur der Wahl, wenn es erforderlich erscheint.

Die strenge Subjektkonzeption der Identität zu lockern und das transzendentale durch ein transformatives Subjekt zu ersetzen: Das ist die Aufgabe, wenn es um die Arbeit an einem Kohärenzprinzip" geht, bei dem die Veränderung möglich ist und eine Vielheit sich entfalten kann, der Zusammenhang im Inneren und nach Außen hin aber noch hergestellt wird. Das Subjekt der Kohärenz begründet ein Selbst, das offen ist für Andere, die ihm begegnen, offen für neue Aspekte, die sich ergeben. So erhält das Selbst seine Gestalt, immer wieder eine andere, und bewahrt in seiner Kohärenz doch sich selbst".

Das ganz Andere" seiner selbst, der Wahnsinn, wäre dann zu verstehen als Inkohärenz des Selbst, bei der die Arbeit am Zusammenhang im Inneren und nach Außen hin ausgesetzt ist, vorübergehend oder aber auf Dauer. Da die Kohärenzbildung nie vollständig gelingt, ist der Wahnsinn jedoch nicht gänzlich abwesend im Selbst, und die klare Trennung zwischen dem normalen" und dem pathologischen" Selbst wird hinfällig; der Ausschluß des Wahnsinns aus der Gesellschaft läßt sich nicht mehr mit derselben Selbstverständlichkeit wie zu Zeiten der Herrschaft der reinen Vernunft" vollziehen; die Brücke der Ähnlichkeit wird nicht abgebrochen.

9. Gewissen

Auf der anderen Seite vermittelt die Kohärenz jene Selbstgewißheit", die es nur geben kann, wenn der eigene Zusammenhang und die Kontinuität nicht krampfhaft bewahrt werden müssen, sondern auch den diskontinuierlichen Elementen Raum gegeben werden kann. Ein Phänomen wie das Gewissen" ist vielleicht in säkularen Zusammenhängen nur auf der Grundlage dieser Selbstgewißheit verstehbar - und herstellbar, nämlich als Wissen von der Kohärenz des Selbst, wie weit sie reicht, was in sie einzubeziehen ist, wodurch sie in Frage gestellt wird, wie darauf zu antworten ist. Aus der grundlegenden Vernetzung mit Anderen ergibt sich zwanglos die moralische Dimension dieses Gewissens: Verpflichtung und Verantwortung sind der Kohärenz schon inhärent, weil sie sich auch zu Anderen hin erstreckt und sie in ihr Selbstverständnis mit einbezieht. Die starke Rolle der Beziehungen zu Anderen, die der Kohärenz zugehören, gewährleistet, daß diese Beziehungen nicht gleichgültig gehandhabt werden; der feste Kern der Kohärenz wiederum sorgt für die Beständigkeit des Selbst in der Zeit, seine Kontinuität, seinen Charakter", und ermöglicht es, verspre chen zu können. Die Kohärenz ist die Grundlage für den Menschen des Versprechens, von dem Nietzsche träumte: Jenem Menschen, der versprechen darf, weil er weiß, daß er sein Versprechen halten kann; Wissen, das aus der relativen Verläßlichkeit und Beständigkeit des Zusammenhangs resultiert, der die Kohärenz des Selbst bildet.

10. Schlußbetrachtung

Die konzentrischen Kreise der Klugheit aber führen das Selbst weit über sich selbst hinaus, sein Horizont erweitert sich über das Selbstverhältnis und das Verhältnis zum unmittelbar Anderen hinaus bis zu jener Gesamtheit von Anderen, die die Gesellschaft ist, und schließlich noch weiter bis zu jener Gesellschaft, die die entstehende Weltgesellschaft ist. In der kohärenten Konzeption des Selbst findet dieser weite Horizont Platz, und da das krampfhafte Festhalten an einer Identität für dieses Selbst kein Maßstab mehr ist, wird es fähig, den mit dieser neuen Perspektive einhergehenden Wandel in sich aufzunehmen und auch als Veränderung seiner selbst zu begreifen. Das ist eine Möglichkeit für den Umgang mit Wandel im Zeitalter der Globalisierung. Welche konkreten alltäglichen Formen dieser Umgang dann annehmen wird, ist damit noch nicht gesagt, und schon gar nicht, ob sie als beglückend erfahren werden.

Anmerkungen

1 Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 16 (Ak. 3, 110).

2 Montaigne, Les Essais (Ed. Pierre Villey, Paris 1988), II, l, p. 335; Auswahl im Dt. v. Herbert Lüthy, Zürich 1953, 324. Vgl. Wilhelm Schmid, Alle Widersprüche finden sich in mir", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 40,9 (1992).

3 Vgl. Norbert Meuter, Narrative Identität. Das Problem der personalen Identität im Anschluß an Ernst Tugendhat, Niklas Luhmann und Paul Ricoeur, Stuttgart 1995.

4 Ein Kohärenz-Konzept" ist in der Medizin-Forschung entwickelt worden, um die erstaunlichen Resistenz-Ressourcen" zu erklären, mit denen Individuen auch auf stärkste Irritationen reagieren können und ein Spannungsmanagement" betreiben: Sh. Aaron Antonovsky, Unravelling the Mystery of Health, San Francisco 1987. Ders., The Salutogenic Perspective: Toward a New View of Health and Illness, in: Advances 4,1 (1987). Umstandslos tritt der Begriff der Kohärenz in der Psychologie an die Stelle der malträtierten Identität": Heiko Ernst, Psychotrends. Das Ich im 21. Jahrhundert, München 1996. Kohärenz" jedoch auch schon in: Wilhelm Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, Frankfurt/M. 1991, 381 ff.