Baustein

"...es geschah am helllichten Tag!"

Die Deportation der badischen, pfälzer und saarländischen Juden in das Lager Gurs/Pyrenäen

 

Berichte von Überlebenden des Lagers Gurs

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Inhaltsverzeichnis


17. Oskar Althausen aus Mannheim
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"Es ging zunächst quasi noch ganz normal...

 - Der Abtransport aus Mannheim

Unsere Vorahnungen wurden bald bestätigt: Innerhalb einer Stunde  mußte man gepackt haben, nach dem Papier konnte man sogar 50 kg Gepäck mitnehmen, aber wer kann das schon schleppen? Des weiteren sollte man sich 100 Mark und Lebensmittelvorräte für drei Tage beschaffen. Aber das war  alles nicht so ganz einfach; denn man muß wissen, daß die Situation der Juden sich nach der 'Kristallnacht' sehr  sehr verschärft hatte, und nach dem Ausbruch des Krieges im August 1939wurde es noch schlimmer. Es gab ein  Ausgangsverbot abends ab 19 bzw. 20 Uhr; man durfte nur in bestimmten Geschäften und zu einer bestimmten  Zeit einkaufen. Auf der anderen Seite hatte sich - und das ist auch etwas, was man oft verkennt - hatte sich die  Zahl der Juden in Mannheim vermehrt; denn aus den umliegenden kleineren Ortschaften Südhessens oder aus der  Mannheimer Gegend und vor allen Dingen aus der Pfalz kamen die Juden nach Mannheim gezogen, weil sie in  denkleinen Orten nach den Ereignissen der sogenannten 'Kristallnacht' unmöglich leben konnten. Man gab ihnen  keine Lebensmittel, - also ich ki5nnte allein dazu vieles sagen, will aber mit meiner Schilderung der  Oktoberdeportation weiterkommen. 

Kurzum, am 22. Oktober 1940 wurden wir abgeholt, wurden an Sammelpunkte gebracht, meine Eltern,  mein damals schon bereits 80 Jahre alter Großvater, meine jüngste Schwester von damals zehn Jahren* und ich,  wir wurden in die C 6-Schule geführt, damals 'Kurfürsten Schule genannt, heute eine Berufs- bzw.  Gewerbeschule. Dort wurden wir in der Turnhalle gesammelt, nochmals Personalien aufgenommen n, die  Wohnungen waren durch Gestapo-Beamte versiegelt worden, dann ging es sehr rasch mit dem Autobus zum  Hauptbahnhof. Bevor wir einstiegen, legte man uns noch Vollmachten vor, womit wir das gesamte Vermögen,  also alles, was wir hatten, der sogenannten 'Reichsvereinigung der Juden in Deutschland' überschreiben sollten,  die aber nichts anderes war als eine Tarnorganisation der Nazis selbst. ein Vater hat nicht unterschrieben und  ich auch nicht. 

Alles in allem ist noch zu sagen: So traurig es war, man benahm sich noch einigermaßen korrekt in der  Art der Behandlung, die man uns entgegenbrachte. Es ging zunächst quasi noch ganznormal, was ich betonen  möchte, weil es oft falsch dargestellt wird, denn man muß bei der Wahrheit bleiben. s war damals auch kein  Transport in Viehwaggons, sondern es waren richtige Personenwagen, und zwar waren es bei uns sogar  franze5sische Wagen gewesen, die man für die Zusammenstellung des Zuges benutzt hatte. Unsere Bewachung  war SS und Polizei, also soweit ich mich erinnern kann, waren es vorwiegend Leute der Waffen-SS gewesen, die  uns begleitet haben.

"...es geschah am hellichten Tag!"  

Die Reaktion der Bevölkerung 

Wie reagierte die Bevölkerung? - Es geschah ja nicht in der Nacht, es war keine 'Nacht- und  Nebelaktion', es gab auch keinen Fliegeralarm, wie mancher glaubt, sich erinnern zu können, sondern es geschah  am hellichten Tag! Wir wurden durch die Straßen geführt! Ich werde nie vergessen, wie zwei Frauen, die am  Straßenrand standen, etwa auf der Höhe des Quadrates C 3/C 4, die Taschentücher an den Mund preßten und im  Vorbeigehen uns zuflüsterten: "Für das werden wir noch einmal büßen" - Also ich muß sagen, das sind Dinge, die  ich nie vergessen habe. - Und irgendwie aufgepeitscht wurde die Bevölkerung dadurch, daß sowohl in  Ludwigshafen als auch in Mannheim schon zwei Wochen zuvor der Veit Harlan-Film 'Jud Süß' gezeigt wurde.  Also der diente dazu, die Bevölkerung in eine antijüdische Haltung einzustimmen. - Das sind übrigens Dinge, die  mir oft erst im Laufe solcher Berichte in den Sinn kommen. 

"So sind wir dann abgefahren.." 

- Der Transport nach Frankreich 

So sind wir dann abgefahren, und unterwegs stellte sich natürlich eine gewisse Erleichterung ein; denn  ich hatte nicht vermutet, daß wir nach Frankreich kommen sollten. Meine Meinung war, wir kommen nach dem  Osten, weil ich - wie gesagt - wußte und durch eine holländische Zeitung erfahren hatte, daß man im Februar  1940 bereits eine erste Deportation von Stettin schon gemacht hatte, nämlich nach Lublin, und daß dort das  Gepäck nie ankam, der Gepäckwagen verschwunden war. - Also ich war im ersten Transport drin: Gut,  Drohungen gab es bei uns schon: "Wertgegenstände, Schmuck usw. sind abzuliefern! Wer mehr als 100 Mark  hat, wird erschossen! - Aber sie haben nicht kontrolliert. Das Geld wurde in Mühlhausen eingetauscht; da kam  einer von der Waffen-SS auf mich zu, - der allerdings, möchte ich sagen, noch verhältnismäßig humane  Züge hatte -, und sagte: "Bitte nehmen Sie das Geld raus, ich muß eine Liste machen, - wieviel besitzt, in  Mühlhausen wird man schon sagen, wann und wo das Geld getauscht wird."

In Mühlhausen wurde das Geld eingewechselt, und für die 100 Mark bekamen wir damals 2.000  Francs; denn die Nazis hatten den Franzosen diesen 7wangskurs von 1 Mark zu 20 Francs aufgezwungen. Das  war noch so, daß damals viele Deutsche, die in der Wehrmacht dienten, quasi 'Gott in Frankreich' antrafen oder  gar kaufen konnten. Die Deportierten der letzten Transporte bekamen übrigens zum Teil nicht mehr 2.000 Francs  für ihre 100 Mark. Daß wir unterwegs öfters eingeschüchtert wurden: Wer noch Geld habe usw.?! Wehe, es  werde etwas gefunden! Wir würden noch einmal kontrolliert! 

"Wir kommen aus Mannheim!" 

- Die Konfusion auf französischer Seite 

Die nächste Station, die der Zug dann erreichte, war der berühmte Weinort Macon in Burgund. Also  wir kamen rein und sahen, daß da Franzi5sinnen in Rote-Kreuz-Tracht herumliefen, und eine von ihnen fragte,  wo wir herkommen. - "Wir kommen aus Mannheim- - Das war für sie vollkommen schleierhaft! Sie hatten so  ähnliche Transporte schon zuvor gesehen, aber das waren francophile Elsässer und Lothringer, die man  abgeschoben hatte, was an sich nicht selten war. Aber daß nun Leute direkt aus dem Reich kamen?! Und noch  dazu als sie dann hörten, daß wir Juden waren, - es gab Leute bei uns, die sich ganz gut auf  Französisch verständigen konnten -, also das war ganz unverständlich für sie. - Gut, wir bekamen unseren Teller  Suppe von ihnen, aber wir merkten schon, daß man auf der französischen Seite total konfus geworden war. 

"Junge, das ist ja genau wie in Buchenwald!" 

- Die Ankunft im Lager Gurs 

Zunächst waren die Familien noch zusammen. Aber sobald es dann ins Lager reinging, das sehr dürftig  beleuchtet war, hieß es Gleich: „Absteigen! - Nur die Männer zunächst!“ Die Frauen fuhren weiter. – Also wir  stiegen ab, und mein Vater, der bei dem Pogrom der 'Kristallnacht' am 10. November 1938 nach Buchenwald  gekommen war, der ist sofort erschrocken und sagte: "Junge, das ist ja genau wie in Buchenwald!* - Was war's?  – Schlamm! - Also wir standen da richtig im Schlamm! Wege, die kaum begehbar waren! Wir wurden dann  von französischen Wachen reingeführt in dunkle Baracken, auf deren Boden gar nichts war, also kein Strohsack,  nichts. Zunächst überließ man uns da vollkommen unserem Schicksal, und es dauerte einige Zeit, bis wir dann  endlich mal in Berührung kamen mit unserer sogenannten französischen Bewachung, die damals der 'Garde.  Mobiles', also einer Militäreinheit angehörte. - Wir waren nun also in Gurs, und so begann eine echte Tragödie. 

Es waren ja seinerzeit 1.972 Menschen aus Mannheim deportiert worden, darunter der Kinderarzt Dr.  Eugen Neter als letzter Vorsteher der damaligen jüdischen Gemeinde Mannheim. Für alle kam nun die erste  Nacht im Lager Gurs. Ich befand mich in einer Baracke im Ilot E, also Block E. Wir standen herum, ein Teil hat  sich auf den nackten Fußboden gesetzt. Einige haben angefangen, an die Tür zu klopfen, auch mein Großvater  sagte, er müsse mal raus, um seine Notdurft zu verrichten. Gut, dann ging plötzlich mal die Tür auf, man  hat einige Leute rausgelassen. Dann kam ein flieißend deutsch-sprechender Elsässer, ein Unterleutnant: Er war  total überrascht, und hat menschliches Mitgefühl gezeigt: "Was?! - Mannheimer?!“ 

Der gute Mann kam dann am nächsten Tag wieder und hat zu uns Jüngeren gesagt: "Also hört zu, Ihr  müßt da ein bissel was tun heute, denn es kommen noch mehr Transporte, es sind noch mehr unterwegs!“ – So  haben wir dann mitbekommen, dai3 da noch mehr Menschen kommen der Pfalz und von Baden, Südbaden,  Karlsruhe, Freiburg. Also der wußte schon Bescheid, hat schon ein bissel rumjongliert mit Städtenamen. Wenn die mit den  Camions ankommen, von den Lastwagen abgeladen werden, sollten wir sie abzählen und reinbringen. Nach  Möglichkeit sollten bis zu 50 Menschen in einer Baracke untergebracht werden. - So haben wir dann viel  mitbekommen: Da waren die Gailinger dabei, und es waren Karlsruher und Pforzheimer dabei, die zu uns  kamen, wodurch wir in diesem badischen Club dann zu einer Minorität wurden. Die Pfälzer waren nebenan, und  zwar unter Dr. Neter, der später Block ältester dieses angrenzenden Blocks geworden ist; die meisten Mannheimer  waren schräg gegenüber von uns in Block D untergebracht. 

Was wir dort zunächst erlebt haben, das war also am nächsten Tag die Ankunft weiterer Transporte aus  Baden und der Pfalz. Eine Möglichkeit, mit seinen Angehörigen, d.h. mit den Frauen und Kindern  zusammenzukommen, die gab es nicht, für die nächste Zeit zumindest nicht. Das Gepäck, die Koffer, die hatten  wir auch nicht bei uns, sondern die wurden irgendwo deponiert, standen tagelang im Regen, und bis wir  drankamen, da war vieles schon vollkommen durchnäßt oder unbrauchbar geworden. Also es hat sich da  Schlimmes abgespielt, denn manche fanden ihre Koffer überhaupt nicht mehr. 

"In den Baracken war es immer finster" 

- Beschreibung des Lagers 

Das Lager Gurs selbst bestand aus 13 Ilots bzw. Blocks mit je 25 Baracken; eine Baracke war 25 m  lang und 8 bis 10 m breit; in diesen Baracken wurden je 40 bis 50 Menschen untergebracht. - In den  Baracken war es immer finster. Es gab keine Scheiben, es gab nur Luken, und um diese Luken gab es immer  Streitereien: Aufmachen! – Zumachen! Dem einen zog's, denn es war ja Winterzeit geworden, war  oft regnerisch. - Also kurzum, es lag nicht nur rein menschlich, rein psychologisch gesehen, etwas  Bedrückendes über Gurs, es lag auch allgemein an der ganzen Atmosphäre. - Nun muß man aber  bedenken, daß die Vorgehensweise zu Beginn der Deportation sehr unterschiedlich gewesen ist, und  bald erfahren haben, war es in Südbaden schlimmer als bei viel schlimmer auch als hier. Deshalb  haben beispielsweise die Gailinger zum Teil im Lager aufgeatmet. Die waren ja dermaßen verschüchtert in  all den kleinen Orten, in denen sie lebten, wo sie sich nicht auf die Straße wagten. Für diese Menschen  war es eine Art Erleichterung, jetzt konnten sie mal wieder Karten spielen. 

Wie konnte man nun wieder mit seinen Angehi5rigen in Verbindung kommen? Jedes Ilot, jeder Block  war durch Stacheldraht abgeschlossen, und der am Eingang stehende Posten ließ nur gegen Ausweis hinaus.  Für die Insassen eines Ilots standen ungefähr 15 bis 25 solche Ausweise zur Verfügung. Jetzt muß man sich  vorstellen: Pro Ilot 25 Baracken, belegt mit 40 bis 50 Leuten und insgesamt nur 15 bis 25 solche Ausweise.  Diese wenigen Ausweise verteilten sich also auf viele hunderte von Menschen! Man kann sich ausrechnen,  wie selten die Gelegenheit war, das Ilot zu verlassen, um zum Beispiel Angehörige zu treffen. 

- So waren über zwei Wochen vergangen, bis es mir möglich war, einen Ausweis zu erhalten, um  meine Mutter und meine Schwestern zu besuchen. - Diese weitgehende Einschränkung des Verkehrs innerhalb  des Lagers wurde als sehr drückend empfunden und hat zu einer Reihe von harten Zwischenfällen geführt. Man  nutzte jede Möglichkeit aus, sich außer der Reihe zu treffen, wozu Gottesdienste und Beerdigungen  Gelegenheiten boten. Was nun oft sehr tragisch war: Frauen kamen aufgrund eines solchen  Genehmigungsausweises in den Block, in dem sie ihren Mann vermuteten und erfuhren dann, daß der schon seit  Tagen unter der Erde lag. Das ist nicht einmal passiert, das ist öfter passiert. 

Als wir ankamen, war es die 'Garde Mobile', also Armee, die uns da bewachte. Nachher wurden die  abgeö5st von Gendarmerie; auf die Gendarmerie folgten dann die von der Vichy-Regierung angeheuerten  Bewacher, die dunkelblau gefärbte Militäruniformen trugen. Es wurde immerschlechter. Also bei der 'Garde  mobile' war es noch verhältnismäßig ganz gut, gerade wir in Block konnten Kontakt mit den Spaniern  bekommen, die in einem gegenüberliegenden Block untergebracht waren, und die uns in der ersten Zeit aus ihrer  Kantine ein bißchen versorgt haben, die uns auch manchmal abends schnell rüberspringen ließen, damit wir bei  ihnen etwas kaufen konnten. Bei den Gendarmen war es schon schwieriger, und bei deren Nachfolgern noch  schlechter. 

"...später sind die Portionen noch kleiner geworden..." 

- Die Ernährungslage 

Was nun die Ernährung anbelangt, so war sie in der Tat das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.  Bis das alles überhaupt einmal organisiert war! Denn die Franzosen standen da vollkommen kopflos der Sache  gegenüber. - Morgens gab es nur etwas Kaffeeersatz, mittags einen halben Liter dünne Suppe mit Gemüse,  weißen Bohnen, harten Erbsen, Kraut, einem kleinen Stückchen Fleisch, meistens ohne jeglichen Nährwert; am  Abend die gleiche Suppe wie mittags. Die regelmäßige Brotration war 250 bis 300 Gram! Man hat ein Brot  aufgeteilt in acht Portionen, später sind die Portionen noch kleiner geworden, also maximal ca. 250 Gram: "Die  Internierten erhielten also Nahrung mit einem Nährwert, der bei 800 bis 1.300 Kalorien lag", wurde später  festgestellt,"während man im normalen Leben 2.000 bis 2.500 Kalorien braucht." 

"Er ist auch freigesprochen worden." 

- Exkurs zur Lagerleitung 

Das Internierungslager Gurs wurde übrigens von den Franzosen finanziert, die Lagerverwaltung hatte  damals für jeden Internierten eine gewisse Summe zur Verfügung, und zwar 12 Francs pro Person. Wenn man dies  umrechnen wollte bei dem damaligen Kurs von 1 Mark zu 20 Francs, was nicht ganz realistisch wäre, käme auf  jeden Fall nicht viel dabei heraus. Nun hatte der zuständige Lagerverwalter namens Gruel es fertiggebracht, von  diesen 12 Francs noch etwas einzusparen, d.h. er hatte innerhalb einer ganz kurzen Zeit beträchtliche Ersparnisse  von mehreren Millionen Francs erzielt: "Ich habe dem Fiskus eine beträchtliche Summe übergeben", so  eine persönliche Äußerung von ihm. Dank dieser Verdienste wurde der bescheidene Verwalter Gruel eines Tages  dann auch Lagerkommandant, und die Leidtragenden waren wir. - Später hat man versucht, ihm den Prozeß zu  machen: Mein Bruder und ich waren damals in Palästina, und wir hatten gehört, daß man Zeugen sucht; wir  haben geschrieben, aber nie eine Antwort bekommen. Er ist auch freigesprochen worden. Aber man sollte  wenigstens daran erinnern, was ich 1990 gerne tun möchte, wenn wir in Gurs sind. Also ohne die Mithilfe der  Franzosen hätten die Deutschen nie so viele Leute deportieren können. 

"Sterben zu nennen, was sich da abgespielt hat?" 

- Leben und Sterben im Lager 

Nun war es kein Wunder, daß diese Unterernährung bald zu einer Seuche führen mußte, es war eine Art  Dysentrie, eine Art Ruhrepidemie, die da ausbrach und innerhalb weniger Wochen Hunderte dahinraffte. Es gab  ja auch kaum Medikamente im Lager, d.h. nur, was die Leutemitgebracht hatten. Der Arzt Dr. Neter kam einmal  zu uns herüber, was er als Blockältester durfte, und riet uns: "Wenn's geht, rührt das Lageressen nicht an, auch  wenn es gekocht ist! Versucht euch Zwiebeln und Knoblauch zu verschaffen und nur das Brot zu essen - Sie  können sich vorstellen, daß die sanitären Verhältnisse haarsträubend waren, es gab solche Hochsitze, und in  dem Schlammhaben viele oft den Weg schon nicht mehr zu diesen Latrinen gefunden, als die Seuche  losbrach. Wasser gab es auch nicht zu jeder Zeit, es war alles sehr eingeschränkt, sehr begrenzt. - Dann litten wir  sehr unter einer furchtbaren Rattenplage, später kam eine Art Läuseplage hinzu, schlimm, schlimm. 

Dabei bedenken, daß diese Deportierten und Internierten doch stark überaltert waren, ein  großer Teil war schon über 60 Jahre, diese Leute waren halt nicht mehr so widerstandsfähig gegen diese  ganzen furchtbaren Verhältnisse und wurden dahingerafft. Sterben zu nennen, was sich da abgespielt hat?  Also ich will lieber nicht den deutschen Ausdruck verwenden, was das für ein Sterben war! Die  Sterbenden und Toten lagen auf Decken, und wir mußten sie damit aus der Baracke rausschaffen. Und ich muß sagen, ich kam als junger Mensch damals - 21 Jahre alt - zum ersten Mal überhaupt mit Toten in  Berührung. Wir mußten also diese Toten, die da in ihren Exkrementen lagen, - ich brauche das nicht weiter  in Einzelheiten zu schildern, man kann es sich vielleicht vorstellen - die mußten wir raustragen aus den  Baracken, sie wurden dann auf dem Friedhof beigesetzt. 

Diese Beerdigungen hat man, wie schon erwähnt, oft dazu benutzt, um ein bißchen in Kontakt zu  kommen mit seinen Angehörigen; denn leider war die Möglichkeit des Besuchs sehr reglementiert. Also  Männer konnten nicht einfach raus, wie sie wollten, um ihre Frauen zu besuchen, so wie es auch Dr. Eugen Neter  in seinen Erinnerungen sehr klar und deutlich beschrieben hat. Die Frauen waren ja in anderen Blocks gewesen  als die Männer, und so war es dann nicht selten, daß eine Frau ihren Mann suchte, um dann zu erfahren, daß der  schon vor zwei Tagen begraben wurde. 

Wie konnte man bei dieser geringen und schlechten Ernährung überhaupt überleben? Es gab zum  Glück einen sogenannten 'Schwarzen Markt'. Dieser 'Schwarze Markt' wurde hauptsächlich durch Spanier  ermöglicht; denn es waren noch Spanier da, die einer Arbeitskompanie angehörten.

Also kurzum, aufgrund der 2.000 franziösischen Francs konnten wir uns da doch  immer Zusatzlebensmittel beschaffen, wenigstens zum Teil. Im Lager Gurs sind aber auch manche  Pakete angekommen, die aus der Schweiz stammten, zum Beispiel in der Baracke meiner Mutter, deren nächste  Nachbarin eine Frau aus Konstanz war. 

"Steine sammeln und irgendwo hinbringen." 

- Zwangsarbeiter im "Familienlager" Rivesaltes 

Wie anfangs erwähnt, fand im März 1941 eine Verlagerung vieler Menschen von Gurs in andere Lager statt: Betagte Menschen kamen nach Noé, Schwerbehinderte nach Récébédou, Familien in das sogenannte  'Familienlager' Rivesaltes. - In Noé und Récébédou waren zwar Baracken und Unterkunft weit besser, aber die  alten und kranken Leute fühlten sich zu sehr reglementiert. Sie durften ihre Mahlzeiten nur in einer bestimmten  Eßbaracke einnehmen, und wenn sie mal Pakete bekamen, dann bestand nicht wie in Gurs die Möglichkeit,  anhand von Öfchen, die aus Konservenbüchsen gefertigt waren, etwas zu wärmen oder zu kochen. 

Im Lager Gurs sind wir ohne Beschäftigung gewesen, und nur diejenigen, die beispielsweise Küchendienst oder  andere Pflichten hatten, die konnten etwas tun, während alle anderen zum Nichtstun verdammt waren, wenigstens  in der Zeit bis März 1941, nachher hat es sich geändert. - In Rivesaltes wurde man echt zur Arbeit ein  gezogen, allerdings zu Arbeiten, die vZ51lig unnütz waren: Steine sammeln und irgendwohin bringen, Steine  klopfen, Wellblech zusammentragen usw. - Was uns nun aber am meisten zusetzte, noch schlimmer als der  Hunger, das war eine furchtbare Flohplage. Also was es da an Flöhen gab, ist unvorstellbar. Myriaden von  Flöhen! Wir mußten bei den Arbeiten manchmal in verlassene Baracken rein, - wir kamen raus und waren  braun von Flöhen, also Myriaden von Flöhen ! Und natürlich, daß die Stiche uns alles andere als gut getan  haben, versteht sich von selbst. 

Am 17. Juli 1941 geschah in Rivesaltes nun folgendes.- Plötzlich wurde eine Art Razzia veranstaltet auf  alle Männer, die sich im Lager bewegten, ganz gleich in welchem Block; es waren ja, wie gesagt, nicht nur Juden  hier, sondern vor allen Dingen auch Spanier. – Auch mein Vater und ich wurden verhaftet. Wie sich nachher herausstellen sollte, wurden wir echt wie Sklaven an die 'Organisation  Todt' verkauft! Im Eiltempo und diesmal in Viehwaggons wurden wir von Rivesaltes, das fast schon  am Mittelmeer liegt, nach Brest verfrachtet, in den äußersten westlichen Zipfel von Frankreich. Während eines  Zwischenaufenthaltes an der Demarkationslinie zwischen dem Vichy- und dem deutsch-besetzten Frankreich  wurden wir gefilzt und wegen eines 10-Franc-Scheins, der bei einem von uns gefunden wurde, gab es einen  Riesenklamauk! Wir landeten dann in Brest, wurden dort zur Arbeit eingesetzt, und das war das Furchtbarste,  was uns passieren konnte; denn wir waren alle schon ziemlich entkräftet und unterernährt: Zementsäcke  schleppen, aber nicht einfach auf ebenen Wegen, sondern wir wurden da speziellen Blocks zugeteilt, wo wir  manchmal 60 bis 80 m auf sehrholprigem Gelände diese Zementsäcke schleppen mußten, und zwar in zwei  Schichten, entweder von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends oder umgekehrt. 

"Also wir wußten, was draußen vorging..."

 - Wieder zurück in Gurs 

Wir waren an sich schon Kandidaten für den nächsten Transport, um über Drancy nach Auschwitz oder  sonst wohin zu kommen, also in ein Vernichtungslager. - Aber es ist ein Wundergeschehen in Form der Landung  der Alliierten in Nordafrika im Oktober 1942. Nun wurde ganz Frankreich besetzt und die  Waffenstillstandsarmee von 100.000 Mann aufgelöst. Und so kam ich dann im Oktober 1942 wieder nach Gurs  und habe das Glück gehabt, daß mein Bruder und ich nun in die Arbeitskompanie des Lagers selbst eingegliedert  wurden, also zur Instandhaltung des Lagers und für alle möglichen Dienstleistungen eingesetzt wurden. Das  Schlimme an dieser ganzen Tragödie war übrigens, daß wir wußten, was draußen vor sich ging: Sowohl in Gurs  als auch in Rivesaltes kamen Zeitungen rein, es kam jeden Tag ein Zeitungsverkäufer, nur wenn eine  bestimmte Aktion im Gange war, ließ sich der Zeitungsverkäufer nicht sehen. Also wir wußten, was  draußen vorging, auch wenn wir gleichgeschaltete Zeitungen zu lesen bekamen, die nun gewiß keine Berichte  brachten von den Erfolgen der Alliierten, sondern immer nur die deutschen Siege; jedenfalls waren wir also nicht  von jeder Information abgeschnitten. 

"So war das mit meiner Schwester..." 

- Rettungsversuche und Vernichtung 

Die Transporte von Gurs nach dem Osten wurden von den Franzosen zusammengestellt, und dieser  Gruel, den ich schon vorher erwähnte, der hat einmal mehr Leute geliefert, als er hätte liefern müssen! Es gibt  Berichte darüber, daß die Deutschen überrascht waren, mit welcher Energie, mit welchem Eifer sich die  Franzosen beteiligten. Eine Frau Samuel hat sich im Auftrag eines einschlägigen jüdischen Komitees, das sich  0.S.E. nannte, um Kinder gekümmert. Man hat sich wirklich in einer prophetischen Vorausahnung bemüht,  möglichst viele Kinder aus den Lagern herauszuholen. Meine jüngste Schwester kam auch so aus dem Lager raus  und in ein Kinderheim. Die haben 1942 schon geahnt: jetzt wird es noch schlimmer und haben dann versucht,  Kinder mit falschen Papieren zu versehen und in ganz andere Regionen zu bringen. So war das mit  meiner Schwester damals auch: Erst war sie in einem normalen Kinderheim in Mittelfrankreich und kam  dann nach Grenoble, angeblich als katholisch-elsässisches Flüchtlingskind. Sie hat trotzdem viel mitmachen  müssen, aber sie hat sich gerettet.* 

"Gab es Widerstand?" 

- Die Flucht nach Spanien 

Gurs hatte sich inzwischen verändert, es war keine Schlammhölle mehr, aber in bezug auf Ernährung war  es nicht viel besser geworden. - In Frankreich wurden viele Razzien durchgeführt, man brachte immer wieder neue  Menschen nach Gurs, und von da aus rollten dann auch noch im Januar und Februar 1943 zwei große Transporte  Richtung Osten. - Ich hatte also das Glück gehabt, in der Arbeitskompanie inkorporiert zu werden, die für die  Instandhaltung des Lagers zuständig war, und das hat mir sozusagen das Leben gerettet, und zwar dadurch, daß  wir Bekanntschaft machten mit dem sogenannten 'Politischen Lager Gurs'. - Oft wird ja die Frage gestellt: Gab es  Widerstand? - In Gurs selbst, im Lager nicht, aber es gab genügend Leute in sozialistischen und  kommunistischen Zellen, die sehr sehr geheimnisvoll operierten, damit sie ja nicht aufflogen. Sie sorgten  aber dafür, daß Menschen aus dem Lager rauskamen und der Widerstandsbewegung angegliedert wurden. 

Um es zunächst kurz vorwegzunehmen: wir hatten etwas Pech gehabt, denn wir sollten  auch dazukommen; aber dann wollte an uns im kleiner gewordenen Lager verlegen, so daß wir den bei  uns versteckten Verbindungsmann nicht mehr hätten halten können. Kurzum, es stellte sich die Alternative:  Flucht nach Spanien! Und die ist uns nach einem ersten, selbst arrangierten und ergebnislosen Versuch dann mit  Hilfe von Leuten der französischen Widerstandsbewegung im Lager, die bei der Lagerverwaltung tätig waren, am  28. November 1943 geglückt, d.h. mit einem Mann namens Farkas, der vorher gegen Franco kämpfte.

 

18. Hugo Schriesheimer aus Konstanz

"Sofort nach Hause kommen!" 

Der Abtransport von Konstanz 

Am Vormittag des 22. Oktober 1940 schreckte uns ein Telefonanruf auf: 'Sofort nach Hause kommen!" -  Nichts Gutes ahnend fuhren wir auf unseren Fahrrädern nach Hause und fanden dort alles in Aufruhr. Die  Gestapo war da gewesen und hatte angeordnet, daß wir uns innerhalb einer Stunde zur Abreise fertig machen:  "Jede Person darf einen Koffer mit 50 kg mitnehmen, vollständige Bekleidung, eine Wolldecke, Verpflegung für  mehrere Tage, Eß- und Trinkgeschirr, 100 Mark Bargeld; Reisepässe, Kennkarten oder sonstige Ausweise sind  mitzuführen. Alles andere muß zurückgelassen werde!“ - Als wir die Wohnung verließen, wurde sie von SS- Leuten abgeschlossen und versiegelt. Sie nahmen den Schlüssel mit. Ich habe nie mehr etwas von der  Wohnungseinrichtung, von Wertsachen, Schmuck, Photoapparaten, Briefmarkensammlung usw. gesehen. 

Als wir auf die Straße kamen, standen schon die Autos für den Transport zum Bahnhof bereit. Ein Teil  der Nachbarschaft hat auf der Straße gestanden und stillschweigend zugeschaut. Dann wurden wir zum Bahnhof  gebracht und in einen schon vorbereiteten Personenzug mit uralten Waggons eingeladen, alles unter Bewachung  von SS-Leuten. - Als ich ein paar Tage vorher zufälligerweise von der Marktstätte über die Bahngeleise zum Hafen  ging, sah ich einen langen Eisenbahnzug auf dem Abstellgleis stehen: Es waren diese alten Wagen, wo man in  jedes Couptée von außen einstieg, mit einem langen Trittbrett den ganzen Wagen entlang; sie waren schon  damals kaum mehr in Gebrauch. Ich zerbrach mir den Kopf, was dieser Zug da sollte. - Ein paar Tage später  wußte ich Bescheid. Es war der Deportationszug für die Juden, in dem ich dann selbst saß, zusammen mit  den letzten 120 in Konstanz wohnenden Juden. Die älteste Konstanzerin in unserem Deportationszug war 90 Jahre  alt, das jüngste Kind war gerade 3 Jahre alt geworden. 

In sieben Zügen wurden 6.504 Juden aus Baden und der Pfalz deportiert, davon 5.617 aus Baden. 

Die Reichsbahn wurde von der Nazi-Regierung für die Massendeportationen voll eingesetzt. Es gab  sogar ein 'Kursbuch für die Gefangenenwagen, gültig vom 6. Oktober 19401 an. Darin waren genaue Fahrpläne  für 64 Gefangenenwagen mit den Namen der damals existierenden KZ-Lager als Endstation aufgeführt, die  minutiös geplant und organisiert waren. Bald reichten jedoch diese 64 Wagen nicht mehr aus, um die Opfer ihren  'Endbahnhöfen' zuzuführen, so daß man auf Güterzüge und Viehwaggons zurückgriff. 

"Wer es nicht tut, wird erschossen!" 

- Der weitere Transport nach Frankreich 

Gegen Abend fuhr der Zug (in Konstanz, Anm. d. Hgs.) ab, zuerst nach Singen, wo die Juden aus Gailingen und Randegg dazukamen, in einem genauso deprimierten Zustand wie wir. Die in Donaueschingen  zusteigenden Juden weinten, da man sie auf dem Weg zum Bahnhof geschlagen und mißhandelt hatte. Weitere  Juden kamen in Villingen hinzu, noch mehr in Offenburg aus dem Bezirk Nordbaden. - Als der Zug noch in  Offenburg stand, gingen zwei SS-Leute durch den Zug und befahlen, daß alle Wertgegenstände und alles Geld  über 100 Mark abzuliefern seien: "Wer es nicht tut, wird erschossen!“ Einige bekamen Angst, zerissen die  Geldscheine und warfen sie mit Schmuckstücken ins Kloset oder zum Fenster hinaus. 

Als der Zug dann von Offenburg westlich in Richtung Kehl-Straßburg fuhr, wußten wir, daß es nicht  nach Osten in die Vernichtungslager ging. Wir waren alle etwas erleichtert, und die Stimmung unter uns besserte  sich , ja, es entwickelte sich eine Art Galgenhumor. Wir fuhren ungefähr drei Tage, bis wir in Oloron ankamen,  der Bahnstation von Gurs. 

Als wir in Gurs ankamen, wurden wir von der französischen Polizei auf Lastwagen ins Lagergebracht.  Die Männer kamen in die erste Hälfte, die Frauen in die zweite. Berthold Wieler, der Vorsteher der ehemaligen  Jüdischen Gemeinde, suchte alle Konstanzer zusammen, damit wir in eine Baracke kamen, was sich als sehr gut  erwies. Man kannte sich, während in vielen anderen Baracken alle fremd waren, was sich allerdings bald änderte. 

"Da standen wir nun in der leeren Baracke." 

- Die Zustände im Lager 

Da standen wir nun in der leeren Baracke. Es war nichts da außer dem Boden, schrägen Wänden, dem  Dach, einem kleinen Ofen ohne Brennmaterial, zwei schwachen Glühbirnen. Keinerlei Möbel, keine Betten,  keine Toiletten und kein Essen. - Bald brach die Nacht herein, wir legten uns in den Kleidern auf den Boden, den  Koffer oder ein Bündel als Kopfstütze versuchten wir zuschlafen. Wir waren viel zu müde, um darüber  nachzudenken, daß diese jämmerliche Baracke nun für lange Zeit unser Zuhause sein würde. - Am nächsten Tag  bekamen wir dann Strohsäcke zum Schlafen und sonst nichts. Innerhalb des Lagers, von französischen  Wachtposten bewacht, waren wir auf uns selbst angewiesen. Wir mußten uns selbst organisieren, allerdings nach  Anweisung derfranzi5sischen Lagerkommandantur. 

Ich möchte hier einfügen: Wir waren im u n b e s e t z t e n Gebiet Frankreichs! Als die Deutschen in  Frankreich einmarschierten, besetzten sie nur den Norden von Frankreich, Paris usw. In Gurs gab es also keine  Deutschen, weder Militär noch SS noch sonstige Behörden. So wurden wir persönlich nicht belästigt, es gab  keine Gewaltakte. Alles war unter französischer Verwaltung, die kein Interesse hatte, uns Juden schlecht zu  behandeln. Die Franzosen wollten uns gar nicht, wir wurden einfach abgeschoben; aber nachdem sie den  Krieg verloren hatten, mußten sie eben tun, was die Deutschen befahlen. 

"Der Hunger machte manche Menschen bösartig." 

- Die Ernährungslage 

Wir bekamen also Anweisungen, wie wir uns zu organisieren hätten. Zuerst wurden der Barackenchef  und der zweite Chef bestimmt. Ich war der zweite Barackenchef. Dann mußte für das Essen gesorgt  werden. Jedes Ilot hatte eine Feldküche, in der das Essen in großen Kesseln gekocht wurde. - Die  Lebensmittelversorgung war jedoch ganz ungenügend: Am Morgen gab es Kaffee-Ersatz und Brot; mittags einen  halben Liter dünne Suppe mit etwas Gemüse, wenig Fleisch, Reis, ohne Fett gekocht und abends fast dasselbe.  Dazu gab es hin und wieder Topinambur, eine kartoffelähnliche Knolle, aber nicht so gut und kaum nahrhaft, in  normalen Zeiten wurde dieses Gewächs als Viehfutter verwendet. Die Verpflegung war nicht zum Leben und nicht  zum Sterben. 

Als zweitem Barackenchef oblag mir die Verteilung des Essens. Das war keine angenehme Arbeit. Die  Leute mußten in einer Reihe anstehen, ich schöpfte das Essen in ihre Eßgeschirre, und jeder paßte auf, daß der  andere nicht mehr bekam als er, sonst gab es gleich Streit. Der Hunger machte manche Menschen bösartig.  Leute, die zu Hause sich auf der Straße ehrerbietig grüßten, wurden im Lager böse aufeinander, beschimpften  sich wegen der geringsten Kleinigkeit und wurden mitunter auch tätlich. 

"Regen in Gurs!" 

- Der Alltag im Lager 

Bald nach unserer Ankunft Ende Oktober wurde das Wetter noch einmal schön, die Nächteaber waren  bereits kalt. Durch die Baracken blies der Wind. Wir hatten nur wenige Baumwolldecken und froren nachts  erbärmlich. Einige rissen Lattenstücke aus der Wand und heizten damit den Ofen, was aber nicht ausreichte, um  die ganze Baracke zu erwärmen. Erst nach einer Woche bekamen wir genügend Holz. Die Leute drängten sich  um den Ofen, um sich aufzuwärmen oder etwas zu kochen. Ich schlief nahe beim Ofen, da ich die Aufgabe hatte,  den Ofen auch nachts zu unterhalten. Aber diese Annehmlichkeit war auch nicht ideal, da ich jede Stunde  aufstehen mußte, um den Ofen nachzufüllen. Wenn es dann gegen Mitternacht ganz ruhig wurde und alle  schliefen, kamen die Ratten. Sie strichen um den Ofen, suchten nach Futter; da sie aber nichts  fanden, verschwanden sie wieder. 

In der zweiten Hälfte des November fing der Winter ernstlich an. Die Nächte waren feucht und kalt. Und dann  begann es zu regnen. Regen in Gurs! Der trommelte auf das Dach und klatschte gegen die dünnen Bretterwände.  Wasser gurgelte in den Gräben, der Geruch des mit Urin vermischten Lehms - der typische Geruch von Gurs  wurde stärker. Bald tropfte der Regen sogar in die Baracke. Man mußte Gefäße unterstellen und die Schlafsäcke  auf die Seite rücken. Es gab Tage, an denen man draußen wie in einem grundlosen Moor bis zur halben Wade  versank. An solchen Tagen war man im ewigen Halbdunkel der muffigen Baracke gefangen; denn es war zu kalt,  um die Fensterluken offenzuhalten. Man lebte nicht mehr, man vegetierte dahin, wurde böse und ungeduldig oder  versank in Lethargie. 

"Am traurigsten war die Trennung der alten Ehepaare." 

- Existieren im Lager 

Ein besonders schweres Schicksal war der Umstand, daß die Familien getrennt waren. In der ersten Zeit  durften wir die Ilots nicht verlassen. Es gab keine Möglichkeit, unsere Frauen, Mütter und Töchter zu sehen,  denn die Wachen ließen niemanden ohne Passierschein durch. Diese strikte Absperrung haben wir als eine  grausame Härte empfunden. Die Frauen litten noch viel mehr unter diesem Zustand. Sie wußten die  Männer in der Nähe und konnten nicht zu ihnen gelangen. Dieser Zustand war qualvoller als alles andere. Am  traurigsten war die Trennung der alten Ehepaare. Die alten Frauen waren hilflos ohne den Gefährten eines langen  Lebens, mit dem sie zusammengewachsen waren. Wie war der andere untergebracht? War er vielleicht krank?  Wer sorgte für ihn? 

Und diese Sorge war nur allzu berechtigt: In den Männer-Ilots waren Todesfälle häufiger als in den  Frauen-Ilots. Es zeigte sich, daß die Frauen mit diesem primitiven Leben besser fertig zu werden wußten. Sie  kämpften gegen den Schmutz, gegen die eigene Verwahrlosung und waren weit aktiver als die Männer, die sich  besonders in der ersten Zeit einfach fallen ließen. 

Erst nach einigen Wochen gab es die ersten Passierscheine, um unsere Frauen besuchen zu können.  Zuerst nur für ein paar Minuten, später dann für eine halbe Stunde. Mit der Zeit wurde diese Maßnahme  erleichtert, und man konnte öfters zusammenkommen. Auch die Frauen kamen dann zu Besuch in die Männer- Ilots. - Als ich meine Mutter nach vier Wochen zum erstenmal sah, war ich tief erschrocken: Sie war abgemagert,  deprimiert, in einem bejammernswerten Zustand. Den meisten Frauen ging es so. Dazu kam der immerwährende  Hunger, welcher unser Denken und Fühlen beherrschte. Trostlosigkeit, Elend, Heimweh zermürbten unser Ich. 

Nach einiger Zeit hatte sich das Leben in den Baracken eingespielt, wenn man das so nennen darf. Was blieb  einem schon anderes übrig, als sich den gegebenen Umständen anzupassen. Es mußte etwas Positives geschaffen  werden. - Zuerst wurden regelmäßig Schabbat-Gottesdienste abgehalten. Der Lager-Rabbiner Dr. Ansbacher  versuchte in seinen Predigten, die Menschen aufzumuntern, sie zu trösten, ihnen Mut zuzusprechen. Ich erinnere  mich noch an eine Chanukka Predigt, in der er in wunderbarer Weise über die Leiden und Hoffnungen des  jüdischen Volkes sprach. - Es wurde eine Wohlfahrtsorganisation ins Leben gerufen, die von den Spenden  der Insassen lebte und die ganz Mittellosen unterstützte, von denen es sehr viele gab.


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