Dokumentation

Revision des Indienbildes im Schulunterricht

 

Unterrichtsfach Geographie
Indiens geographische Grundlagen:
Ein (unvollständiger) Überblick zu Facetten der Vielfalt

Jürgen Clemens


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Inhalt


Meine Damen und Herren, 15 Minuten sind sehr wenig Zeit für ein Land von subkontinentalem Ausmaß. Ich werde mich deshalb auf ausgewählte Aspekte konzentrieren, die später noch ergänzt werden können. Diese Auswahl möchte ich eingangs in einen größeren Zusammenhang einbinden, der zahlreiche - aber gewiß nicht alle - Facetten des Indienbildes und der geographischen Vielfalt Indiens umfaßt (vgl. Schaubild).

Schwerpunktartig möchte ich vor allem auf das Thema Wasser" eingehen sowie auf die regionalen Entwicklungsunterschiede der sogenannten `menschlichen Entwicklung'. Die in dem Schaubild skizzierten `Rahmenbedingungen' können dabei nicht weiter vertieft werden, auch wenn sie natürlich von entscheidender Bedeutung sind.

Schaubild: Die zwei" Gesichter Indien - Indische Dichotomien und Polarisierungen

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Rahmenbedingungen:

#fragiler Naturraum - Vulnerabilität" - Hazards: natürlich & man made
# Ressourcenengpässe und - konflikte
# - Wasser - Wald - Boden - ...
# sozio-kulturelle Vilefalt -Sprachen - Ethnien - Religionen 
# anhaltende Marginalisierung großer Bevölkerungsgruppen
# koloniale Kontinuitäten"  - Politik und Verwaltung - Grenzen -   Infrastruktur - Bildung - ...
# Weltmarkteinflüsse
# Globale (Sicherheits-) Politik

Die Dimensionen Indiens erreichen wiederholt Superlative, etwa als die größte Demokratie" oder das größte Entwicklungsland" der Welt, wobei auch die Spannbreite der regionalen und sozialen Entwicklunsunterschiede extreme Ausmaße einnimmt. Alleine die Vielfalt der Naturlandschaften läßt keine einfachen, generalisierenden Darstellungen zu. Dies gilt erst recht für kulturelle und sozio-ökonomische Aspekte. Alleine eine Verbreitungskarte der Sprachgruppen läßt dies erahnen. (Rothermund (1996) weist 27 Sprachen mit mindestens 1 Mio. Sprechern auf, darunter die 16 Verfassungssprachen".)

Der Naturraum wird in meinem Vortrag nicht weiter vertieft, auch wenn Geographie und Erdkunde-Unterricht als Querschnittsdisziplin" die naturräumlichen Geofaktoren aufgreifen muß, um das Verständnis z.B. einer nachhaltigen Landnutzung zu fördern.

Ich möchte jedoch auf das Thema `Wasser' eingehen, da es eine breite Überschneidung zwischen natur- und kulturgeographischen Aspekten bietet und als knappe Ressource ein "elementares Konfliktpotential" in sich birgt.

So sind etwa die Gletscher des südasiatischen Hochgebirgsraumes das nach den Polregionen größte natürliche Süßwasserreservoir. Sie geIten als die Wassertürme" der ausgedehnten Bewässerungskulturen in den Stromtiefländern.

Insbesondere Bodenbedingungen und Wasserverfügbarkeit sind wichtige Determinanten der indischen Landwirtschaft und vor allem die Wasserverteilung oder -knappheit gilt in vielen Regionen Indiens als ein entscheidendes Entwicklungshemnis.

Die jüngste Entwicklung wird zunehmend bestimmt durch Verteilungskonflikte um Wasser, Konflikte zwischen Regionen, Wirtschaftssektoren sowie Sozialzruppen. Anzeichen einer nachhaltigen Nutzung" oder des Ressourcenschutzes sind bislang landesweit kaum zu erkennen.

Als ein Beispiel kann hier die Grüne Revolution" angeführt werden, deren Hintergründe ich jedoch als bekannt voraussetzen darf.

Im Rahmen dieser agro-technischen Modernisierung wurde insbesondere der Bewässerungsfeldbau gefördert. So nahm die bewässerte Pro-Kopf-Erntefläche von 1950-51 bis 1990-91 um etwa 16 Prozent zu. Mit der Einführung von Diesel- und insbesondere von Elektropumpen hat die Feldbewässerung eine neue Dimension erreicht. Ihr Einsatz ist flexibler als die Kanalbewässerung und erschließt tiefere Grundwasserschichten. Zwischen 1981 und 1996 stieg die Anzahl der Elektropumpen von 4,3 auf mehr als elf Millionen und einige Autoren bezeichnen die Grüne Revolution" als eigentliche "Pumpenrevolution".

Damit einher ging eine weitgehende Privatisierung, des früheren Gemeingutes Wasser", mit einer weitgehenden Kontrolle durch lokale wohlhabende Schichten, vor allem Großgrundbesitzer, anstelle der staatlichen oder unter Dorfkontrolle befindlichen Bewässerungskanäle. Dies führte zur weiteren sozio-ökonomischen Marginalisierung von Kleinbauern und Landlosen.

Von ähnlichen Fehlentwicklungen sind auch die Unterprivilegierten in den Städten betroffen, d.h. die Slumbewohner oder teilweise auch der Mittelstand, die nicht oder nur unzuverlässig an die öffentliche Wasserversorgung angeschlossen sind. In Trockenzeiten müssen sie unverhältnismäßige Preise für die kanister- oder flaschenweise Abgabe von Wasser bezahlen. Das Gros des Trinkwassers erreicht demgegenüber durch `Wasserschmuggel' und Korruption mit Tanklastwagen die Wohngebiete der Reichen.

Zusätzliche Aspekte des Konfliktelementes Wasser" sind neben dem Abwasserproblem vor allem die zahlreichen und meist umstrittenen Großstaudämme sowie grenzüberschreitende Ansprüche gegenüber Pakistan, Nepal und Bangladesch.

Marginalisierung und Armut

Hinsichtlich der Besitzverhältnisse hat sich das Problem der Kleinbauern und vor allem das der Landlosen und Landarbeiter verschärft. Häufig wandern sie als Tagelöhner saisonal je nach Arbeitsbedarf in andere Anbaugebiete oder auch in die Großstädte ab. In Extremfällen sind sie und ihre Familien in Schuldknechtschaftsverhältnissen" faktisch als Leibeigene an einzelne Großgrundbesitzer gebunden, auch wenn dies in den 1970er Jahren gesetzlich aufgehoben wurde.

Nach jüngeren Untersuchungen mußten zahlreiche Kleinbauem aufgrund ihres Kreditbedarfs Land verkaufen. Pächter wurden von den landlords aus den Pachtverträgen entlassen und als Landarbeiter weiterbeschäftigt, nachdem der marktorientierte Anbau lukrativer wurde als das passive Abschöpfen der Landrenten. Beck (1995) spricht in diesem Zusammenhang von trickle-up"-Effekten und verstärkten Einkommensdisparitäten. Die agro-technische Modernisierung wurde demnach evolutionär" zur Festigung bestehender sozialer Strukturen genutzt und führte letztlich zur partiellen Verarmung" und Marginalisierung der Kleinbauern und Landarbeiter.

Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist eine anhaltende Armut, sowohl im städtischen wie auch im ländlichen Bereich, die nach offizieller Lesart seit den 1970er Jahren absolut und relativ abgenommen haben soll. Doch diese Angaben zur Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze -gemessen an den notwendigen Ausgaben für eine angemessene Ernährung - sind politisch umstritten. Regierungsunabhängige Institute kritisieren die Methodik der staatlichen Statistik und schätzen den tatsächlichen Anteil der Armen deutlich höher ein. Diese revidierten Armutsdaten lassen letztlich auch die Erfolgsmeldungen" der `neuen Wirtschaftspolitik' nach 1991 in einem anderen Licht erscheinen, da die Armut nicht abgenommen, sondern durch Einbußen im informellen Sektor eher zugenommen hat.

Tab. Ausmaß der Armut in Indien - Vergleich verschiedener, offizieller Quellen.

a) Statistical Outline 1996-97, Bombay, (S. 200), nach `Planning Commission'.
b) H.C. Rieger, in: Indien in der Gegenwart, II,1997,1-2, S. 145, nach `Report of the Expert Group on Estimation of Proportion and Number of Poor' (New Delhi 1993).
c) Human Development in South Asia 1997, Karachi, S. 113 & 142, nach UN- und Weltbank-Daten.

Millionen Menschen

Indien, gesamt 1972(-73) 1977(-78) 1983 1987(-88) 1993(-94)
a) Stat. Outline 291,5 306,8 201,4' 168,6'
b) H.C. Rieger 321,6 332,0 327,0 312,7
c) Hum. Devel.  416"

Prozentanteile der Gesamtbevölkerung

Indien, gesamt 1972(-73) 1977(-78) 1983 1987(-88) 1993(-94)
a) Stat. Outline 51,5 48,3 25,5' 19,0'
b) H.C. Rieger 54,9 51,8 44,8 39,3
c) Hum. Devel. 46

Mittlerweile hat die durchschnittliche Ernährungslage das von der Welternährungsorganisation (FAO) angestrebte Bedarfsdeckungsniveau erreicht. Seit dem Einsetzen der Grünen Revolution" sind landesweite akute Hungersnöte ausgeblieben. Chronische Mangelernährung ist aufgrund der verbreiteten ländlichen Armut aber weiterhin ein drängendes Problem.

Paradoxerweise hat die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln auf den privaten oder den subventionierten öffentlichen Märkten zugenommen. Jedoch verfügen große Teile der Bevölkerung nicht über das nötige Einkommen um diese auch kaufen zu können (Currie 1992).

Demographie

Indien ist ein häufig zitiertes Beispiel der sprichwörtlichen Bevölkerungsexplosion"', sowohl in wissenschaftlichen Beiträgen wie auch in Schulbüchem. Ausgehend vom hohen absoluten Bevölkerungszuwachs von mehr als 16 Millionen Menschen pro Jahr werden düstere und schier nicht zu bewältigende Entwicklungsprobleme für deren Versorgung projiziert.

Indien hat es jedoch bislang durchweg vermocht, die Ernährungssituation zu verbessern und die demographische Entwicklung, gemessen an der jährlichen Wachstumsrate, hat sich seit etwa 1971 stabilisiert, wenn auch auf hohem Niveau. Während die Sterberaten schon zuvor rasch gesunken sind, sinkt nun die Geburtenrate überproportional und die Wachstumsrate wird nach Schätzungen von derzeit 1,8 bis 2011 auf unter 1,4 Prozent sinken.

Im regionalen Vergleich zeigen sich zudem deutliche Unterschiede des Bevölkerungswachstums zwischen den Bundesstaaten. Das jährliche Bevölkerungswachstum in Kerala und Tamil Nadu unterschritt schon 1991 mit 1,2 Prozent den Projektionswert Indiens für 2011. Das derzeitige Bevölkerungswachstum wird nach statistischen Analysen insbesondere durch das Alter der Frauen bei der Hochzeit sowie den Alphabeti-sierungsgrad der Frauen beeinflußt, d.h. je höher diese beiden Werte sind, desto geringer fällt die Wachstumsrate aus.

Die Bevölkerung Indiens konzentriert sich zudem zusehends in Groß- und Millionenstädten, deren Bevölkerungszuwachs von 1981 bis 1991 doppelt so rasch anstieg wie der ganz Indiens. Indien zählt derzeit zu den dynamischsten Städteregionen, auch wenn das größere absolute Bevölkerungswachstum weiterhin auf dem Land zu verzeichnen ist. Indien ist bei der noch niedrigen Urbanisierungsquote von gut 25 Prozent weiterhin "ein Land der Dörfer".

Die Problematik von Landflucht, Verelendung in Slumquartieren und den Agglomerationsvor- und -nachteilen im Rahmen der sogenannten Megapolisierung" Indiens kann hier nicht weiter vertieft werden. Die jüngere Entwicklung ist jedoch in zahlreichen Studien, wie etwa zur `Habitat II-Konferenz', gut dokumentiert.

Disparitäten Indiens

Studien zu Entwicklungsunterschieden in Indien konzentrieren sich bislang überwiegend auf rein ökonomische Indikatoren oder auf einzelne Sozialindikatoren. Mittlerweile liegen jedoch auch regionalisierte Werte des `Index der menschlichen Entwicklung' (HDI) vor, zumindest auf Ebene der indischen Bundesstaaten. Sie zeigen krasse Unterschiede des Entwicklungsniveaus, die sich nicht allein durch die jeweilige Wirtschaftskraft oder das Pro-Kopf-Einkommen erklären lassen.

So wäre Kerala als selbständiger Staat weltweit in der mittleren Gruppe etwa auf Rang 108 einzuordnen, während es das Pro-Kopf-Einkommen Indiens deutlich unterschreitet. Indien liegt für 1994 auf Rang 138 von insgesamt 175 Staaten, fiel gegenüber dem Vorjahr um drei Plätze zurück und nimmt verglichen mit ähnlich wohlhabenden Staaten sehr viel niedrigere Werte der menschlichen Entwicklung ein.

Analog zu Studien der Wirtschaftsentwicklung liegt das sogenannte Hindu-Herzland" auf den untersten Rängen. Die herausragende Stellung Keralas sowie von Maharashtra, Haryana und Punjab trifft neben dem HDI-Wert auch auf andere Sozialindikatoren zu, wobei deren Streuung jedoch krasser ausfallen kann.

Hinsichtlich der Erklärung für die Sonderstellung Keralas variieren die Ansätze in der Literatur sehr deutlich. Rothermund (1994) verweist auf die Auswanderung aus Kerala sowie die Innovationsfähigkeit der Bevölkerung. Demgegenüber wird der Entwicklungzsprozeß in Kerala als ein mögliches Beispiel für nachhaltige Entwicklung in Entwicklungsländern präsentiert (Dutt/Rao 1996; Parayil 1996). Als positiv werden die hier konsequenter durchgeführte Landreform sowie die Ausbildungsleistungen herausgestellt. Parayil (1996) warnt jedoch vor einer Romantisierung" dieser positiven Entwicklung, da auch in Kerala weiterer Handlungsbedarf zur Förderung marginalisierter Gruppen, beispielsweise für Fischer, bestehe.So sind auch dort Modernisierungs- und zusätzliche industrielle Fördermaßnahmen erforderlich.

Resümee

Zum Abschluß möchte ich nochmals auf die eingangs dargestellte Kompexität Indiens hinweisen, der ich mit meinen Beispielen nur bedingt gerecht werden konnte. Diese Komplexität hat in den 1990er Jahren noch an Dynamik gewonnen. Die bislang allzu häufig wiederholten und vermeintlich so eingängigen Klischees des Indienbildes in den Medien und in der Schulbuchliteratur werden dieser Entwicklung immer weniger gerecht, wie Frau Linkenbach in ihrem Beitrag zum Tagungsreader schon dargelegt hat.

Eines der Ergebnissse der jüngeren Entwicklung, Indiens ist die Weiterentwicklung einer oftmals kritischen `Zivilgesellschaft', deren Diskurs auch in ein neues Indienbild einfließen sollte. Eine Ansatzmöglichkeit - auch für die geo-wissenschaftliche und didaktische Arbeit- bietet, neben vielen anderen, beispielsweise der jährliche Bericht zur menschlichen Entwicklung Südasiens, der auf dem Subkontinent selber analysiert und publiziert wird.

Daneben sollten solche Ansätze verstärkt problemorientiert sein und dabei im Querschnitt auch die Perspektiven und Handlungsoptionen zumindest der wichtigsten Akteure oder Betroffenen aufgreifen. Neben dem Problembereich Wasser sind hierzu auch andere Beispiele wie etwa Ernährung und Armut oder Wälder und Umweltdegradation denkbar.

Aus der indigenen Perspektive zum Entwicklungsstand" Südasiens und Indiens möchte ich abschließend ein Zitat mit schon fast trauriger Aktualität aufgreifen und Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit danken:


South Asia is fast emerging as the poorest,
the most illiterate, the most malnourished,
the least gender-sensitive
- indeed, the most deprived region in the world.
Yet it continous to make more investment in arms
than in education and health of its people.

aus: Human Development in South Asia 1997 Karachi, 1997, S.2


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