Andreas Käter / Konrad Stadler

Bürger aktivieren und begleiten
Beiträge der Erwachsenenbildung zu Gemeinwesenentwicklung


Andreas Käter, geb. 1965. Ausbildung: Studium der Philosophie, Diplom-Sozialpädagoge, Ausbildung zum Sozialmanager und Organisationsentwickler. Seit 1990 Geschäftsführer des Katholischen Kreisbildungswerkes Bad Tölz-Wolfratshausen.

Konrad Stadler, geb. 1964. Ausbildung und Studium: Philosophie und Erwachsenenbildung (M.A.), Diplom-Sozialpädagoge (FH). 1990-1993 Geschäftsführer beim katholischen Kreisbildungswerk Bad Tölz-Wolfratshausen. Seit 1993 Gesellschafter der Heinle und Stadler Organisationsberatung. Arbeitsschwerpunkte: Team- und Organisationsentwicklung im Industrie- und Dienstleistungssektor, Gemeindeprojekte.

Der Bürgermeister ist überrascht. Er hatte nicht mit zwanzig Leuten gerechnet, als sich die Bürgergruppe 'STEIN für STEIN' zu einem Gesprächstermin ankündigte. Es wird ihm ein Konzept für einen Treffpunkt im Stadtteil Stein vorgestellt. Die Vorlage ist gut durchdacht. Eine breite Umfrage kann die Notwendigkeit von Räumlichkeiten in Stein nachweisen. Ganz besonders überzeugend ist die enorme Kostenreduzierung durch die Nutzung eines leerstehenden Gebäudes. Verbindungen zu örtlichen Handwerksbetrieben sorgen für günstige Materialien. Vor allem aber stellen sich fachkundige und engagierte Steiner Bürger für die Renovierungsarbeiten zur Verfügung. Wenige Tage später beschließt der Stadtrat die Unterstützung des Vorhabens.

Die Rede ist von einem Projekt des Kreisbildungswerkes Bad Tölz-Wolfratshausen. Seit einigen Jahren arbeiten wir daran, den lokalen Bezug der Bildungsarbeit in unserem Landkreis noch weiter auszubauen. Unter dem Titel 'EB lokal - Etwas bewegen' sind in den letzten Jahren Ansätze für eine stärkere Einbeziehung von Bewohnern und örtlichen Gruppen in der Erwachsenenbildung vor Ort entstanden.

In der Zwischenzeit hat sich der Schwerpunkt der gemeinwesenorientierten Ausrichtung auf die professionelle Unterstützung lokaler Bürgeraktionen verlagert. Die eingangs angedeutete Steiner Aktion wurde vom Bildungswerk mit angestoßen und wird kontinuierlich begleitet.

Wieso nun mischt eine Einrichtung der Erwachsenenbildung in der Stadtteilentwicklung mit? Welche Kompetenzen und Leistungen zeichnen die Erwachsenenbildner für diese Aufgabe aus? Welchen Nutzen hat eine Stadt oder ein Dorf von dieser Arbeit?

Diese und weitere Fragen einer innovativen gemeinwesenorientierten Arbeit werden in diesem Beitrag besprochen. Dabei wird exemplarisch von der Aktion 'STEIN für STEIN' ausgegangen.

Im Stadtteil Geretsried-Stein wohnen knapp 3.000 Einwohner. Die Bevölkerung hat sich in den letzten zwanzig Jahren mehr als vervierfacht. Die Stadt Geretsried liegt 30 Kilometer südlich von München und hat gut 20.000 Einwohner. Seit dem 2. Weltkrieg ist Geretsried ein Zentrum für deutschstämmige Über- und Aussiedler aus Osteuropa. Noch heute hat Stein als Sitz des damaligen Übergangslagers in der Umgebung einen schlechten Ruf.

Das Kreisbildungswerk ist bei einer Studie zur Elternbildung auf Stein aufmerksam geworden. Eine Kindergartenleiterin erzählte, daß Mütter mit kleinen Kindern in Stein immer wieder darüber klagten, wenig Kontakte zu anderen Familien zu bekommen.

Über die Kindergartenleiterin lernten wir Frauen kennen, die seit einigen Jahren in Stein leben. Sie hatten eine klare Vorstellung von dem, was in Stein fehlt, nämlich Räume, in denen sich Mütter zwanglos treffen können, wenn ihnen zu Hause 'die Decke auf den Kopf fällt'.

Ob wir etwas machen könnten, damit so eine Begegnungsmöglichkeit entstehen kann, war die Frage. Die Unsicherheit, wer wir überhaupt sind, war groß. Das Kreisbildungswerk kannten einige von den Eltern-Kind-Gruppen oder von Vorträgen im Kindergarten. Wieso aber beteiligt sich das Bildungswerk bei der Durchsetzung eines Stadtteiltreffens? Ob wir Einfluß hätten, ein entsprechendes Vorhaben bei der Stadt in die Gänge zu bringen? Haben wir nicht. Aber den Boden könnten wir bereiten, um die Bevölkerung und schließlich die Verantwortlichen für diese Idee zu gewinnen, so unsere Antwort. Wie soll das gehen? Wir erläutern unsere Idee einer Aktion, bei der mit den Bewohnern über ihren Ortsteil gesprochen werden sollte.

Mit allen oder nur mit jungen Familien? Wir diskutierten diese Frage mit den Frauen. Schließlich kamen wir zum Schluß, daß wir alle Bevölkerungsgruppen befragen müssen. Auch auf die Gefahr hin, daß sich neben dem Müttertreff andere Themen als genauso brenzlig erwiesen. Es bildete sich eine kleine Initiativgruppe von fünf Frauen.

Wie kann man so eine Aktion aufziehen?

Wir machten einen Plan. Zunächst sollte die Bevölkerung neugierig gemacht werden. Dann mußten Befragungen starten. Schließlich mußte die Stadt mit dem Vorhaben in Verbindung gebracht werden.

Die Suche nach einem passenden Slogan war die erste Zerreißprobe. Es vergingen einige Abende bis wir auf 'STEIN für STEIN - einsam oder gemeinsam' kamen. Ganz Stein wurde mit Plakaten und selbstgenähten Transparenten ausstaffiert. Nach zwei Wochen begann die Umfrage. Die Initiativgruppe wurde bei dem Entwurf eines Interviewleitfadens und bei der Befragung vom Bildungswerk unterstützt. Am Ende wurden in Straßeninterviews, Bekannten- und Nachbarschaftsgesprächen sowie einem Aktionsstand 11% der über 15-jährigen Bürger erreicht. Der Mann einer Mitarbeiterin bastelte ein mustergültiges EDV-Programm zur Auswertung der Umfrage. Schließlich konnten an einem Präsentationsabend vier große Ergebnisschwerpunkte vorgestellt werden:

- Miteinander,

- Straßenverkehr,

- Ortsbild,

- Versorgung.

Zu all diesen Punkten gab es eine Reihe von Anfragen und Anregungen. Der Präsentationsabend war gut besucht und brachte weitere Aktive für Aktionen. Glücklicherweise waren vier Stadträtinnen und Stadträte zu der Ergebnispräsentation gekommen, die in der Öffentlichkeit, in ihren Fraktionen, aber auch tatkräftig beim Formulieren von Anträgen oder dem Verteilen von Rundschreiben beispielhaft für das Projekt eintraten.

Die Gruppenarbeit am Präsentationsabend brachte die Möglichkeit der Umwidmung des ehemaligen Übergangslagers, dem sogenannten Block 1, zu einem Stadtteiltreff in den Blick. Nun wurde die Arbeit sehr konkret. Es mußten Gespräche mit dem Staatsministerium und der Regierung geführt werden. Sachverständige mußten die Eignung des wenig gepflegten Gebäudes prüfen. Gleichzeitig mußte darauf geachtet werden, daß die Aktionsgruppe über der Auseinandersetzung mit Behörden und Experten nicht auseinanderfiel. So konnte dem Bürgermeister nach Monaten harter, meist abendlicher Arbeit ein Nutzungskonzept für den Block 1 vorgelegt werden.

Sobald die Behörden grünes Licht geben, soll ein Trägerverein für den Block 1 gebildet werden, zusammengesetzt aus bereits angefragten sozialen und kulturellen Einrichtungen der Stadt. Wenn alles klappt, wird es im Herbst 1996, ein Jahr nach den ersten Gesprächen mit den Steiner Frauen, einen Stadtteiltreff in Geretsried-Stein geben. Bis dahin ist eine intensive Begleitung der Beteiligten notwendig. Diese Projektbegleitung übernimmt das Kreisbildungswerk. Die Stadt bezuschußt die anfallenden Personalkosten mit 50%.

Wie kommt nun die Erwachsenenbildung überhaupt dazu, eine derartige Aktion mitzugestalten? Die kirchlich getragenen Kreisbildungswerke stehen in der Tradition einer regionsbezogenen und gemeindeorientierten Arbeit. Mehr noch als in der Vergangenheit hat sich die Erwachsenenbildung im Steiner Projekt total an der Bevölkerung orientiert. Die Leistung der Institution besteht dabei nicht wie herkömmlich in der Ausgestaltung und Verbreitung eines Angebotes, sondern in der Hilfestellung bei der Formulierung und Erreichung der Ziele einer betroffenen Gruppe. Damit ist die Erwachsenenbildung zur Gemeinwesenarbeit im Sinne einer Entwicklung von Selbstorganisation geworden.

Wird die Gemeinwesenarbeit zum Paradigma einer örtlich und regional ausgerichteten Bildungsarbeit, stellen sich zunächst zwei Fragen:

1. Inwiefern darf eine öffentlich geförderte Einrichtung örtliche Aktionen von durchaus

politischer Tragweite unterstützen?

2. Inwieweit greift die Erwachsenenbildung in die Hoheitsbereiche von Einrichtungen

der sozialen Arbeit ein?

zu 1.

Ganz zu Anfang war es in der Steiner Initiativgruppe Thema, ob man sich nicht viel Arbeit ersparen könnte, wenn man eine Unterschriftenliste mit der Forderung nach Räumlichkeiten an den Bürgermeister schickte. An dieser Stelle hatten wir klargemacht, daß ein derartiges Unterfangen sicher nicht mit der Unterstützung des Bildungswerkes möglich ist. Wir würden uns nur beteiligen, wenn erkennbar ist, daß Bewohner konstruktive Beiträge für die Erreichung des gewünschten Objektes einbrächten, so unser Standpunkt.

Damit sind wir sowohl zum Partner der Bürger als auch der Politik geworden. Unsere berufsethische Richtlinie lautet: Wenn Erwachsenenbildung die Seminarräume verläßt und direkt in soziales und damit politisches Handeln eingreift, ist dies nur durch eine eindeutige Förderung von konstruktiven und gerechtfertigten Lösungswegen zur Verbesserung der Lebensqualität in einem Gemeinwesen zu legitimieren. Darunter fällt weder die Unterstützung von reinem Protest noch die Unterstützung bloßer Forderungen. Auch muß darauf geachtet werden, daß die Aktionen über den politischen Parteien stehen, also möglichst Vertreter mehrerer Parteien eingebunden sind

Die Erwachsenenbildung agiert dann korrekt und erfolgreich, wenn sie zum Vermittler und zum Scharnier für konstruktive Lösungen in einer Kommune wird. Um eine einseitige Parteinahme und bloßen Aktionismus zu verhindern, ist gerade in kritischen Situationen ein hohes Maß an interner Auseinandersetzung nötig. Für jedes Gemeinwesenprojekt sollte es deshalb eine Art Beratergremium innerhalb der eigenen Organisation geben.

zu 2.

Viele Einrichtungen der sozialen Arbeit sehen in ihren Konzepten Gemeinwesenarbeit vor, jedoch scheitert die Umsetzung häufig an der Auslastung durch Einzelfallarbeit und Verwaltungsaufgaben. Den größeren Spielraum bei der Definition ihres Betätigungsfeldes hat mit Sicherheit die Erwachsenenbildung. Ein Vorteil von Bildungseinrichtungen an der Nahtstelle zur Sozialarbeit ist auch, daß sie bei den Bürgern weniger mit dem Image von 'Problemen' und 'Hilfe' in Verbindung gebracht werden. Im Steiner Projekt führte die Gemeinwesenarbeit des Kreisbildungswerkes zu einer Gewinner-Gewinner-Situation im Wettbewerb mit sozialen Einrichtungen. Die Aktionstreffen fanden fast ausschließlich in Räumen der Diakonie statt. Dies stärkte das Ansehen dieser Einrichtung im Stadtteil und brachte Querverbindungen zu aktiven Einzelpersonen und Gruppen.

Das Kreisbildungswerk sieht sich in seinen Gemeinwesenprojekten als Partner und Zuarbeiter von sozialen Stellen. So werden in unserem Beispiel alle relevanten Organisationen der Sozialarbeit in einen Trägerverein für den Stadtteiltreff integriert. Daneben werden Ergebnisse der Steiner Aktion im Bereich der Jugendarbeit dem städtischen Jugendzentrum zugetragen.

Was sind nun die spezifischen Leistungen und Kompetenzen, die eine gemeinwesenorientierte Erwachsenenbildung auszeichnen?

Leistungen und Kompetenzen einer gemeinwesenorientierten Erwachsenenbildung

Verfolgen wir am Praxisbeispiel Stein die Leistungen einer gemeinwesenorientierten Erwachsenenbildung zurück. Zunächst mußte aufgespürt werden, wo sich überhaupt bürgerschaftliches Interesse regt. In Geretsried-Stein ist dies durch eine breit angelegte Befragung von 'Experten des sozialen Lebens' gelungen. Dies waren Mitarbeiter von sozialen Einrichtungen, Kommunalpolitiker, Aktive in der Pfarreiarbeit, Mitarbeiter der Stadtverwaltung und Vereinsvertreter. Hätte die Kindergartenleiterin von Stein nicht als Türöffnerin fungiert, wäre eine Initiativgruppe nie entstanden.

Nach dem einleitenden Suchprozeß geht es darum, Vertrauen zu den Bewohnern aufzubauen. Vertrauen entsteht in erster Linie durch gemeinsame Erfolgserlebnisse. Bis dahin ist vor allem eine gute Beratung gefordert. Die Menschen wollen wissen, worauf sie sich einlassen

Sie brauchen Orientierung und Anhaltspunkte über Verlauf und Ergebnis einer Aktion. Insofern bedarf der Ablauf eines Gemeinwesenprojektes einer gewissen Standardisierung. Doch sind die Prozesse nicht immer exakt planbar. Dies ist der kritischste Punkt bei Gemeinwesenprojekten. Die Gefahr ist groß, als Projektbegleiter selbst die Verantwortung für das Gelingen einer Aktion auf sich zu nehmen. Deshalb muß in dieser Phase deutlich gemacht werden, daß der Projektbegleiter für die Beratung zuständig und die Gruppe für das Gelingen verantwortlich ist.

Die Beratung besteht in der Vorlage eines Phasenplanes für Gemeinwesenaktionen, der in der Gruppe auf die spezifische Situation hin ausformuliert wird. Dies bedarf der Fähigkeit der Moderation. Es gilt, die Ideen der Bürger zu sammeln und auf den Punkt zu bringen. Ziel ist es, ein Gruppenprodukt zu schaffen, mit dem sich die Mitwirkenden identifizieren, das fasziniert und solidarisiert.

Eine wichtige Aufgabe ist weiterhin der Brückenschlag zu örtlichen Institutionen wie der Stadtverwaltung oder sozialen Einrichtungen. Vielen Bürgern sind Entscheidungswege in einer Kommune nicht bekannt. Oft besteht eine große Zurückhaltung offiziellen Stellen und Persönlichkeiten gegenüber.

Dies gilt auch für die Öffentlichkeitsarbeit. Die Erwachsenenbildner haben die Aufgabe, in die Projekte lebendige Formen der Kontaktaufnahme zu öffentlichen Multiplikatoren einzuführen. Dies fördert zusätzlich die notwendige Vernetzung von den Projektbeteiligten, der Sache und den gemeindlichen Kulturkreisen. Auch müssen die Aktionsmitarbeiter ermutigt werden, selbst ihre Ergebnisse und Belange in der Öffentlichkeit zu präsentieren (Presse!)

Hierbei laufen höchst effektiv politische Bildung und Persönlichkeitsbildung ab.

Die Kunst der Prozeßbegleitung zeichnet sich alles in allem durch die Entwicklung von Selbstorganisation aus. Nach einer intensiven Phase der Zusammenarbeit müssen zunehmend die Bürger vor Ort ihre Belange in die Hand nehmen. Doch ist es lange Zeit nötig, darauf zu achten, daß das Entstandene nicht wieder erlahmt, daß nicht immer dieselben Leute die Arbeit machen, daß neue Impulse und Akzente gesetzt werden.

Folgende Schritte sind in Richtung Gemeinwesenentwicklung zu gehen:

1. Prozeßbegleitung muß zu einer von Kommunen und auch Landkreisen anerkannten Leistung werden.

2. Es braucht eine Reihe aktiver Vorarbeiten, damit Projekte zur Gemeinwesenentwicklung entstehen.

3. Es muß eine interne Diskussion um die Aufgaben und den Begriff der Erwachsenenbildung hinsichtlich Gemeinwesenorientierung stattfinden.

zu 1.

Die Gemeinwesenprojekte des Kreisbildungswerkes Bad Tölz-Wolfratshausen lebten bisher sehr stark von Eigenfinanzierung. Diese Vorleistung hat sicher Grenzen. Ziel ist es, daß die Nutzer, also die Kommunen, einen spürbaren finanziellen Beitrag leisten müssen. Dazu muß aber klar herausgestellt werden, was a) Stadtteil- oder Dorfentwicklung und b) deren professionelle Anleitung und Begleitung einer Gemeinde oder einer Stadt nützen. Unternehmerisch gedacht, sollte am besten mit einem wirtschaftlichen Nutzen argumentiert werden. Dieser spielt immer dann eine Rolle, wenn Bürger selbst Hand anlegen und Professionelle nur projekthaft und nicht fest angestellt bezahlt werden müssen.

Angesichts leerer Kassen müssen Kommunen solche Herangehensweisen sehr ernst nehmen, wollen sie ihre Aufgaben im sozialen und kulturellen Bereich auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erfüllen. Mit der Einsparung bei festen Einrichtungen und Angestellten soll allerdings keiner neu aufgelegten Ausbeutung von Ehrenamtlichen Vorschub geleistet werden. Im Gegenteil sollten die Bürgerinnen und Bürger, die sich zum Beispiel für den Betrieb eines Stadtteils oder die Leitung einer Spielgruppe engagieren, dafür entlohnt werden.

Einen besonderen Stellenwert haben in der Gemeinwesenentwicklung selbstredend qualitative Gesichtspunkte. So kann damit argumentiert werden, daß Bürger zur konstruktiven Erarbeitung von Problemlösungen in einem Dorf- oder einem Stadtteil aktiviert werden. In vielen Fällen haben städtische oder dörfliche Planungen ohne Akzeptanz bei den Einwohnern wenig Sinn.

In Gemeinwesenaktionen entstehen ferner vielfältige Kontakte, die einer drohenden Vereinsamung von Familien und Einzelnen entgegenwirken. Die Reichweite von Vereinen beispielsweise wird in diesem Zusammenhang häufig überschätzt. Auch die Kirchen verlieren bekanntermaßen an sozialintegrativer Kraft. Die Kontaktarbeit in der Nachbarschaft und im Lebensnahbereich muß als unverzichtbarer Beitrag zum sozialen Netz einer Kommune dargestellt und anerkannt werden.

zu 2.

Die Steiner Aktion ist nicht zuletzt aus einem Forschungsinteresse der kirchlichen Erwachsenenbildung in der Erzdiözese München und Freising heraus entstanden. Einen vergleichbar langwierigen Suchprozeß können Bildungseinrichtungen nicht immer leisten. Wie also können Gemeinwesenprojekte entstehen?

Es ist davon auszugehen, daß mehrere Faktoren zusammenwirken müssen. Einige wichtige Aktivposten sind:

- Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung müssen professionelle Konzepte und Produkte zur Initiierung und Begleitung von Prozessen der Gemeinwesenentwicklung ausarbeiten.

- Sie brauchen dafür kompetente Mitarbeiter bzw. müssen mit Profis zusammenarbeiten.

- Es muß eine intensive Kontaktarbeit von Vertretern der EB-Einrichtungen mit wichtigen Persönlichkeiten in Gemeinden und Landkreisen geleistet werden, um dadurch mögliche Einstiege in die regionale und gemeindliche Entwicklung zu bekommen.

- Es müssen aktuelle Anlässe für mögliche Gemeinwesenprojekte wahrgenommen und aufgegriffen werden; z.B. staatliche Dorfentwicklungsprogramme, Neuwahlen, Krisen, starke Veränderungen.

- EB-Einrichtungen müssen regelrecht nach Kunden für die Gemeindeentwicklung suchen und mit ihren Produkten aquirieren.

- Bestehende strukturelle Zusammenhänge - wie im Falle der kirchlichen Erwachsenenbildung zu den Ortspfarreien - müssen als mögliche Ansatzpunkte genutzt werden.

- EB-Einrichtungen müssen auch weiterhin aus eigener Kraft Gemeinwesenprojekte inszenieren. Denn oft wird den politisch Verantwortlichen der Sinn dieser Arbeit erst beim konkreten Verlauf bewußt.

Es kann derzeit noch nicht davon ausgegangen werden, daß Gemeinden Leistungen wie 'Prozeßbegleitung', 'Moderation' oder 'Gemeindeanalyse' nachfragen. Vielmehr müssen EB-Einrichtungen regelrecht Marketing für ihr Produkt 'Gemeindeentwicklung' betreiben

zu 3.

Die Entdeckung der Gemeinwesenarbeit als zukunftsfähige Dienstleistung von Erwachsenenbildungseinrichtungen weitet sich zunehmend aus. Um nach außen überzeugend mit diesem Ansatz auftreten zu können, muß eine interne Untermauerung stattfinden. Es braucht

- eine Theorie gemeinwesenorientierter Erwachsenenbildung (derzeit steht die Theorie-bildung erst am Anfang),

- eine spezielle Weiterbildung von Mitarbeitern für die Gemeinwesenentwicklung,

 

- eine Verankerung von Leistungen der Gemeinwesenarbeit in den Gesetzen und Bestimmungen zur Erwachsenenbildung,

- entsprechende Zielformulierungen auf der institutionellen Ebene.

 

Anschriften der Verfasser:

Andreas Käter

Kreisbildungswerk

Bad Tölz-Wolfratshausen e.V.

Postfach 1247

83632 Bad Tölz

 

Konrad Stadler

Seeuferstraße 19

82541 Ambach

  

Das Gemeindeleben wird längst nicht mehr von einer umklammernden Not zusammengehalten. Die Öffentlichkeit ist kein Verwandtschaftsgerippe mehr. Jeder kennt jeden, das hört sich ein wenig nach einer uralten Beschwörungsformel an. Die Lebensläufe lassen sich fast mühelos mit ein paar Schablonen aufzeichnen. Die Sturheiten der älteren Generation scheinen dabei etwas Angeborenes zu sein. Die Demut entpuppt sich als Selbstschutz der Schwachen. Die größten Entfernungen tun sich auf zwischen dem Wollen und dem Tun. Die am nächsten gelegene psychiatrische Anstalt liegt in Zwiefalten. Zwanzig Meter Luftlinie vom Ortskern entfernt, erforscht man seine Mitmenschen mikroskopisch durch das Spionauge an der Haustür.

Walle Sayer: Glockenschläge (1990)

 

Die Feriengäste hinterlassen kaum mehr als Geldscheine und Eintragungen im Fremdenbuch. Als Kurzurlauber erholen sie sich von den Anreisestrapazen. Sie sehen die Region durch einen Farbprospekt. Heimatabende werden für sie inszeniert, wo sich das Volkstümliche ins Volksdümmliche wandelt. Auch für ihr Lachen erniedrigen sich die Laienspieler des Bauerntheaters. Am Rande ihrer Wanderwege, die dekoriert sind mit Kuhfladen, werden die kranken Tannen vorsorglich abgeholzt. Wegen der Ruhe, die sie suchen, sind die Flächen stillgelegt. Weil sie es sich so vorstellen, ist das Dirndl zur Arbeitskleidung der Kellnerinnen geworden. Daheim, in ihrer eigenen Fremde, schwärmen sie dann von Speck und Most und Landluft.

Walle Sayer: Kohlrabenweißes (1995)