Einleitung


Die Voraussagen sind widersprüchlich. Laut Zeitungsmeldungen von Ende Februar 1998 ist die EU durch die Vereinbarungen auf der Welthandelskonferenz 1994 zum agrarpolitischen Kurswechsel gezwungen. Nach EU-Schätzungen droht zwei von drei deutschen Bauernhöfen das Aus. Leben in der Bundesrepublik derzeit noch rund 1,5 Millionen Menschen direkt von der Landwirtschaft, werden es im Jahre 2020 gerade noch 300 000 sein. Andererseits zählt Warnfried Dettling, ein ernstzunehmender Publizist, den ländlichen Raum und die Frauen zu den Gewinnern des 21. Jahrhunderts, "einfach weil die Tendenz aus unterschiedlichen Gründen weggeht von den großen Metropolen, hinein in die Regionen, in die Provinzen, in die örtliche Lebenswelt".

Diese widersprüchlichen Prognosen irritieren. Driftet der ländliche Raum in Folge der Globalisierung und des damit einhergehenden strukturellen Wandels unserer Industriegesellschaft ins wirtschaftliche und gesellschaftliche Abseits? Oder entwickeln sich auf dem Lande in kommunalen und regionalen - und damit überschau- und planbaren - Zusammenhängen soziale Ressourcen, die mit Hilfe moderner Informations- und Kommunikationstechnologien den ländlichen Gemeinden neue Entwicklungschancen eröffnen?

Die vorliegende Dokumentation "Perspektiven ländlicher Entwicklung. Potentiale und Kooperationen auf dem Lande" faßt die Ergebnisse eines Seminars zusammen, das bei Themenauswahl, Referenten und Teilnehmenden die Landesgrenzen bewußt überschritt. So wurden Erfahrungen aus Bayern, Hessen und Nordrhein-Westfalen mit baden-württembergischen Erhebungen verglichen und bewertet.

Der heterogene Personenkreis von Vertreterinnen und Vertretern aus Forschung, Verwaltung, Kirchen, Verbänden, Vereinen, Planungsbüros und Ministerien schuf ein Tagungsklima, das sowohl Konflikt als auch Konsens zuließ. Die teilweise sehr emotional und kontrovers geführten Diskussionen über Entwicklungsfaktoren auf dem Lande zeigten zum wiederholten Male, wie wichtig es ist, daß die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg als unabhängige und überparteiliche Institution diese Begegnungen initiiert und ermöglicht. Im Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis wurde über die Rolle von Politik, Planung, Erwachsenenbildung und Kultur als Impulsgeber für Entwicklungen und Innovationen konstruktiv gestritten. Obwohl Auseinandersetzungen zwischen Männern und Frauen, 'Traditionalisten' und 'Modernisten', klassischen Dorfentwicklern und gemeinwesenorientierten Provinzarbeitern, Eigenständiger Regionalentwicklung und Ministerien, Verwaltungs- und Bürgerebene das Seminar prägten, so wurde doch deutlich, daß das Haus auf der Alb seine Aufgabe als Ort der Moderation wahrnahm, an dem pluralistische Positionen in aller Offenheit erörtert werden können.

Wir danken allen Referentinnen und Referenten sowie allen Teilnehmenden, die dazu beigetragen haben, daß das Seminar eine spannende Veranstaltung wurde. Insbesondere gilt unser Dank Ulrich Klemm, der uns bei Planung und Organisation kollegial und freundschaftlich half und durch seine Kompetenz im Bereich Ländlicher Erwachsenenbildung zum Profil dieses Seminars Wesentliches beisteuerte.

Das gilt auch für die Skizzen und Miniaturen des Thaddäus-Troll-Preisträgers Walle Sayer aus Horb, der in strenger und präzise komponierter Prosa die dörfliche Welt nie verklärt, sondern auf ihre ureigene Art im Akt des Erinnerns reduziert. Seine ländlichen Menschenbilder und Ortsbestimmungen sowie die inspirierende Postkartenserie "Wörter Zu Tirol - Parole Sul Tirolo - Paroles Sun Tirol", die das Ambiente des 3. Internationalen Kongresses "Bereiste Heimat" vom 28. - 31. Oktober 1995 auf Schloß Goldrain prägten, sollen den Blick für ländliche Lebenswelten schärfen.

Es bleibt zu hoffen, daß Seminar und Dokumentation dazu beitragen, Verkrustungen aufzureißen, Spannungen abzubauen, Begegnungen zu ermöglichen, den Dialog zu fördern und voneinander zu lernen. Denn nichts Geringeres steht auf dem Spiel als die Zukunft des Ländlichen Raumes.

 

Eugen Baacke Fachreferat  Öffentlicher Dienst

Siegfried Frech     Fachreferat    Didaktik politischer Bildung