Gedenkstättenarbeit

Auf dem Weg zu einer Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler

Forschungsstand - Quellen - Methode

 

VI. "Le Dompteur". Der Aussagewert eines einzelnen Verfahrens
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2. Die Auswertung eines NS-Verfahrens in der Spannung zwischen Theorie und Praxis

Neben das Problem der Repräsentativität eines solchen Verfahrens, das durch die Übersicht der bundesdeutschen Verfahren in Sachen KL Natzweiler und die Schilderung der Entstehungszusammenhänge dieser Verfahren deutlich wurde, treten eine Reihe zu beachtender Faktoren, die die Auswertung erschweren. Generell läßt sich aber feststellen, daß diese Quellen schon deshalb für den Historiker einen Glücksfall darstellen, als die Staatsanwaltschaften sowohl über finanzielle als auch rechtliche Mittel verfügen, die keiner historischen Forschungsstelle zustehen. Es ist zu bezweifeln, ob es Historikern möglich gewesen wäre, so viele Informationen und Zeugenaussagen aus acht verschiedenen Ländern zu sammeln. Davon abgesehen, daß die Kosten eines solchen Projektes die übliche Größe überschritten hätten, wäre die Zusammenarbeit mit den diversen Staatsanwaltschaften unmöglich gewesen: Rechtliche Mittel wie Rechtshilfeersuchen und Zwangsvorführungen bleiben der Justiz vorbehalten.

Der Strafrechtler Herbert Jäger schreibt über die historische Auswertung von NS-Prozessen:

Der Erkenntniswert solcher Prozesse (...) scheint mir gerade darin zu bestehen, daß sie Geschichte individualisieren, das heißt, jenen Punkt markieren, in dem sich Weltgeschichte mit einer ganz persönlichen Lebensgeschichte trifft und historische Kausalität, Zeitgeschichte und Kriminologie zu einer Einheit verschieben. Auf diese Weise tragen Prozesse dazu bei, die optische Täuschung, es handele sich bei solchen Verbrechen um ein transpersonales Geschehen, in das der einzelne nur als bedeutungsloses Partikel integriert wurde, rückgängig zu machen und die individuelle Verantwortlichkeit für Teilvorgänge zu fixieren 192.

Diese Beobachtung gilt für Vorermittlungs- und Ermittlungsverfahren gleichermaßen. Sie ist im Fall S. sehr deutlich zu beobachten: Die Verbrechen spielen sich scheinbar zwischen einem BV-Häftling und den "NN"-Häftlingen ab, die SS kommt nur im Hintergrund vor, ehemalige SS-Angehörige werden als Zeugen vernommen. Dies ergibt sehr schnell ein schiefes Bild. Es darf nicht vergessen werden, daß das von der SS geleitete Lager nicht nur die Bühne für die verbrecherischen Handlungen des großen Jacques darstellte. Die SS ermöglichte diese Verbrechen nicht nur, sondern sie provozierte sie sogar.

Die im Zentrum des Verfahrens stehende Frage nach der persönlichen Schuld des "Dompteurs" ist historisch nur insofern relevant, als sie Informationen über die Rolle der Funktionshäftlinge verspricht. So wird die Frage nach den Motiven des Beschuldigten zur Gratwanderung. Der Historiker ist in diesem Fall dem Drängen der erkenntnisleitenden Fragestellung der ermittelnden Behörden nach der juristischen Schuld in besonderem Maße ausgesetzt, da er bei der Untersuchung lediglich eines Falles nicht die Möglichkeit hat, die Eindrücke und Ergebnisse durch andere Verfahren zu relativieren. Allzuleicht erscheint die Gestalt des "Dompteurs" als Zentrum der Lagergeschichte oder wenigstens als Mittelpunkt der Geschichte der "NN"-Häftlinge - eine Bedeutung, die ihr nicht zukommt.

In den Publikationen, die sich mit dem Problem historischer Auswertungen juristischer Akten beschäftigen, stehen stets Prozeßakten im Mittelpunkt 193. In diesem Fall handelt es sich, wie geschildert, lediglich um ein Ermittlungsverfahren. Die wichtigen Unterlagen des Hauptverfahrens wie das Urteil fehlen. Vorhanden sind neben den Vernehmungsniederschriften eine Einlassung des Beschuldigten S. zu den einzelnen Tatvorwürfen sowie die Anklageschrift. Diese faßt die wesentlichen Ergebnisse der Ermittlungen zusammen und unterzieht die einzelnen Tatvorwürfe einer strafrechtlichen Würdigung. Darin nicht enthalten sind alle Hinweise aus den Zeugenvernehmungen, die nicht juristisch verfolgbar sind; dies ist der Fall, wenn es sich nicht um Mordverbrechen handelt oder wenn die Hinweise für eine Anklageerhebung nicht ausreichen. Es ist daher unerläßlich, auch die nicht in der Anklageschrift ausgewerteten Aussagen zu untersuchen. Darüber hinaus finden sich noch Schriftstücke der Staatsanwaltschaft wie etwa die Verfahrensübersichten und Schriftwechsel mit anderen Institutionen: sie geben Aufschlüsse nicht nur über den Verfahrensverlauf und die Aktivitäten der Staatsanwaltschaft, sondern auch über die Herkunft einzelner Beweisstücke. Dies ist im Fall S. besonders wichtig, da das Ermittlungsverfahren nicht in Ludwigsburg, sondern in Köln geführt wurde und die Zentrale Stelle nur mit den Kopien der wichtigsten Dokumente versehen wurde.

Die im II. Kapitel geschilderten Probleme bei der Auswertung schriftlicher Erinnerungen tauchen bei der Verwendung von Vernehmungsniederschriften als Quellen wieder auf. Vernommen wurden sehr oft Zeugen, die durch entsprechende Veröffentlichungen dem Gericht bekannt geworden waren, außerdem Zeugen, die bereits mit Aussagen in anderen Prozessen aktenkundig geworden waren, und solche, die durch ihre Tätigkeiten in den Amicales bekannt waren. Die bereits geschilderte Erinnerungs- und Erzählroutine führt gerade bei diesen Häftlingen zur "Anekdotisierung", der immer gleichen Reproduktion von erprobten Erzählmustern. Immer wieder tritt auch die Spannung zwischen individueller Erinnerung und kollektivem Gedächtnis zu Tage - dies ist insbesondere bei den über die Amicale ermittelten Zeugen der Fall, deren Erinnerungen sich streckenweise sehr aneinander orientieren.

Ein weiteres Problem ist das Verhältnis nichtdeutscher Häftlinge zum Land der Täter: mehrere nichtdeutsche ehemalige Häftlinge zu keiner Aussage bereit, als sie zwangsweise im Auftrag der deutschen Staatsanwaltschaft von den entsprechenden Stellen ihrer Länder vernommen werden sollten. Sie reagierten nicht auf Vorladungen und sagten, als man sie zwang, zumeist aus, daß sie nichts wüßten. Das Gros der Zeugen war indes kooperativ. Das Hauptproblem war, wie bei den schriftlichen Erinnerungen, das Gedächtnis. So sagte ein niederländischer Zeuge folgendes aus:

Ich habe in Natzweiler sehr viel mitgemacht und gesehen, aber mein Gedächtnis läßt mich im Stich und ich bin nicht in der Lage, Ihnen weitere konkrete Angaben zu Lasten Deutscher zu machen, da ich deren Namen entweder nicht gehört oder vergessen habe 194.

Dieses Vergessen ist natürlich in der langen Zeitspanne begründet, die zwischen dem Erleben und der Befragung liegt. Dennoch wird aus einzelnen Aussagen deutlich, daß der geschilderte aktive Vorgang des Erinnerns eben nicht einfach abrufbar ist:

Ich gebe diese Erklärung 37 Jahre nach den Ereignissen ab. Ich tue dies im Bemühen um moralische Ehrlichkeit und mit ungenauen Erinnerungen, und nachdem ich den Willen hatte, diese Periode zu vergessen [...]. Ich dachte nicht mehr daran, daß man 37 Jahre später diese [Namen; B.B.] erwähnen würde 195.

Das hier bereits anklingende aktive Vergessen, das Verdrängen der schmerzhaften Erinnerungen, wird in folgender Aussage sehr deutlich:

Ich muß ihnen dazu sagen, daß ich mich an meine Erlebnisse in diesem KZ-Lager fast gar nicht mehr erinnere. Ich habe nach dem Krieg erfolgreich versucht, alle Geschehnisse dieser Jahre aus meinem Gedächtnis zu streichen 196.

Der Zeuge konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, daß er unmittelbar nach dem Krieg bereits eine Aussage gemacht hatte, durch die die Justiz auf ihn aufmerksam geworden war.

Der große Unterschied zu den veröffentlichten Erinnerungen ehemaliger Häftlinge ist der Erinnerungszwang, der von der Justiz ausgeübt wird. Stellt für viele Autoren das Niederschreiben und Veröffentlichen ihrer Erlebnisse eine Bewältigungsstrategie dar, so kann die erzwungene Erinnerung für ehemalige Häftlinge, die das Erlebte verdrängt haben, eine psychische Bedrohung darstellen. Soweit es ihnen nicht gelang, sich der Vernehmung durch ein stereotypes "ich kann mich an nichts erinnern" zu entziehen, kann eine plötzliche und unkontrollierte Konfrontation mit dem Verdrängten und Unbewältigten bis zu einem psychischen, ja physischen Zusammenbruch führen. Bekanntestes Beispiel ist der vollständige Zusammenbruch des israelischen Schriftstellers Jehiel Dinur, als er im Rahmen des Eichmannprozesses mit Eichmann persönlich konfrontiert wurde 197. Auch bei den Vernehmungen in Sachen S. gibt es Hinweise auf solche Situationen; so bat ein niederländischer Zeuge die in Rechtshilfe agierende niederländische Staatsanwaltschaft, einen ehemaligen Mithäftling aus eben diesen Gründen zu schonen:

Sie erwähnen den Namen Jan K.. Er war ebenfalls Nacht und Nebel-Häftling in Natzweiler. Ich muß Ihnen dringend davon abraten, sich an Freund K. zu wenden. Er ist jetzt physisch und psychisch sehr verfallen und wird ein Gespräch mit Ihnen über dieses Thema nicht ertragen können 198.

Auch die räumliche und zeitliche Begrenzung der Lagererfahrung stellt ein Problem dar. Insbesondere die niederländischen und belgischen Häftlinge, die nach dem unter den Franzosen wütenden S. befragt wurden, konnten oftmals keine Informationen geben:

Sie nennen mir Namen.[...] Diese Namen sagen mir im Augenblick nichts. Sie müssen verstehen, daß all das schon so lange zurückliegt und daß all diese Gefangenen vermutlich keine Holländer waren, weshalb es dann mit ihnen auch wenig Kontakt gab. Die Holländer lernte ich im Lauf der Zeit zwar mit Namen kennen, nicht aber die Gefangenen anderer Nationalitäten. Mit ihnen kam man praktisch nicht in Kontakt. Mit den Franzosen, die sich im Lager befanden, hatte man überhaupt keinen Kontakt. Diese wurden vollständig abgeschieden von den anderen gehalten 199.

Es wurde im Zusammenhang mit der quellentheoretischen Problematik von Gerichtsquellen die Forderung erhoben, weitere quellenspezifische Entstehungszusammenhänge in die Interpretation dieser Quellen einzubeziehen. So wurde gefordert, daß die Rekonstruktion des "settings", eines aus der oral history übernommenen Begriffs, am Anfang einer solchen Analyse zu stehen habe 200. Das Setting ist der Entstehungszusammenhang eines Prozesses im weitesten Sinne. Dazu gehören nicht nur der juristische und politische Hintergrund eines Verfahrens und der Verfahrensverlauf, sondern auch die Rekonstruktion der Bedingungen, unter denen die einzelnen Aussagen gemacht wurden, die Beschreibung des Vorwissens der einzelnen Aussagenden und die Rekonstruktion der jeweiligen Aussagestrategie. Diese Forderung ist sinnvoll; sie ist aber nicht immer zu erfüllen. Zwar gelang es hier, die juristischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des bundesdeutschen Verfahrens gegen S. zu rekonstruieren, nicht aber die der tieferen "Quellenschichten", des Straßburger und des Metzer Prozesses. Die Analyse der einzelnen Aussagen nach Vorwissen und Strategie, nach Spannung zwischen kollektivem Gedächtnis und individueller Erinnerung ist dadurch erschwert, daß diese zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Ländern gemacht wurden. So wurden die luxemburger Zeugen mittels eines schriftlich zu beantwortenden Fragebogens befragt, die niederländischen Zeugen in ihren Wohnungen aufgesucht, die deutschen dagegen in die Räume der Staatsanwaltschaft bestellt und dort vernommen. Dies sind erhebliche Unterschiede, die sich auch in den Protokollen niederschlagen. Problematisch ist die Analyse der Vernehmungsniederschriften vor allem auch, weil es sich zu großen Teilen um Inhalts-, nicht um Wortprotokolle handelt. Diese sind seit 1976 auch in Verhandlungen unüblich 201. Derartige Protokolle geben die an den Vernommenen gestellten Fragen nicht wieder, diese lassen sich bestenfalls erschließen. Darüber hinaus liegt ein Großteil der Vernehmungsprotokolle lediglich in Übersetzungen vor 202. An eine an den Arbeiten des Sprachwissenschaftlers Ludger Hoffmann orientierte sprachwissenschaftliche Analyse der Kommunikationsstruktur bei einer Vernehmung ist unter diesen Umständen nicht zu denken 203. Sie muß ein wünschenswertes, aber undurchführbares Postulat bleiben.

 

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