Heinz Angstwurm

Ärztliche Aussagen zum Tod als rechtliche und politische Frage


Prof. Dr. med. Heinz Angstwurm ist Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik, Klinikum Großhadern (Direktor Prof. Dr. Th. Brandt) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Mit dem Tod verbinden sich naturwissenschaftliche, rechtliche, philosophische, theologische und mitmenschliche Fragen. Ihre verwickelte Vielfalt entspricht der umfassenden Bedeutung des Todes für uns und seinem grundsätzlichen Geheimnis. Um so genauer muß jede Einzelfrage abgegrenzt und beantwortet werden. Die folgenden Hinweise sollen einer erforderlichen Klarstellung dienen, besonders - aber nicht allein - im Hinblick auf das bevorstehende deutsche Transplantationsgesetz.

l. Die Bedeutung des völligen und endgültigen Hirnausfalls als Todeszeichen hängt nicht von seiner Bedeutung für die Transplantationsmedizin ab. Zwar gibt es die Meinung, der Todesbegriff und der Todeszeitpunkt seien den Bedürfnissen der Organübertragung angepaßt worden. Aber diese Vorstellung verkennt den Sachverhalt und seine Geschichte, überschätzt die ärztlichen Möglichkeiten und unterschätzt das ärztliche Verantwortungs-bewußtsein. Die unbegründete und letztlich auch unvernünftige Befürchtung, das Leben des einen könnte zur Rettung des anderen geopfert werden, läßt sich nicht allein mit Verstandesgründen, sondern zuletzt nur durch einwandfreies und unmißverständliches ärztliches Verhalten zerstreuen.

2. Es gibt nur einen Tod und nur einen Todesbegriff. Er kann nicht nur medizinisch oder nur für ein bestimmtes "Menschenbild" gelten. Das heißt weder, alle Menschen müßten von selbst den Todesbegriff verstehen, noch, alle Menschen müßten dasselbe Todesverständnis haben: Erkenntnisse, ihre Verbreitung und ihre Anerkennung brauchen Zeit. Das "Todesverständnis" umfaßt sowohl die Bedeutung wie auch den Zustand des Todes. Fragen nach der Bedeutung des Todes müssen als Fragen nach dem Sinn von Philosophie und Theologie beantwortet werden; ihre Antworten unterliegen dem Urteil der Geschichte und dem Urteil des einzelnen denkenden Menschen. Fragen nach dem Tod als Ende des Lebens und als Zustand müssen von der Biologie und von der naturwissenschaftlichen Medizin beantwortet werden; ihre Antworten unterliegen erfahrungswissenschaftlicher Prüfung. Keiner der beiden Fragenbereiche läßt einen Handlungsspielraum und keiner unterliegt daher ethischer Beurteilung.

3. Der Tod ist unerforschlich und unbegreiflich. Er zeigt sich als Tod des Mitmenschen. Den eigenen Tod kann jeder Mensch nur erleiden, nicht erleben und nicht erfahren. Begrifflich läßt sich der Tod nur durch möglichst sorgfältige Naturbeobachtung beschreibend erfassen.

Die Zuständigkeit der Naturwissenschaft für die Begriffsbestimmung des Todes als Ende des Lebens und damit für die Todesfeststellung durch Nachweis des Verlustes der Merkmale, die das einzelne Lebewesen als Lebewesen kennzeichnen, ergibt sich aus der Sache selbst. Der Mensch ist ein höherentwickeltes Lebewesen. Dies begründet die Zuständigkeit zunächst der Medizin als angewandter Naturwissenschaft für die Begriffsbestimmung und die Feststellung auch seines Todes.

Aber auch Philosophie und Theologie befassen sich mit dem Menschen. Daher sind auch sie bei naturwissenschaftlichen Aussagen zu seinem Tod gefragt. Dabei müssen sie freilich beachten, daß sie wie die Erfahrungswissenschaften die Naturgegebenheiten des Todes nicht ändern, sondern nur hinnehmen können, außerdem daß der geistige Bereich des Menschen nicht losgelöst von seinem Körper vorkommt, genau gesagt: nicht ohne seine Hirntätigkeit. Daher sollen, ja müssen naturwissenschaftlich-medizinische Aussagen zum Tod des Menschen geisteswissenschaftlich auf ihre Schlüssigkeit überprüft, können aber nicht ausschließlich geisteswissenschaftlich bezweifelt oder gar widerlegt werden. Andererseits brauchen die naturwissenschaftliche Medizin, das Recht und die Politik das philosophische, das ethische und das theologische Wort bei den Fragen, wer wann und wie mit dem Körper eines anderen Menschen umgehen dürfe, könne und müsse. Zwar werden diese Fragen von Brauch, Sitte, Gesetz und Recht beantwortet, aber nicht ein für allemal, sondern abhängig vor allem von der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis und Beurteilung.

4. Die Bedeutung des völligen und endgültigen Hirnausfalls als Todeszeichen aller höherentwickelten Lebewesen ist naturwissenschaftlich, beim Menschen zugleich anthropologisch begründet. Die Einzelheiten sind auch für medizinische Laien verständlich in internationalen und in deutschsprachigen Veröffentlichungen dargelegt, so daß hier zusammengefaßt werden darf:

Mit dem völligen und endgültigen Ausfall der gesamten Hirntätigkeit fehlen dem entsprechend entwickelten Lebewesen die Lebensmerkmale, die es als das jeweilige Lebewesen kennzeichnen, dem Menschen zudem und zugleich die notwendige und unersetzliche körperliche Grundlage für seinen Geist. "Geist" bezeichnet in diesem Zusammenhang alles, was sich unter allen Lebewesen allein beim Menschen findet, einschließlich seiner Personalität. Der Tod des Menschen wie aller anderen höherentwickelten Lebewesen tritt entweder mittelbar ein, indem der endgültige und nicht behebbare Herzstillstand zum Tod über den Tod des Gehirns führt, oder unmittelbar, wenn bei bestimmten Schäden und Krankheiten das Gehirn schon vor dem Herzstillstand abstirbt. Diese zweite Möglichkeit kommt nur selten vor und wird nur unter intensivmedizinischen Bedingungen deutlich und praktisch wichtig, weil nur dabei der sonst in kürzester Zeit dem Hirnausfall folgende Herzstillstand verzögert werden kann. Auf diese Weise wird dann auch der Unterschied zwischen dem Menschen als dem Ganzen, als Lebewesen Mensch, und dem ganzen Menschen als der bloßen Summe seiner Körperteile und ihrer Wechselbeziehungen erkennbar.

5. Der Todesbegriff konnte und kann sich nicht ändern. Todeszeichen lassen sich nicht erfinden und festsetzen, sondern nur auffinden und feststellen. Der Todesbegriff hat sich auch nicht dadurch geändert, daß durch die Entwicklung der Intensivmedizin ein sonst wenig beachtetes sicheres Todeszeichen - der völlige und endgültige Hirnausfall - praktisch wichtig geworden ist. Er läßt wie jedes andere sichere Todeszeichen den Tod des Menschen unabhängig von seiner Religion, seiner Weltanschauung und seiner Kultur erkennen, weil auch dieses Todeszeichen nur aus den allen Menschen gemeinsamen körperlichen Gegebenheiten abgeleitet ist. Der Todeszeitpunkt wurde und wird nicht dadurch vorverlegt, daß der Tod unter bestimmten Umständen früher als ehedem nachgewiesen werden kann. Festgestellt wird wie eh und je nicht der Todeszeitpunkt, sondern der Todeszustand.

6. Rechtlich wichtig erscheint von dem Gesagten, zumindest aus ärztlicher Sicht: Über Naturgegebenheiten kann man nicht abstimmen. Der Gesetzgeber muß sie jedoch dann ausdrücklich und unmißverständlich beschreiben, wenn sie zu Eingriffen in den Körper führen können und für die Verfügung darüber wichtig, aber noch nicht allgemein bekannt sind. Der Todeszeitpunkt ist rechtlich so wichtig, daß entschieden werden muß, welche Uhrzeit dafür gelten soll, wenn er sich nicht naturwissenschaftlich-medizinisch ermitteln läßt. Ärztlich wird dafür weltweit die Uhrzeit verwendet, zu der erstmals der völlige und endgültige Hirnausfall nachgewiesen ist. Dieses Vorgehen wird auch für die gesetzliche Regelung in Deutschland vorgeschlagen.

7. Gesundheitspolitisch stellt die Bedeutung des völligen und endgültigen Hirnausfalls als Todeszeichen des Menschen nicht nur eine naturwissenschaftlich-medizinische Erkenntnis und Aussage dar. Vielmehr ist sie auch von den beiden größten Christlichen Kirchen wiederholt anerkannt worden: 1985 und 1989 auf zwei Symposien der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften in Rom, 1990 in der von der Deutschen Bischofskonferenz und dem Rat der Evangelischen Kirche Deutschlands gemeinsam herausgegebenen Schrift "Organtransplantationen", 1995 in der Charta des Päpstlichen Rats für die Seelsorge im Krankendienst und im Deutschen Katechismus für Erwachsene, außerdem in den Stellungnahmen beider Kirchen bei der Anhörung des Ausschusses für Gesundheit des Deutschen Bundestags am 28.06.95. Sie liegt auch allen bereits rechtskräftigen Transplantationsgesetzen europäischer und außereuropäischer Länder zugrunde, unabhängig von der jeweils überwiegenden Konfession oder Religion.

Der erste Entwurf eines Transplantationsgesetzes der Bundesrepublik ist nicht an der Bedeutung des völligen und endgültigen Hirnausfalls als Todeszeichen gescheitert. Da die Beschreibung des völligen und endgültigen Hirnausfalls als Todeszeichen und die Grundsätze der Transplantationsmedizin keine parteipolitischen Fragen darstellen, ist ärztlich zu begrüßen, daß der jetzige Gesetzesentwurf von den Fraktionen der Regierung und von der größten Oppositionsfraktion gemeinsam getragen und daß für die parlamentarische Abstimmung kein Fraktionszwang vorgesehen wird.

8. Mitmenschlich bedeutet der völlige und endgültige Hirnausfall, daß der betroffene Mensch wörtlich und im übertragenen Sinn nichts mehr wahrnehmen, empfinden und fühlen und von sich aus nichts mehr bewirken, daß er kein wie auch immer geartetes Bewußtsein haben kann, andererseits aber nicht deshalb zum Gegenstand beliebiger Willkür oder sonst völlig rechtlos geworden ist. Der Körper des toten Mitmenschen war der Träger seiner Persönlichkeit und ist und bleibt geschützt durch die Pietät wie durch das Recht. Ein Gesetz kann dies einschärfen, muß es aber nicht neu oder gar erstmals festlegen.

Der Arzt, der sich den Menschen zuwendet, denen der Verstorbene nahegestanden und etwas bedeutet hat, muß berücksichtigen, daß der Tote beim völligen und endgültigen Hirnausfall nicht das bekannte Aussehen einer Leiche hat. Dies muß taktvoll, aber unmißverständlich erklärt werden. Das Gespräch mit Angehörigen läßt sich als Aufgabe der Menschlichkeit nicht gesetzlich regeln. Gleichwohl ist nicht nur zu begrüßen, sondern voll zu unterstützen, daß der Gesetzesentwurf ausdrücklich die Einsichtnahme der Familie in die Unterlagen der Todesfeststellung vorsieht, ein Beitrag zur Förderung des Vertrauens über den unmittelbaren Bereich hinaus.

Zusammenfassend kann man sagen: Der Entwurf des deutschen Transplantationsgesetzes geht in der Beschreibung des Todes wie in grundsätzlichen Fragen der Transplantationsmedizin von den in der Bundesrepublik seit über 20 Jahren bewährten und von den weltweit üblichen Regelungen aus. Auf diese Weise wird klar, daß die Transplantationsmedizin sich schon bisher an Recht und Sitte gehalten hat. Ihr Schicksal aber, die Annahme oder die Ablehnung durch die Gesellschaft, hängt wie bisher vor allem davon ab, daß ihr Anliegen den Menschen verständlich gemacht und ärztlich glaubhaft vertreten wird.