Baustein

"Zwischen Romantisierung und Rassismus"


Sinti und Roma
600 Jahre in Deutschland

als Bausteine ausgearbeitet

Hrsg: LpB, 1998



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Inhaltsverzeichnis 


 

Daniel Strauß
„da muß man wahrhaft alle Humanität ausschalten..."
Zur Nachkriegsgeschichte der Sinti und Roma in Deutschland


Die nationalsozialistische Zigeunerpolitik"1 hatte mit dem Auschwitz-Erlaß Himmlers vom 16. Dezember 1942 die endgültige und totale Vernichtung der Minderheit eingeleitet, und sie wurde mit den nachfolgenden Deportationen praktisch durchgeführt. Sie endete danach keineswegs, sondern wurde von den Instanzen des NS-Regimes bis zur Befreiung durch die Alliierten Streitkräfte weiterverfolgt. So ordnete das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS im Herbst 1944 noch die Entlassung von SS-Angehörigen an, die mit einer Jüdin oder Zigeunerin verheiratet seien, während per Verfügung der Parteikanzlei vom 9. Dezember 1944 Juden und Zigeuner" und Mischlinge" zum Volkssturm oder Einheiten der Wehrmacht herangezogen wurden, um so - vorläufig von der Endlösung verschont - für den Endsieg der Herrenmenschen" kämpfen zu müssen.2 Nach der Befreiung aus den Lagern waren mehrere hunderttausend Sinti und Roma aus ganz Europa Opfer der NS-Vernichtungspolitik geworden.

Um sich ein genaues Bild von den Auswirkungen des Völkermords an den Sinti und Roma - Genozid, Zwangsarbeit, Verfolgungen, medizinische Experimente, eugenische Maßnahmen und der Zerstörung großer Teile ihrer Kultur - nach dem Kriegsende machen zu können, ist es von besonderer Bedeutung, den Charakter und den Modus der nationalsozialistischen Zigeunerpolitik" in seiner Komplexität ineinandergreifender und/oder konkurrierender Instanzen und Institutionen zu verstehen, die sich nach Kräften mühten, Städte, Kommunen, Behörden, Schulen etc. juden- und zigeunerfrei" zu machen.3 Gerade die sich ergänzenden bzw. sich gegenseitig überbietenden Radikalisierungs- und Entkoppelungsprozesse der Administrationen und Institutionen scheinen die furchtbare Gründlichkeit der Vernichtungsmaßnahmen bewirkt zu haben: Vom rassistischen Diskurs der Wissenschaften, der Förderung rassenhygienischer Forschungen" und sogenannter Rassengutachten" durch die deutsche Forschungsgemeinschaft, den eugenischen Maßnahmen der Gesundheitsämter, der polizeilichen Totalerfassung durch die Zigeunerleitstellen", der Amtshilfe der christlichen Kirchen bis hin zu jenen Organisationen und Tätern, die unmittelbar an der Deportation und Ermordung beteiligt waren.

Die Analyse dieses komplexen Prozesses ist nicht nur für das Begreifen der NS-Vernichtungspolitik wesentlich, sondern sie ermöglicht ebenso ein Verständnis für die behördlichen, wissenschaftlichen, politischen, juristischen Diskurse und Praktiken, mit denen die überlebenden Sinti und Roma, die aus den Konzentrationslagern nach Deutschland zurückkehrten, konfrontiert wurden.4 Obwohl die Geschichte behördlichen und politischen Handelns gegenüber den Sinti und Roma im Nachkrieg noch nicht hinreichend erforscht worden ist, kann man ohne Übertreibung feststellen:

  • die Planer, Organisatoren und Vollstrecker des Völkermords an den Sinti und Roma blieben ungestraft und konnten nach dem Krieg ihre Karrieren unbehelligt fortsetzen; beispielsweise Paul Werner, SS-Standartenführer und für die Planung der Maideportationen zuständig, machte bis in die 60er Jahre hinein Karriere als Ministerialbeamter in Baden-Württemberg; Robert Ritter, Leiter des Rassenhygienischen Instituts, der den Völkermord mit vorbereitete, leitete nach 1945 bis zu seinem Tod 1951 in Frankfurt die Fürsorgestelle für Gemüts- und Nervenkranke und Joseph Eichberger, der im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) die Zigeunertransporte" organisierte, wurde Leiter in der Landfahrerzentrale" im Landeskriminalamt in München.
     
  • die personelle Kontinuität und die strukturellen Grundlagen der NS-Zigeunerpolitik wurden nicht hinreichend gebrochen und abgeschafft; vielmehr leugneten Juristen bis zum BGH den Völkermord an den Sinti und Roma und übernahmen in ihren Urteilen explizit NS-Sprachregelungen; relativierten Mediziner und Amtsärzte die physischen und psychischen Verfolgungs- und Gesundheitsschäden der Überlebenden; nahmen Polizeibeamte Sondererfassungen der Sinti und Roma vor und setzten die ethnische Diskriminierung fort und schließlich versäumten es die Gesellschaftswissenschaften, den Völkermord an den Sinti und Roma aufzuarbeiten, über den Antiziganismus aufzuklären und die gesellschaftliche Ausgrenzung zu analysieren.
     
  • der gesellschaftliche Antiziganismus und die Zigeunerbilder" lebten in den Köpfen und den Amtsstuben weiter und dienten zur Rechtfertigung gegenwärtiger und künftiger Ungleichbehandlung und Ausgrenzung der überlebenden Sinti und Roma, die nun mit zweifelhaften rechtsstaatlichen Mitteln praktiziert wurden.

Zur sozialpolitischen Ausgrenzung

Die Städte und Kommunen widersetzten sich mit allen Mitteln einer Rückkehr und der Integration der überlebenden Sinti und Roma. Ohne eine Spur von Unrechtsbewußtsein schlugen den Überlebenden Vorurteile und offene Ablehnung entgegen, als sie in ihre alte Heimat zurückkehrten. Jede Familie hatte einen Großteil ihrer Angehörigen in den Konzentrationslagern verloren; alle waren härtesten Torturen ausgesetzt gewesen. Jetzt waren sie ausgezehrt, krank, verletzt, traumatisiert und gedemütigt mit leeren Händen zurückgekommen. Wie wurden sie empfangen?

Nach Kriegsende sind wir mit Pferd und Wagen nach Karlsruhe gefahren. Dort haben wir unsere Verwandtschaft gesucht. Und dann sind auch welche nach Gräfenhausen rüber. Aber unsere Hütten waren weg, die standen nicht mehr. Alle unsere Sachen waren weg, unsere Möbel ..." so beschrieb Theodor Weiss seine Rückkehr aus Polen nach Karlsruhe.5 In Gräfenhausen (Pfalz) waren die Sinti und Roma nicht willkommen. Der dortige Bürgermeister, der sich schon aktiv an der Mai-Deportation 1940 beteiligt hatte, schrieb 1952 folgendes an den Landrat des Kreises Bad Bergzabern: Ich bin strikt dagegen, daß die Zigeuner wieder in Dorfesnähe angesiedelt werden, es würden wieder die gleichen Zustände wie vor 1939 entstehen. Die Bürger meiner Gemeinde müssen hart um ihr tägliches Brot kämpfen und die Zigeuner wollen sich auf Kosten anderer ernähren; da muß man wahrhaft alle Humanität ausschalten (...) Abschließend möchte ich nochmals betonen, daß ich eine Niederlassung der Zigeuner (...) nicht dulden und dies mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, zu verhindern suche."6

Während hier politische Funktionsträger ihren offenen Haß gegenüber den Opfern in kommunalpolitische Machtbekundungen transformierten, waren andererseits behördliche Sachwalter damit beschäftigt, das alte NS-Unrecht in neue Verordnungen zu übersetzen, wie beispielsweise der Hamburger Kriminalinspektor Jehring, der sich nach Kriegsende offen auf NS-Verordnungen gegen die Zigeunerplage" bezog: Im September 1945 kam er mit dem Leiter der Zentralbetreuungsstelle für ehemalige KZ-Häftlinge bei der Hamburger Polizei überein, dem Rechtsausschuß des Senats Vorschläge zur Zigeunerpolitik zu unterbreiten, die dem Festsetzungserlaß vom 17. Oktober 1939 nachgebildet waren. Danach sollten die Zigeuner in Hamburg so untergebracht werden, daß sie von der Polizei ständig beobachtet" werden könnten. Falls sie versuchen sollten, ihre Unterbringungsstelle" zu wechseln, seien sie - ebenso wie bettelnde oder wahrsagende Zigeuner - als Asoziale" in Zwangsarbeiterlagern" zu internieren.7

Auch die Gesundheitsbehörden griffen auf NS-Gesetze und Verordnungen zurück.8 Bei Beamten, welche die zurückkehrenden Opfer der Lager zu betreuen hatten, waren antiziganistische Ressentiments ebenso virulent; sie bemühten sich nach Kräften berechtigte Ansprüche und Unterstützungsleistungen zu mindern oder abzulehnen. Krausnick schreibt hierzu, bereits 1945 wurden die Sinti bei der `Soforthilfe', welche die Gemeinden für NS-Opfer zu leisten hatten, zu Verfolgten dritter Klasse degradiert. (...) Im Protokoll einer Konferenz der Vorsteher der KZ-Betreuungsstellen vom 16. September 1945 heißt es: `Vom Vertreter von Karlsruhe wurde auf das Zigeunerunwesen (!) hingewiesen. (...) Der Vertreter von Oldenburg (Polizeipräsident) (...) gab bekannt, daß auch dort die Zigeuner von einer KZ-Betreuung ausgeschieden würden. Auch dort würden die Zigeuner, sofern sie unterstützungsbedürftig sind, nach Klasse 3 (allgemeine Fürsorge) betreut.'"9

Ohne Fürsprecher in Politik und Administration wurden die überlebenden Sinti und Roma - konfrontiert mit dem Fortdauern der NS-Zigeunerpolitik", mit dem Haß auf Zigeuner", mit der immensen Abwehr von Schuld auf seiten der Mehrheitsgesellschaft, mit der Verleugnung des Völkermordes und mittellos - in eine bis heute bestehende Spirale von Ausgrenzung und Diskriminierung gedrängt. In den darauffolgenden Jahren begann eine `zweite Verfolgung': die erneute Entrechtung der Überlebenden. Rassensondersteuern, von den Nazis geraubtes Vermögen, beschlagnahmte Wohnungseinrichtungen, Musikinstrumente, Werkzeuge, Wohnwagen, Grundstücke und Häuser, Schmuck und Wertgegenstände wurden nur selten und unzureichend zurückerstattet. Ausbildungsschäden (infolge des in der NS-Zeit untersagten Schul- und Hochschulbesuchs) wurden generell ignoriert. Jahrelange Sklavenarbeit für die Industrie blieb bis heute unentschädigt."10

Während gegenüber den überlebenden Juden auf Grund des Drucks seitens des internationalen Auslandes und des Staates Israel das offizielle Bedauern für die Nazi-Verbrechen ausgedrückt und seit 1948 förmlich praktiziert wurde, erfuhren die Sinti und Roma keine staatliche Anerkennung der gegen sie verübten Verbrechen. Ihnen gegenüber setzten sich ungebrochen administrative Strukturen der Ausgrenzung und Diskriminierung durch, wie besonders an der Arbeit der Polizei zu erweisen ist.

Zur polizeilichen Überwachung, Diskriminierung und Erfassung nach 1945

In keiner Behörde wurden die personelle Kontinuität und die strukturelle Organisation so ungebrochen fortgeschrieben wie bei der Polizei. Kaum einer der Hauptverantwortlichen für den Völkermord an den Sinti und Roma wurde zur Rechenschaft gezogen. Im Gegenteil, das System der Erfassung, der Ungleichbehandlung und Diskriminierung konnte nach 1945 weiter arbeiten. In das System der bundesrepublikanischen Zigeuner-Bekämpfung" wurden viele der Beamten, die während des Dritten Reiches" im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ihre Erfahrungen bei der Zigeuner-Verfolgung" gesammelt hatten, übernommen.11 Die polizeiliche Totalerfassung der Überlebenden wurde zunächst wieder im Landeskriminalamt in München mit altem Personal weiterbetrieben, das vor 1945 für die Deportation der Sinti und Roma aus Bayern zuständig gewesen war: Hans Eller, Georg Geyer, August Wutz12 und Joseph Eichberger, der im RSHA die Deportation von Sinti und Roma organisiert hatte. Er wurde zum Leiter der Zigeuner"-Abteilung berufen13. Die Beamten setzten mit den alten Rassenakten aus Berlin - altem Nazi-Aktenmaterial, Rassengutachten", Deportationsunterlagen, Merkmalskarteien und sogar dem Verzeichnis der Konzentrationslager-Nummern14 - und unter direkter Anwendung der NS-Ideologie die erneute Sondererfassung und ethnische Diskriminierung fort. In den sechziger Jahren bauten darauf die anderen Landeskriminalämter (LKA) und das Bundeskriminalamt (BKA) in verstärktem Maße auf. Die alten Firmen in neuem Gewand nannten sich nun Landfahrerzentralen". In Karlsruhe etwa wurde Leo Karsten (s. S. 33 in diesem Band) Leiter der Landfahrerpolizeistelle" der Landespolizei.15

Durch die Aufhebung der Gesetze der Weimarer Republik und des Dritten Reiches" durch die Alliierten war die Rechtsgrundlage für eine polizeiliche Erfassung der Minderheit weggefallen. Auf Betreiben jener Beamten wurde im bayerischen Landtag 1953 die Landfahrerordnung" verabschiedet, die dem alten Zigeunergesetz", das die Alliierten 1947 aufgehoben hatten, im wesentlichen entsprach. Sie wurde erst 1970 wegen Grundgesetzwidrigkeit wieder aufgehoben16.

In der personellen und strukturellen Reorganisation der NS-Zigeunerpolitik" in den polizeilichen Aktivitäten nach 1945 gegenüber den überlebenden Sinti und Roma werden komplexe exekutive und legislative Bearbeitungsstrategien deutlich, die juristische, medizinische, sozialpsychologische, politische, behördliche und ethnologische17 Diskurse umfassen: vom Richter über den Amtsarzt bis zum Zigeunerexperten"; sie alle machten die überlebenden Sinti und Roma auf der Grundlage gesellschaftlicher Nicht-Anerkennung und antiziganistischer Ressentiments zu Objekten behördlicher Interventionen. Diese vielfältigen Aktivitäten einer geplanten rechtlichen, sozialen und politischen Ausgrenzung können nicht einfach als eine mißlungene Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft gelten; vielmehr sind sie als eine gezielte, aktive Desintegrationspolitik gegenüber den Opfern der Vernichtungspolitik zu benennen.

Legitimiert wurden diese Maßnahmen mit rassistischen Vorurteilen und antiziganistischen Ressentiments. So betrieben die Landfahrerzentralen" nicht nur die Totalerfassung der überlebenden Sinti und Roma mittels der NS-Akten und polizeilicher Razzien, sondern sie führten auch insbesondere in der polizeilichen Ausbildung und Schulung rassistisches Denken weiter - vorgetragen durch ehemaliger Zigeunerexperten" aus dem RSHA sowie aus dem Umkreis der Rassehygieniker" und Zigeunerforscher", wie beispielsweise Hermann Arnold.18 In Polizeizeitschriften, bei Arbeitstagungen und Schulungen wurden die Erfassungsmaßnahmen perfektioniert und die antiziganistischen Ressentiments stereotyp wiederholt. Hier finden sich nicht nur antiziganistische Vorurteile gegenüber den Sinti und Roma wie etwa in der baden-württembergischen Polizeizeitung von 1949: Der echte Zigeuner (...) neigt zum Bettel, Diebstahl und Betrug und will ohne ordentliche Arbeit auf Kosten anderer leben"19 oder wie vom baden-württembergischen Oberwachtmeister Gerhard Hendsch 1950 in der in Frankfurt erscheinenden `Polizeipraxis': Sein (des Zigeuners D.S.) Handeln ist immer instinktiv (...) So verschieden die Zigeuner von anderen Menschen sind, so ähnlich sind sie auf der ganzen Welt untereinander. Wer ein Dutzend von ihnen kennt, der kennt sie alle"20. Sondern wir finden auch explizit rassistische Stereotype, die zu der menschenverachtenden Ideologie des NS gehören: So schrieb Hans Bodlée, Leiter einer Sonderkommission in Düsseldorf 1962 unter dem Titel Diebische Landfahrer" folgendes: Bei der zur Beobachtung zur Verfügung stehenden Personengruppe handelte es sich um (...) Zigeunermischlinge mit Elternteilen deutschblütiger, jüdischer, aber auch kombinierter Zusammensetzung, letztlich also Mischvolk aus drei Blutstämmen, bei denen - biologisch unterstellbar - ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit, Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigung usw.)."21

1967 schließlich gab das Bundeskriminalamt ein Schulungshandbuch heraus, das man als eine wissenschaftliche Zusammenfassung polizeilicher Rassenideologie" bezeichnen könnte.22 Eine solche polizeiliche Ausbildung konstruierte nachhaltig eine Form rassistisch verzerrter Wahrnehmung der Sinti und Roma auf der Basis eines prinzipiellen Verdachts: alle Sinti und Roma gelten als potentielle Straftäter; folglich war und ist in der Logik der Polizei eine möglichst umfangreiche Erfassung, erkennungsdienstliche Behandlung und Überwachung der gesamten Gruppe offenbar das nächstliegende.

Die deutschen Sinti und Roma wurden durch die antiziganistischen Stereotype, die insbesondere noch durch das fehlende Unrechtsbewußtsein und die Verdrängung des Zivilisationsbruchs von Auschwitz unterlegt waren, seitens der behördlichen, wissenschaftlichen Praxis und derjenigen der Verbände regelrecht isoliert.

Zur Verhinderung der Wiedergutmachung

Es dürfte daher kaum verwundern, daß angesichts der unübersehbaren Kontiunitätslinien der NS-Zigeunerpolitik" im Nachkriegsdeutschland den anspruchsberechtigten Sinti und Roma ihre Wiedergutmachungszahlungen vorenthalten wurden. Diese Ausgrenzung markiert einen Eckpfeiler bundesrepublikanischer Desintegrationspolitik gegenüber den Sinti und Roma. Ausgebürgert, enteignet und mittellos kehrten die Überlebenden in ihre Heimat zurück. Ihre zerstörte soziale und ökonomische Existenz eines früher funktionierenden Gewerbes konnte meistens nicht mehr aufgebaut werden. Aufgrund der gesundheitlichen und psychosozialen Folgen der KZ-Haft waren viele der Überlebenden nicht mehr in der Lage eine Arbeit zu verrichten.23 Angesichts der ohnehin schwierigen ökonomischen Lage im Nachkrieg kann die Situation der Minderheit nur als absolut desolat bezeichnet werden. Entschädigungsleistungen wären in dieser Lage nicht nur eine moralische Anerkennung, sondern vielmehr eine notwendige Grundlage künftiger Existenzsicherung gewesen. Allein, sie blieben aus.

Bereits im Februar 1950 gab der Finanzminister von Baden-Württemberg mit seinem Runderlaß E19 folgende Anweisung an die Wiedergutmachungsbehörden heraus, den Rose (1987:49) im folgenden zitiert: Die Prüfung der Wiedergutmachungsberechtigung der Zigeuner und Zigeunermischlinge (So der alte Nazi-Jargon R.R) nach den Vorschriften des Entschädigungsgesetzes hat zu dem Ergebnis geführt, daß der genannte Personenkreis überwiegend nicht aus rassischen Gründen, sondern wegen seiner asozialen und kriminellen Haltung verfolgt und inhaftiert worden ist. Aus diesen Gründen ordnen wir hiermit an, daß Wiedergutmachungsanträge von Zigeunern und Zigeunermischlingen zunächst dem Landesamt für Kriminalerkennungsdienst in Stuttgart zugeleitet werden. Das Landesamt Stuttgart wird seine Ermittlungen in Zusammenarbeit mit dem Zentralamt für Kriminalidentifizierung und Polizeistatistik in München (der Landfahrerzentrale", R. R.) und der Kriminalhauptstelle, Landfahrerpolizeistelle in Karlsruhe durchführen."

Solche und ähnliche ministerielle Anweisungen entstanden nach 1945 vor allem auf Betreiben derjenigen Polizeibeamten, die unter Himmler im RSHA für die Deportationen verantwortlich waren.24 Das hatte ernste Folgen für die Betroffenen; Romani Rose dokumentiert ein Beispiel: Als Anna Eckstein 1951 in Karlsruhe einen Antrag auf Wiedergutmachung stellt, wird sie von der Kriminalpolizei vorgeladen und steht plötzlich vor Leo Karsten, dem ehemaligen SS-Mann und Leiter der `Dienststelle für Zigeunerfragen' im Berliner Polizeipräsidium. (...) Wie damals wird sie erkennungsdienstlich behandelt. (...) In den `alten Zigeunerakten' finden sich auch ihre Deportationsnummer und sämtliche Angaben über ihre Familie. Am Ende wird Anna Ecksteins Antrag mit der Bemerkung abgelehnt, daß sie im Mai 1940 ja doch lediglich `aus Sicherheitsgründen' nach Polen `evakuiert' worden sei".25

Die Wiedergutmachungsämter hatten sich für die erforderlichen Gesundheitsuntersuchungen an Ärzte und Gutachter gewandt, an die Sinti und Roma furchtbare Erinnerungen hatten; viele waren an den rassehygienischen Untersuchungen beteiligt gewesen oder vertraten biologistische Erklärungsmodelle. Sie traten bis in die sechziger Jahre hinein in Wiedergutmachungsverfahren als Gutachter auf. Ihre Ablehnungsstrategien variierten z.B. darin, daß Verfolgungsschäden als anlagebedingt"26 zurückgewiesen wurden oder indem regelmäßig eine verfolgungsbedingte Erwerbsminderung von weniger als 25% bescheinigt wurde. In diesen Fällen konnten die Behörden Renten oder Vergleichszahlungen für Gesundheitsschäden ablehnen27.

Das antiziganistische Skandalurteil des Bundesgerichtshofes (BGH) vom Januar 1956 wies die Ansprüche einer Überlebenden ab, indem ihre Deportation als Umsiedlung" gewertet wurde, die keine nationalsozialistische Gewaltmaßnahme im Sinne des §1 des Bundesentschädigungsgesetzes darstelle. In der Urteilsbegründung wird der antiziganistische Gehalt offenkundig: Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist."28 Bis 1963 hatte das Urteil des BGH, das die rassische" Verfolgung der Minderheit vor 1943 ausgeschlossen hatte, Bestand. Dann wurde es nuanciert verändert: im Einzelfall könnten für die Verfolgung der Sinti und Roma nun schon ab Dezember 1938 rassische Gründe mit ursächlich" gewesen sein29. Der Bundestag 1965 eröffnete durch eine entsprechende Gesetzesänderung eine erneute Antragsmöglichkeit für die Zigeuner, deren Entschädigungsanspruch für die zwischen 1938 und 1943 erlittene Verfolgung aufgrund des BGH-Urteils von 1956 rechtskräftig abgelehnt worden ist, ..."30

Solchermaßen höchstrichterlich beurteilt, verwundert es nicht, daß viele überlebende Sinti und Roma, die bereits durch die NS-Behörden erfaßt, schikaniert, entrechtet worden waren, den Glauben an Gerechtigkeit verloren. Sie scheuten eine erneute behördliche Erfassung oder amtsärztliche Untersuchung und lehnten es ab, ausgerechnet von denjenigen beurteilt zu werden, die mitverantwortlich am Völkermord und an ihrem Leid waren. Wer von den überlebenden Sinti und Roma noch lebte, sich im komplizierten Paragraphendschungel auskannte und nicht völlig entmutigt oder bereits mit sittenwidrigen Vergleichen abgespeist worden war, hatte noch eine knappe Frist von einem Jahr für eine Wiederaufnahme eines Entschädigungsverfahrens. Wer sich dennoch in diese zermürbenden Verfahren begab, mußte - sogar als Auschwitz-Häftling - bis in die 80er Jahre hinein mit ablehnenden Entscheidungen rechnen. Bis heute liegen noch Wiedergutmachungsanträge vor, über die nicht abschließend entschieden ist.

Während es für die meisten Überlebenden nahezu unmöglich war, ihre Verfolgung detailliert mit Dokumenten zu belegen, arbeiteten die Behörden mit den ehemaligen NS-Akten, in denen umfangreiche Belege über die Personen, Familien, über administrative Maßnahmen, ihre Kriminalisierung und Entrechtung vermerkt waren. Den Opfern wurden diese Akten nicht zugänglich gemacht. Sie gelten offiziell als verschwunden, verloren, verbrannt oder ausgesondert"; tauchen bisweilen auch unvermutet wieder auf, so 1992 beispielsweise in Köln, als ca. 1000 Akten an das Hauptstaatsarchiv in Düsseldorf weitergeleitet wurden.31

Als die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma ab 1979 mit einer Kundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen und besonders 1980 mit einem Hungerstreik im KZ Dachau zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit fand, veranlaßte dies den Bundestag 1981, eine außergesetzliche Regelung in Form einer Pauschalentschädigung von bis zu DM 5.000,- für bisher noch nicht entschädigte und noch lebende Verfolgte des NS-Regimes zu treffen: Die sogenannte Härteregelung", ein Fond, über den der Bundesfinanzminister nach den vom Parlament festgelegten Richtlinien entscheidet. Die Härteregelung" von 1981 schließt aber von den Nazis verfolgte Sinti und Roma, die bereits vom alten Entschädigungsgesetz wegen den NS-Kategorien wie Spione", Asoziale" u.a. abgelehnt wurden oder auch nur so erstaunliche Entschädigungssummen wie DM 53,- oder DM 124,- (als Rückerstattung der Rassen-Sondersteuer" bei der Lohnsteuer) erhalten hatten, von neuem aus. Erst in den letzten Jahren ist in einigen Bundesländern eine veränderte Wiedergutmachungspolitik sichtbar geworden.

Wissenschaften und Zigeunerforschung" nach 1945 32

Nicht nur in den Behörden, auch in den Wissenschaften fanden sich Verfechter und Sympathisanten antiziganistischer Stereotype. Die Tatsache, daß erst in den letzten Jahren die NS-Verfolgungsgeschichte - der Völkermord an den Sinti und Roma - Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden ist, ist auffällig. Historiker übersahen den Völkermord aus rassischen" Gründen oder schenkten ihm keine Beachtung. Die Soziologen, die im Nationalsozialismus zu Raumforschern" mutiert waren, verorteten die Minderheit nun ganz positivistisch an der Peripherie der Gesellschaft als soziale Randgruppe, zu der sie von den Behörden stigmatisiert worden war. Im Bildungsbereich liegen mit wenigen Ausnahmen bis heute keine verbindlichen Inhalte zur Geschichte und Kultur der Minderheit vor. Die Bildungsdidaktiker haben es angesichts des Antiziganismus der Mehrheitsbevölkerung (68% lehnen Sinti und Roma ab) bisher nicht als notwendig erachtet, ein Konzept gegen die Zigeunerbilder" zu entwickeln. Versäumnisse, ohne Frage, die bis heute nicht nur die Chance einer Aufklärung haben verstreichen lassen, sondern auch den Tsiganologen", den Zigeunerforschern" das Feld überlassen haben.

Als ein Paradebeispiel für die Zigeunerforschung" nach 1945 kann Hermann Arnold gelten. Vor allem auch deswegen, weil er wie kein anderer Zigeunerexperte" nach 1945 seine Forschungen" im Kontext seiner Tätigkeit als Amtsarzt des Gesundheitsamtes in Landau, als Sachverständiger für Zigeunerfragen" beim Bundesministerium für Jugend und Familie und schließlich als Berater bei diversen Verbänden und der Zigeunerseelsorge" der Katholischen Bischofskonferenz bis 1979 ausübte.33

Arnold war bisher immer noch tatkräftig bemüht, die mit ihm vertraute Eva Justin und den Leiter des Rassehygieneinstituts", Robert Ritter, als vermeintliche Wissenschaftler zu rehabilitieren. Eva Justin brachte im Jahre 1949 Himmlers Planungsunterlagen des Völkermordes zu ihren alten Bekannten in die Landfahrerzentrale" des bayerischen Landeskriminalamtes in München. Von dort übernahm Arnold in den Jahren 1960 bis 1964 diese NS-Akten (das waren die sogenannten Rassengutachten", Stammbaumtafeln, Karteien, Fotos, Filme u.a.)34 und wertete mit Mitteln des Bundesinnenministeriums diese Akten für eine bessere polizeiliche Nutzbarkeit aus, um dann um so angeregter mit den Ziegeunerspezialisten" der Polizei von München bis Hamburg zusammenzuarbeiten. Arnold bezeichnete Sinti und Roma als Nomaden und Bastarde"; mit seinem biologistischen Ansatz wollte er ein erbbedingtes Zigeuner-Gen" beweisen, das für die psychischen und sozialen Dispositionen der Sinti und Roma ausschlaggebend sei.35 Hund (1996), der sich mit der rassistischen Konstruktion des Zigeuners" befaßt, kommt zu folgendem Schluß: Das Zigeuner-Gen ist die ultima ratio des Zigeunerstereotyps: Mit ihm wird in den somatischen Kategorien des wissenschaftlichen Rassismus ein Jahrhunderte hindurch betriebenes rassistisches Kalkül systematisiert. Es hat von Anfang an auf der Addition von Fremdheit und gesellschaftlicher Aussonderung bestanden. Die Opfer der sozialen Entwicklung sind dadurch zu Fremdkörpern innerhalb des Zivilisationsprozesses erklärt worden."36

Die frühere Mitarbeiterin in Ritters Institut in Berlin, Sophie Erhardt, gegen die (und Adolf Würth) 1961 die Kölner Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eröffnet und 1963 eingestellt hatte, übernahm schon 1947 die sogenannte Anthropologische Kartei" (eine Sammlung mit Fotos, Handabdrücken, Schädelvermessungen u.a.) in ihr Institut an der Universität Tübingen. 1949 habilitierte sie; 1958 wurde sie Professorin in Tübingen. Noch 1969 veröffentlichte sie einen Aufsatz über Zigeunerschädel" und 1974 über Handfurchen bei Zigeunern".37

Die Akten des Völkermordprogramms, mit denen Arnold und Erhardt gearbeitet hatten, wurden auf Protest der Sinti in das Bundesarchiv in Koblenz überstellt.

Dort liegen heute die Akten von rund 20.000 ermordeten deutschen Sinti und Roma. Nur die Rassengutachten", die eigentlichen Todesurteile, sind zwischen Landau und Tübingen verschwunden.

Die Bürgerrechtsbewegung gegen Diskriminierung und behördliches Unrecht

Es gehört daher mit zu der Erbschaft der BRD aus dem Nationalsozialismus, daß bürgerrechtliche oder außerparlamentarische Bewegungen in der politischen Kultur keinen ausgewiesenen Platz haben und mit einem Verdikt der Politik rechnen müssen, wenn sie von der Politik Rechte, Schutz und Anerkennung einfordern. Ohne politische Macht ausgestattet müssen Bürgerrechtsbewegungen sich zunächst auf gesellschaftliche Prinzipien und Grundrechte berufen, um deren Verwirklichung anzumahnen.

Es gehört zur Ambivalenz solcher Bemühungen, daß der Kampf um die öffentliche Wahrnehmung des Unrechts und der Diskriminierung gegenüber den Sinti und Roma primär ein Abarbeiten manifester Ungleichbehandlungen und gesellschaftlicher Versäumnisse der Bundesrepublik war, der wiederum nur wenig oder keine Bündelung der Kräfte zur konkreten Ausgestaltung der gegenwärtigen und künftigen Lebenssituation der Minderheit zuließ. Die Bürgerrechtsarbeit gegen den Behördengeist der Ausgrenzung und Kriminalisierung, gegen die Verleugnung des Völkermordes glich bis zur Anerkennung des Völkermords aus rassischen" Gründen durch die Bundesregierung im Jahr 198238 einer Sisyphos-Arbeit, die sich gegen eine massive Abwehr aller gesellschaftlichen Institutionen und für eine Anerkennung als eigenständige Minderheit schier aufzureiben drohte. Erst die Aktionen der einzelnen Sinti und Roma-Verbände - die Kundgebung im ehemaligen KZ Bergen-Belsen im Jahr 1979 sowie vor allem der Hungerstreik in Dachau im Jahr 1980 - fanden zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Im Februar 1982 schlossen sich die Landesverbände im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma" mit Sitz in Heidelberg zusammen und konnten nun gemeinsam die unglaublichen und offenen verfassungswidrigen Umstände bekannt machen. Die Kernpunkte der folgenden Öffentlichkeitsarbeit kreisten um Diskriminierung, Kriminalisierung durch die Behörden, Stigmatisierung in den Medien; Verleugnung des Völkermords an der Minderheit sowie um den manifesten und latenten Antiziganismus in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

a) Proteste und Aktionen gegen polizeiliche Sondererfassung und Übergriffe

Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen der Verständigung und des Abbaus von Vorurteilen in den Behörden, insbesondere bei diversen Polizeidienststellen, warf der Zentralrat im Oktober 1984 den Innenministern von Bund und Ländern vor, ihre Polizeibehörden praktizierten eine Art Rassenbekämpfung" gegen die gesamte Minderheit in Deutschland. Aufgebauschte, diskriminierende Berichte der Polizei an die Presse über angeblich besonders typische Zigeuner"- oder Landfahrer"-Kriminalität - so das Schreiben des Zentralrates an die Minister - sorgten verstärkt seit einem Jahr bei der Bevölkerung für massive antiziganistische Vorurteile und Fremdenhaß. Polizeibehörden beschränken sich in ihrer Berichterstattung bewußt nicht auf die Tat und Tatverdächtige, sondern stellten in ihren Meldungen und Pressegesprächen gezielt die ethnische Zugehörigkeit der Minderheit in den Vordergrund. Nach einem Bombenanschlag im Januar 1982 in Darmstadt auf ein Haus, in dem Roma-Familien wohnten, hatte ein erster Appell an die Minister keinen Erfolg gefunden, der den Schutz des Rechtsstaates auch für die Minderheit hätte gelten lassen. Statt dessen unterliefen sie alle Bemühungen des Zentralrates um die bürgerrechtliche Gleichbehandlung. Gewaltanschläge nahmen seither im Bundesgebiet weiter zu.

b) Aktionen gegen Etikettierung:
vom Zigeuner" über Landfahrer" zum HAWO-Etikett

Der Einsatz gegen die Kriminalisierungsstrategien der Polizei waren ein Kernpunkt der Bürgerrechtsarbeit. Diese sind nicht neu, schon seit 1951 hatte sich Uschold auf die Forschungsarbeiten der letzten Zeit" berufen, die von Ritters Institut mit größter Gründlichkeit vorgenommen" worden seien. Sie sollten die Basis für die erkennungsdienstliche und polizeiliche Arbeit sein. Diese Strategien entsprachen dem polizeilichen Feindbild, denn wie sein Kollege Georg Geyer 1957 in der bayerischen Polizeizeitung feststellte, (haben) alle Maßnahmen und Verfolgungen den Lebenswillen der Zigeuner nicht zu brechen vermocht." Insbesondere diese Beamten aus München setzten sich seit den 50er Jahren auf Tagungen des BKA dafür ein, unter Umgehung des Grundgesetzes, bundesweit als Synonym für Zigeuner" den (ebenfalls aus der NS-Zeit stammenden) Begriff Landfahrer" zu verwenden. Dieser neue Begriff meine nicht Rasse", sondern solle soziologisch klingend den Hang zum Umherziehen", den ständig geänderten Aufenthaltsort", den reisenden Tatverdächtigen" oder die unstete Lebensweise" beschreiben; so lauteten die Legitimationsversuche der Polizei.

Ideologisch wie in der polizeilichen und kriminologischen Arbeit blieb eine strenge Analogie zur NS-Rassenideologie bestehen, deren Kriterium der Rassenzugehörigkeit nun als Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe umgedeutet wurde. Diese projektive Verschiebung und Identifikation von sozialen Verhaltensweisen auf und mit einer ethnischen oder sozialen Gruppe definierte das Zigeuner(un)wesen" als fixierte Bezugsgröße für die ganze Minderheit. Sie schrieb über das Wesen des Zigeuners" die soziale Unveränderbarkeit der Sinti und Roma fest: Bei der zu Beobachtung stehenden Personengruppe handelt es sich um ... Zigeunermischlinge ..., bei denen - biologisch unterstellbar - ein Konzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnen sein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit, Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigungen usw.)"39. Zigeuner", Landfahrer", TWE oder HAWO werden zur Täterbeschreibung und zum Volksgruppenetikett.

Wie in einem Brennglas wird hier die Struktur der rassistischen Konstruktion des Zigeuners" aufgeworfen und die Kontinuität der NS-Ideologie weiter geschrieben. Grundsätzlich scheint hier auch die behördliche Ratio und der polizeiliche Pragmatismus in Frage zu stehen, die offenbar auf Effektivität und unmißverständliche Vorgaben bedacht, jedes ethische Verhältnis ausschalten und damit jede Verantwortlichkeit ausschließen.40 Da diese Vorgehensweise des bürokratischen Rationalismus die Möglichkeit kommunikativen Handelns, die allein Aufklärung versprechen könnte, ausschaltet, indem eine technische, pragmatische oder sonstige Notwendigkeit behauptet wird, verwundert es nicht, daß die Behörden - sich selbst immunisierend - taub gegen die Argumente der Sinti und Roma blieben und gebetsmühlenartig von kriminologischen Erfordernissen fabulierten.

Erst 1984 teilte Staatssekretär Spranger nach einem Gespräch im Bundesinnenministerium mit, daß die Landfahrer"-Erfassung beendet werde und die rassistische Bezeichnung auch im internen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werde. Was hatte diesen Bewußtseinswandel bewirkt? Tatsächlich war im Mai 1983 nach der Streichung der Landfahrer"-Erfassung - angeblich 1980 - und des Computerkürzels ZN" für Zigeunername" - 1984 - im polizeilichen Überwachungs- und Informationssystem das neue Kürzel HAWO" für häufig wechselnder Aufenthaltsort" in allen Bundesländern eingeführt worden. HAWO", hieß es, habe absolut nichts mit der Minderheit zu tun, sondern sei dringend erforderlich zur Erfassung des kriminologisch so bedeutsamen Phänomens des Umher-Reisens von Tatverdächtigen. Welche Bedeutsamkeit" ein häufig wechselnder bzw. ständiger Aufenthaltsort für einen Tatverdacht habe, blieb jedoch Ermessenssache" der Polizei. Beurteilungs- oder Bewertungskriterien gab es keine.

c) althergebrachte Propaganda gegen Minderheiten: Verbrecherbanden" und Seuchengefahr"

Ein Streitpunkt mit Innenminister Schnoor war die Einrichtung einer Sonderkommission bei der Dortmunder Polizei, die sich unter dem vermeintlich sachbezogenen Titel TWE" für Tageswohnungseinbrüche" beschäftigt; genauer nur mit Angehörigen der Minderheit; genauer: mit drei aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden, heimatlosen Roma-Familien, die 1982 in Dortmund Wohnungen erhielten. Die Behörden versuchten sie jedoch immer wieder zu vertreiben. Die bundesweite Propaganda dieser Kommission zielte auf Vorurteile in der Bevölkerung und bei Sozialbehörden, auf neue Sondergesetze gegen die Sinti und Roma und auf eine offizielle Bundeszentrale beim BKA. Diese Sonderkommission stellt einen Verstoß gegen das Grundgesetz und die UN-Menschenrechtskonvention dar.

Die Strafverfolgungsbehörden waren trotz massiver Vorverurteilungen der erwachsenen Roma, sie hätten als Bandenkriminelle" mit Folter" ihre Kinder zu 10.000 Einbrüchen gezwungen" und damit der deutschen Bevölkerung einen Schaden von ca. 70 Millionen DM zugefügt, offensichtlich in Beweisnot. Das Oberlandesgericht Hamm im November und Dezember 1984 hob, da die Vorwürfe nicht aufrechterhalten werden konnten, die Untersuchungshaft auf. Die Beschuldigten wurden in Kooperation zwischen Staatsanwaltschaft und Ausländeramt am 18. Januar 1985 abgeschoben, obwohl die Behörden bereits in der Presse ein Gerichtsverfahren gegen die von ihnen so bezeichnete Zigeuner-Baby-Bande" angekündigt hatten. Innenminister Schnoor hatte die Abschiebeverordnung am 17. Januar 1985 trotz des Protestes des Zentralrates unterschrieben. Eine Aufklärung der ungeheuerlichen Anschuldigungen in einem rechtsstaatlichen Verfahren wurde so vereitelt. Nach Auskunft des Ministers war u.a. der Tatvorwurf von 10.000 Einbrüchen auf 300 reduziert worden. Warum das OLG Hamm allerdings die Haftbefehle aufgehoben hatte, wollte zunächst keiner der Beamten im Innenministerium wissen.

Mit einer eben solchen Hetze wurde im August 1983 in Darmstadt von OB Metzger vier Roma-Familien unmittelbar vor ihrer Rückkehr aus dem Urlaub das Haus samt Mobiliar und Kupferwerkstatt niedergerissen. Im April 1984 wurden sie aufgrund polizeilicher Erkenntnisse" abgeschoben, obwohl das Verwaltungsgericht Darmstadt feststellte, daß die angebliche Kriminalität sich auf wenige Führerschein- und Verkehrsdelikte beschränkte. Im Rechtsstreit, den OB Metzger gegen den Zentralrat führte, sagte Simon Wiesenthal am 24. Januar 1985 vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt, die von Metzger vorgetragene Rechtfertigung des Abrisses wegen Seuchengefahr" erinnere ihn an seine eigene Verfolgung. Mit diesem Schlagwort hätten die Nazis den Haß gegen Juden und Zigeuner" geschürt.

d) weitere Schwerpunkte der Bürgerrechtsarbeit 41

Der oben beispielhaft angeführten Auseinandersetzung mit den Polizeibehörden korrespondieren ähnlich strukturierte Konflikte durchgängig mit fast allen relevanten Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen beispielsweise mit den Medien und den Kirchen, aber mit auch den für Schule und Unterricht verantwortlichen Behörden, die nach wie vor einerseits mit diskriminierendem Unterrichtsmaterial, andererseits mit Desinformation über die Geschichte und Kultur der Minderheit aufwarten. Ohne Übertreibung kann man festhalten, daß die allgemeine Aufarbeitung des Nationalsiozialismus und des Zivilisationsbruches von Auschwitz ebenso wie die spezifisch selbstreflexive der jeweiligen Institutionen ebenso wenig gelungen scheint, wie Selbstaufklärung der bundesrepublikanischen Gesellschaft hinsichtlich der antiziganistischen Ressentiments und Zigeunerbilder".

Noch immer scheint es, daß die Betroffenen und Opfer des Unrechts sich selbst ins Recht setzen müssen, wenn sich etwas an ihrer aktuellen Lebenssituation ändern soll. Einen nicht geringen Teil hat die Bürgerrechtsbewegung zu dieser Aufklärung und Veränderung beigetragen, indem sie z.B. Recherchen über und die Einleitung von Verfahren gegen NS-Verbrecher unternommen, wesentliche Beiträge zur Dokumentation des Völkermordes an den Sinti und Roma beigetragen42, die Entschädigung der Überlebenden durchgesetzt und bearbeitet hat. Hinzu kommen Gedenk- und Informationsveranstaltungen in den Städten und Kommunen, in Schulen und Bildungseinrichtungen.

Und schließlich hat sich die internationale Zusammenarbeit mit Bürgerrechts- und Menschenrechtsorganisationen als sinnvoll erwiesen, insbesondere die Beiträge zur Durchsetzung der Rahmenkonvention des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten, das von der Bundesregierung 1995 in Straßburg unterzeichnet und 1997 im Deutschen Bundestag ratifiziert wurde. Anerkannt als nationale Minderheiten wurden in der BRD die Dänen, die Sorben, die Friesen sowie die Sinti und Roma. Bis die Verpflichtungen des Rahmenübereinkommens - der besondere Schutz vor Diskriminierung und die Förderung in allen relevanten gesellschaftlichen Bereichen, vor allem im Bereich der Bildung, der Kultur, dem Sozialen und den Medien - in öffentlich-rechtliche Verträge wirkungsvoll umgesetzt werden, werden die ca. 70.000 deutschen Sinti und Roma weiterhin streiten müssen.


1 Vgl. den Beitrag von Michail Krausnick in diesem Band.

2 Vgl. Michael Zimmermann: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische Lösung der Zigeunerfrage". Hamburg 1996, S. 364.

3 In Abkehr von der Totalitarismusthese wäre hier dasjenige auf den Begriff zu bringen, was die Debatte um Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker" und die Diskussion um die Wehrmachtsausstellung ebenso aufgeworfen haben und das schon Hannah Arendt in der Darstellung der Banalität des Bösen" zu beschreiben versucht hatte: Das Ineinandergreifen von persönlichen Motivationen, Karrieren, Konkurrenzen, Entscheidungsspielräumen etc. der Planer und Organisatoren des Völkermordes mit behördlichen Vorgaben und politischen Anweisungen, Befehlen etc. sowie deren Bezugspunkte zur rassistischen Ideologie der Volksgemeinschaft.

4 Die institutionellen und personellen Verstrickungen in die NS-Vernichtungspolitik und deren Weiterwirken in der neu gegründeten BRD, das Scheitern der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Menschheit, die mißlungene Entnazifizierungspolitik etc. sind bis heute noch nicht hinreichend aufgearbeitet.

5 zitiert aus Michail Krausnick; Wo sind sie hingekommen? Der unterschlagene Völkermord an den Sinti und Roma. 1995, S. 195.

6 zitiert nach Romani Rose: Bürgerrechte für Sinti und Roma. Das Buch zum Rassismus in Deutschland. Heidelberg 1987, S. 79.

7 zitiert nach Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 365.

8 So schlug, das Berleburger Gesundheitsamt, das während des Nationalsozialismus auf der Grundlage der Erbgesundheitsgesetze Eheverbote für Zigeunermischlinge" befürwortet hatte, dem Regierungspräsidium in Arnsberg um die Jahreswende 1946/47 vor, eine Heirat zu untersagen, weil es sich um eine sittlich und charakterlich minderwertige Person handele; vgl. Zimmermann, Rassenutopie, 1996, S. 365.

9 Krausnick, Wo sind sie hingekommen?, 1995, S. 196f. u. S. 211 Anm. 3.

10 Krausnick, Wo sind sie hingekommen?, 1995, S. 197.

11 Das bekannteste Beispiel ist der Kriminalbeamte Josef Eichberger, der bis 1945 im RSHA Verantwortlicher der Zigeuner-Transporte" war (also vergleichbar mit Eichmann im Falle der Juden) und der ab 1945 in der berüchtigten Münchner Landfahrerzentrale" des Bayerischen Landeskriminalamtes deren Leiter wurde. (vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 31).

12 Vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 31.

13 vgl. Katrin Reemtsma, Sinti und Roma. Geschichte, Kultur, Gegenwart. München 1996, S. 126.

14 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 39. Nach offizieller Darstellung der Innenminister der Länder wurden die Zigeuner/Landfahrer"-Karteien in den Landeskriminalämtern in den siebziger Jahren aufgelöst. Mit einigem Recht kann man jedoch vermuten, daß die Daten elektronisch gespeichert wurden (INPOL-System).

15 Im polizeilichen Sprachgebrauch wurden aus Zigeunern" erst Landfahrer", später Personen mit HAWO (häufig wechselndem Aufenthaltsort); oder in Pressemitteilungen auch als TWE (Tageswohnungseinbruch) und als mobile ethnische Einheiten südeuropäischer Herkunft bezeichnet. Vertreter des Bayerischen Landeskriminalamtes schlugen folgerichtig vor: auf dem bundeseinheitlichen Formblatt KP 21 das Wort `Zigeuner: ja - nein' durch das Wort `Landfahrer: ja - nein' zu ersetzen."; zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 36.

16 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 33. In Hessen hatte das Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" aus dem Jahr 1929 bis zum Jahr 1957 Gültigkeit. In Baden-Württemberg waren die württembergische Verfügung des Ministeriums des Innern betreffend das Verbot des Zusammenreisens von Zigeunern in Horden vom 22.1.1905" und die badische Verordnung über das Umherziehen von Zigeunern, Zigeunermischlingen und nach Zigeunerart wandernde Personen vom 11.1.1939 bis Ende 1976 gültig; vgl. Reemtsma, Sinti und Roma, 1996, S. 127.

17 vgl. den Beitrag von Katrin Reemtsma in diesem Band; sowie Katrin Reemtsma: Zigeuner" in der ethnographischen Literatur; Fritz Bauer Institut, 1996, Materialien Nr. 16.

18 vgl. auch den Beitrag von Katrin Reemtsma in diesem Band.

19 zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 34.

20 zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 34.

21 zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 35.

22 Als `wissenschaftliche' Grundlage diente ein 1954 erschienener Aufsatz des ehemaligen SS-Mannes Hans Eller, das erste 1958 erschienene Buch des Rassehygienikers Hermann Arnold, und als wichtigste Grundlage: das nationalsozialistische `Handwörterbuch der Kriminologie' aus dem Jahre 1936 mit den Stichwörtern `Rasse' und `Zigeuner' Aus letzterem wurden einzelne Passagen wörtlich übernommen; zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 41.

23 In diesem Kontext darf auch nicht vergessen werden, daß eine ganze Generation - nach dem NS-Schulverbot - ohne Ausbildung geblieben war und seitens der Schulbehörden keine erkennbaren Anstrengungen unternommen wurden, diesen Mangel zu beheben.

24 Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 47.

25 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 47f.

26 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 58.

27 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 51.

28 zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 53.

29 vgl. Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 53f.

30 zitiert nach Rose, Bürgerrechte, 1987, S. 54.

31 vgl. Krausnick, Wo sind sie hingekommen?, 1995, S. 205; Karola Frings / Frank Sparing: Regelung der Zigeunerfrage": In: konkret, Zeitschrift für Politik und Kultur, 11/93:26ff.

32 vgl. den Beitrag von Katrin Reemtsma in diesem Band.

33 vgl. Reemtsma, Zigeuner", 1996, S. 22.

34 siehe Anhang; der Weg der Rassenakten".

35 vgl. Reemtsma, Zigeuner", 1996, S. 22ff.

36 Wulf D. Hund (Hg.): Zigeuner. Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion. Duisburg 1996.

37 vgl. Reemtsma, Sinti und Roma, 1996, S. 131.

38 Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt erklärte: Den Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Diese Verbrechen sind als Völkermord anzusehen."

39 vgl. Anm. 24.

40 Christoph Browning: Ganz normale Männer das Reservebataillon 110, 1995 und Daniel Goldhagen: Hitlers willige Helfer, 1996 haben diese Problematik ausführlich erörtert.

41 Die inhaltliche Ausführung dieser Themen würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen.

42 Seit März 1997 besteht im Dokumentations- und Kulturzentrum eine Ausstellung über den Völkermord und diverse weitere Informationsmöglichkeiten.


Anhang I:

Basisinformationen zu den Sinti und Roma

Auszüge aus dem Großen Brockhaus 19931
(19. Auflage 1993, S. 323-325; Die 1994 abgeschlossene Auflage der Brockhaus-Enzyklopädie erklärt das Stichwort Zigeuner zu einer diskriminierenden Fremdbezeichung und verweist statt dessen auf den Artikel Sinti und Roma. Der konfrontiert die Leserinnen und Leser mit einer jahrhundertealten Unterdrückungsgeschichte" und begreift Sinti und Roma als Opfer anhaltender Ausgrenzung und Diskriminierung."; zitiert aus: Iris Wigger: Ein eigenartiges Volk. Die Ethnisierung des Zigeunerstereotyps im Spiegel von Enzyklopädien und Lexika. In: Hund, Zigeuner, 1996, S. 37-66.)

Sinti und Roma, Bez. von weltweit verbreiteten überwiegend aber in Europa (v.a. im ehemaligen Jugslawien, in Rumänien, Ungarn, Frankreich, Spanien und Dtl.) beheimateten Minderheitsgruppen mit (1990) schätzungsweise 12 Mio. (Europa: 8 Mio.) Angehörigen. Die Bez. Sinti" (für mitteleurop. Gruppen) leitet sich möglicherweise von der Herkunft ihrer Vorfahren aus der nordindi. Region Sindh ab; die Bez. Roma" (Sg. Der Rom, Mann", Ehemann", Mensch") ist ein allgemeiner Sammelname außerhalb des dt. Sprachraums, in Dtl. wird sie überwiegend für Gruppen südosteurop. Herkunft gebraucht. Die früher im dt-sprachigen Raum gebräuchl. Bez. Zigeuner" wird auch heute noch in diskriminierender Absicht verwendet. Im engl. Sprachraum werden S. u. R. als Gypsies", im spanischen as Gitanos" bezeichnet. - In Dtl. leben etwa 50.000 Sinti und 20.000 Roma, überwiegend kath. Konfession; auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, in Bulgarien, Iran und der Türkei gibt es muslim., in anderen südost.- und osteurop. Ländern griechisch-orth. und russisch-orth. Sinti und Roma

S. u. R. bilden selbst innerhalb von Nationalstaaten keine homogene Einheit. Träger der sozialen Organisation und kulturellen Überlieferung ist die Familie. Die ältere Generation genießt die besondere Achtung der Jüngeren. Die kulturelle Identität gründet in der eigenen Sprache (à Romani), in der eigenständigen Auseinandersetzung mit der Kultur der Mehrheitsbevölkerung und in der Erfahrung jahrhundertelanger Verfolgung. Sie ist u.a. gekennzeichnet durch einen reichen Schatz an Erzählungen, Märchen und Liedern, durch künstler., bes. musikal. Fähigkeiten und handwerkl. Traditionen (v.a. Kupfer- und Goldschmiedekunst, Korbflechterei, Holz- und Lederbearbeitung). Entgegen allen Vorurteilen sind S. u. R. in Dtl. und in anderen Ländern seit Generationen ebenso seßhaft wie die Mehrheitsbevölkerung.


Geschichte und Herkommen

Die S. u. R. waren wohl zw. 800 und 1000 aus ihrer Heimat in NW-Indien durch das Einströmen arab. Volksstämme zur Auswanderung gezwungen worden. Wichtigster Zeuge ihrer Herkunft aus Indien ist ihre Sprache, das Romani. Sie erschlossen sich Erwerbsquellen in Handel, Handwerk und Musik.

Die große Mehrheit der Vorfahren der heutigen europ. S. u. R. ließ sich zw. dem 11. und 14. Jh. auf dem Balkan (um 1100 von einem Mönch auf dem Berg Athos erstmals erwähnt), im Mittleren Osten und in Osteuropa nieder. Die Westwanderung erreichte um 1400 Mitteleuropa (1407 Hildesheim, 1414 Basel), bald nach 1500 dann England und 1715 Nordamerika. In der über Stände und Zünfte starr strukturierten Gesellschaft wurden S. u. R. wie andere soziale Gruppen (z.B. fahrende Händler, Handwerker ohne feste Anstellung, Schausteller) sozial ausgegrenzt.

Zunächst noch geduldet, wurden S. u. R. zunehmend unterdrückt und aus manchen Gebieten vertrieben (Luzern 1471, Brandenburg 1482, Spanien 1484). Auf dem Reichstag 1496/97 wurden sie für vogelfrei erklärt und zur Verfolgung, Folterung und Tötung freigegeben. Anfang des 16. Jh. folgten Holland, Portugal, England, Frankreich, Schottland, Flandern, Dänemark, Böhmen, Polen und Litauen mit ähnl. Gesetzgebung. 1561 beschloß das Parlament zu Orlèans, sie mit Feuer und Schwert auszurotten. Die härtesten Gesetze wurden im hl. Röm. Reich erlassen, allein zw. 1497 und 1774 waren es 146 Edikte, die alle Arten phys. und psych. Gewalt an S. u. R. zuließen.

Dem Beispiel MARIA THERESIAS und JOSEPHS II., die Roma in Österreich zwangsweise zu Bauern machen wollten, folgte FRIEDRICH II., d.Gr. 1775 mit der Gründung eines Zigeunerdorfes" in Friedrichslohra (heute Großlohra, Kr. Nordhausen). Als zw. 1837 und 1856 in der Moldau und Walachei nach und nach die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, zogen rd. 200.000 befreite Roma westwärts. Aufgrund ihrer gegenüber den westeurop. Sinti andersartigen Unterdrückungsgeschichte, unterschiedl. Lebenstraditionen und Dialekte bewahrten beide Gruppen ihre Selbständigkeit. Von der sich zum Jahrhundertende hin verschärfenden Unterdrückung und Sondererfassung waren sie in gleicher Weise betroffen. Nach der Gründung des Dt. Reiches 1871 wurden die innenpolit. Kontrollinstrumente durch neu gegründete Dienststellen zur Überwachung der S. u. R. verschärft. Seit 1899 setzte im Dt. Reich eine systemat. Bekämpfung der S. u. R. ein; seit 1906 bestand in Preußen eine Zigeunergesetzgebung", seit 1926 in Bayern das Arbeitsscheuengesetz", das die Möglichkeit bot, auch gegen alteingesessene S. u. R. mit rücksichtsloser Härte vorzugehen. Die gerade in Dt. fortgeschrittene Assimilierung der S. u. R. wurde dabei auch von den Politikern der Weimarer Republik außer acht gelassen. Andererseits wurden v.a. die südosteurop. Roma im 19. und zu Beginn des 20. Jh. in der Unterhaltungsliteratur und in Operetten zu stilisierten Kunstfiguren verklärt und ihre vermeintlich naturwüchsigen Lebensverhältnisse als Versinnbildlichung antizivilisator. Sehnsüchte dargestellt. In dieser Verbindung von Faszination und Ablehnung blieb der Zigeuner" für die Mehrheit der Gesellschaft der Inbegriff von kultureller Fremdartigkeit. Diese Haltung trug wesentlich dazu bei, daß die Verfolgung der S. u. R. durch das nat.-soz. Regime in der Bevölkerung kaum auf Ablehnung oder gar Widerstand stieß.

(Zum Völkermord ... vgl. Krausnick in diesem Band)

(...) (Nach 1945 D.S.) betrieben die kommunistisch geführten Regierungen Ostmittel- und Osteuropas eine Politik der Zwangsassimilierung. In einigen Staaten Osteuropas kam es z.T. zu massiven Menschenrechtsverletzungen (Sterilisation, Sprachverbot). Nach dem Sturz der kommunist. Reg.-Systeme in Ostmittel- und Osteuropa (zw. 1989 und 1991) und der Vereinigung der beiden dt. Staaten 1990 strömten unter dem Druck nach wie vor bestehender Diskriminierung und drückender sozialer Bedingungen Angehörige der S. u. R. aus Südosteuropa (Rumänien, Jugoslawien) nach Dtl. und bemühten sich unter Wahrnehmung des dt. Asylrechts um einen Verbleib in der Bundesrep. Dtl. Sie stehen dabei oft im Zentrum ausländerfeindl. Aktivitäten von Rechtsextremisten.

 

Anhang II:

Der Weg der "Rassenakten" nach 1945 (erstellt von Tanja Reinhardt)


1947:
R. Ritter übergibt Sophie Erhardt Nr.2


1949:
E. Justin übergibt Nr. 1,2,3,4 an das BLKA in München


H. Arnold will vom Bayerischen Innenministerium Nr.1,2,3,4,
1960:


1961:

H. Arnold erhält Nr. 3 und 4


1964:
H. Arnold erhält Nr. 1
S. Erhardt übergibt ihre Akten an I. Schwidetzky am Anthropologischen

Institut in Mainz
1969/70:


1975:
H. Arnold übergibt Nr. 3 und 4 an I. Schwidetzky am Anthropologischen

Institut in Mainz


1978:
S. Erhardt an der Universität Tübingen erhält aus Mainz Nr. 2,3,4


1981:
Sinti besetzen das Universitätsarchiv in Tübingen; die Akten kommen ins Bundesarchiv nach Koblenz



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