I. Einleitung
Das 20. Jahrhundert geht zu Ende. Vor genau 100 Jahren protestierten Frauenrechtlerinnen aller politischen Richtungen im Deutschen Reich vergeblich gegen eine nur von Männerinteressen geleitete Kodifizierung des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Das Familienrecht hielt an der Unterordnung und Rechtlosigkeit der Ehefrauen fest, die Vormundschaft des Ehemannes über die Ehefrau wurde erneut gesetzlich festgelegt. Minna Cauer, die Gründerin des "Vereins Frauenwohl" (Berlin 1888) und Herausgeberin der Zeitung "Die Frauenbewegung" schreibt darin am l. Januar 1900, dem Tag des Inkrafttretens des neuen BGB ihre "Betrachtung bei der Wende des Jahrhunderts":
"Von dem scheidenden Jahrhundert nehmen wir ohne Trauer Abschied ... Es ist beschämend für das Deutsche Reich, daß es beim Eintritt in das neue Jahrhundert nicht eine einzige Forderung der Frauen erfüllt hat, nicht eine, selbst solche nicht, welche von allen Seiten a1s spruchreif angesehen werden." 1
Die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen in Westeuropa, die sich auch auf die Situation der Frauen in Politik und Gesellschaft auswirkten. Je nach politischer und wirtschaftlicher Lage läßt sich in der Geschichte die Erweiterung bzw. die Einschränkung politischer Handlungsfähigkeiten von Frauen erkennen - bis heute.
Tatsächlich erreichten Frauen erst im 20. Jahrhundert weitgehende rechtliche und politische Verbesserungen ihrer gesellschaftlichen Lage. Zur tatsächlichen Gleichberechtigung der Geschlechter hat unsere Demokratie jedoch noch immer nicht geführt.
Ein wirklich erster großer politischer Erfolg der Frauenemanzipation war die Durchsetzung des Frauenwahlrechts am 12. November 1918, kurz nach dem 1. Weltkrieg.
Somit hatten die Frauen gut 60 Jahre später als die Männer das Recht, zu wählen und gewählt zu werden. Agnes von Zahn-Harnack, eine Vertreterin der alten, ersten Frauenbewegung, schrieb damals:
"Aufgabe der folgenden Generationen wird es nun sein, zu
erwerben, was sie besitzen." 2
Frauen erhielten das Wahlrecht: 1869 Wyoming, Bundesstaat der USA 1893 Neuseeland 1902 Australien 1906 Finnland 1913 Norwegen 1915 Dänemark, Island 1917 Kanada, Niederlande, Sowjetunion 1918 Deutschland, England, Irland, Luxemburg, Vereinigte Staaten von Amerika 1919 Österreich, Polen, Schweden, Tschechoslowakei 1924 Mongolei 1929 Ekuador 1931 Brasilien, Thailand, Uruguay 1934 Kuba, Türkei 1935 Indien 1937 Philippinen 1942 Dominikanische Republik 1944 Frankreich 1945 Italien, Liberia 1946 Albanien, Japan, Jugoslawien, Panama, Rumänien, Südafrika 1947 Argentinien, Bulgarien, Birma, China, Venezuela 1948 Belgien, Israel, Korea 1949 Chile, Costa Rica, Ungarn 1952 Griechenland 1971 Schweiz 1976 Portugal 1984 Lichtenstein 1990 Kanton Appenzell (Schweiz) * 1 |
Die Wahl zur Nationalversammlung 1919 verzeichnete eine Wahlbeteiligung der Frauen von 82%. 41 weibliche Abgeordnete wurden gewählt. Das war ein Frauenanteil von 9,6%. Die Weimarer Republik hatte in ihren Anfängen damit eine enorm hohe Wahlbeteiligung und ein hervorragendes Ergebnis für die Frauen zu verzeichnen. Dieser relativ hohe Frauenanteil im ersten Parlament wurde allerdings erst wieder 1983 im 10. Bundestag mit 9,8% erreicht. 3
Wie heute noch festzustellen ist, befaßten sich auch damals die Politikerinnen mit den typisch "weiblichen" Politikfeldern, der Sozial- und Kulturpolitik.
Hier erreichten sie einige durchgreifende Reformen, die für das
tägliche Leben der Frauen von großer Bedeutung waren:
Andere frauenspezifische Forderungen und Anträge scheiterten in diesen Jahren, so auch der Versuch einer Reform der Gleichberechtigung in der Ehe. Weiterhin blieb die deutsche Ehefrau in allen familiären Angelegenheiten von ihrem Mann abhängig. Er verfügte über ihren Körper, ihr Vermögen und über ihr Gehalt. Erst am l.Juli 1958 tritt das sog. Gleichberechtigungsgesetz in Kraft. Als wichtigste Änderung gelten die Streichung des Alleinentscheidungsrechts des Mannes in der Ehe, die Einschränkung väterlicher Vorrechte in der Kindererziehung (erst 1979 vollständig beseitigt) und das Recht der Frauen, ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen selbst zu verwalten. 5
Die Machtergreifung von Adolf Hitler 1933 bedeutete für die Frauenbewegung das Aus. Linksparteien, die die meisten Politikerinnen stellten, wurden verboten. Die Frauenbewegung wurde aufgelöst und zerstört. Politisches Ziel des Nationalsozialismus war es, die Frauen auf ihre "ureigenste Bestimmung" als Hausfrau und Mutter festzulegen. Nach 1933 gab es keine Frauen mehr in politischen Führungspositionen.
"Den ersten, besten und ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie, und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Volk Kinder zu schenken." 6
Frauenbild der NSDAP
(Ausstellungsplakat s. Anmerkung 5)
Erst nach 1945 entwickelten sich langsam wieder erste Frauenausschüsse, die sich für die Demokratie und die Gleichberechtigung der Frauen einsetzten.
Dr. Elisabeth Selbert, SPD (geb. 1896 - gest. 1986), Friederike Nadig, SPD (geb. 1897 - gest. 1970), Dr. Helene Weber CDU (geb. 1881- gest. 1962) und Helene Wessel, Zentrum (geb. 1898 - gest. 1969) kämpften 1948 im Parlamentarischen Rat für die Gleichberechtigung der Frau. Durch ihren überparteilichen Einsatz und mit Hilfe einer großen außerparlamentarischen Kampagne von Frauen erreichten sie im Januar 1949, daß die Gleichberechtigung als Gesetzesartikel im Grundgesetz Art.3, Abs.2 : "Alle Menschen sind gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt" beschlossen wurde.7
(von links nach rechts: Frieda Nadig, Dr. Elisabeth Selbert, Dr. Helene Weber, Helene
Wessel)
Unser Grundgesetz verdanken wir somit nicht nur den vielzitierten
Vätern, sondern auch den jahrzehntelang vergessenen vier Müttern!
"Es bedurfte zweier Weltkriege, um uns die Chance zu geben, durch Leistungen im Krieg und in den desolaten Jahren danch zu beweisen, daß wir Berufsarbeit ebenso gut verrichten können wie die Männer ...." 8 |
Obwohl es in der Nachkriegszeit einen deutlichen Frauenüberschuß gab und die Frauen sowohl die "männliche Rolle" des Beschützers und Ernährers als auch die "weibliche" Rolle der Erzieherin und Betreuerin in einer Person vereinten - trotz des Erfolges der gesetzlichen Festlegung der Gleichberechtigung im Grundgesetz blieben die alten Rollenleitbilder hartnäckig bestehen.
So hieß es noch 1966 in dem "Bericht der Bundesregierung über die Situation der Frau in Beruf, Familie und Gesellschaft":
"Pflegerin und Trösterin sollte die Frau sein; Sinnbild bescheidener Harmonie, Ordnungsfaktor in der einzig verläßlichen Welt des Privaten; Erwerbstätigkeit und gesellschaftliches Engagement sollte die Frau nur eingehen, wenn es die familiären Anforderungen zulassen." 9
Der Frauentraum vom großen Neubeginn nach 1945 stellte sich schon Mitte der 60er Jahre als eben nur ein solcher heraus - EIN TRAUM -.
Dennoch haben sich Frauen nicht entmutigen lassen und sind mit Ausdauer und einem langen Atem daran gegangen, in vielen Bereichen gesellschaftliche Veränderungen zu fordern und zu realisieren.
Beeinflußt von der 68'StudentInnenbewegung und mitgetragen von dem
bundesdeutschen Regierungswechsel mit dem Motto "Mehr Demokratie wagen" bildete
sich eine "neue" Frauenbewegung heraus, die sich aktiv für die Beseitigung der
Diskriminierung von Frauen im gesellschaftspolitischen Bereich einsetzte.
Etappen der "neuen Frauenbewegung" 1968 "Aktionsrat zur Befreiung der Frau" gegründet von Frauen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS); "Frankfurter Weiberrat". 1970 Erste Zusammenschlüsse zur Abschaffung des § 218 StGB, z.B. die"Aktion 218". Die Reform des § 218 StGB bestimmte bis 1975 wesentlich das Bild der neuen Frauenbewegung 1972 Einrichtung des ersten "Frauenzentrums" in Berlin. 1974 Gründung des ersten Frauenbuchverlags "Frauenoffensive" 1976 - Erste Sommeruniversität für Frauen in der Freien Universität Berlin (West) - Zeitschrift Courage erscheint 1977 - Erstes Frauenhaus in Berlin - Zeitschrift Emma erscheint - Erstes "Feministisches Frauen-Gesundheits-Zentrum" in Berlin - Gründung des Vereins "Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis e.V." 1979 Gründung der Sektion Frauenforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie ab 1980 "Die Friedensbewegung" und die Gründung der Partei "Die Grünen" binden in großem Umfang auch Engagement aus der "neuen Frauenbewegung" *2 |
Der Auslöser für die Gründung von Frauengruppen auf breiter Ebene war die 23. Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt am 15. September 1968. Bei dieser Konferenz hielt die Filmemacherin Helke Sanders einen Vortrag zur "Befreiung der Frau":
"...Frauen suchen ihre Identität. Durch Beteiligung an Kampagnen, die ihre Konflikte nicht unmittelbar berühren, können sie diese nicht erlangen. Das wäre Scheinemanzipation. Sie können sie nur erlangen, wenn die ins Privatleben verdrängten gesellschaftlichen Konflikte artikuliert werden, damit sich dadurch die Frauen solidarisieren und politisieren. Die meisten Frauen sind deshalb unpolitisch, weil Politik bisher immer einseitig definiert worden ist und ihre Bedürfnisse nie erfaßt wurden. Sie beharren deshalb im autoritären Ruf nach dem Gesetzgeber, weil sie den systemsprengenden Widerspruch ihrer Forderungen nicht erkannten ..."10
Auf ihre Rede reagierten die männlichen Genossen mit höhnischer Ignoranz. Empört über dieses Verhalten setzt die Berlinerin Sigrid Rüger zum legendären Tomatenwurf an. Dieser Stichtag und Wurf gelten fortan als der Beginn der Neuen Frauenbewegung. Im Juni 1971 löste die Selbstbezichtigungsaktion von 300 prominenten Frauen "Ich habe abgetrieben" in der Zeitschrift "Stern" große Aktionen und Kampagnen gegen den § 218 aus, in deren Folge zahlreiche Frauengruppen entstanden und die Frauenbewegung aus den studentischen Kreisen in eine größere Öffentlichkeit gelangte. Mit dem Schlagwort "Das Private ist politisch" 11 bringt die "zweite" Frauenbewegung ihr Politikverständnis auf den Punkt.
Mehr oder weniger mühevoll erreichten Frauen in ihren Parteien durchaus ein Umdenken. Forderungen wie Quotenregelung, Frauenförderpläne und Gleichstellungsgesetze sind in politischen Diskussionen nicht mehr wegzudenken und wurden zum Teil realisiert.
Am 15. November 1994 kam es im Rahmen der Verfassungsreform zur Ergänzung des Grundgesetzes Artikel 3, Abs. 2:
"Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
Der Staat gibt durch die Ergänzung zu, was lange Zeit von verschiedenen Seiten her geleugnet wurde: Es gibt sie also doch, die bestehenden Nachteile.
Frauenpolitik erfährt in heutiger Zeit ein gewisses Maß an Akzeptanz. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß es genauso große Widerstände gibt und immer verfeinertere Gegenstrategien.
Ein Fazit der Journalistin Julia Dingwort-Nusseck: "Wenn es in dem bisherigen Tempo weitergeht, werden wir im Jahre 2230 den Zustand der Gleichberechtigung von Frau und Mann erreicht haben."
Emanzipation und Gleichberechtigung von Frauen sind ein mühevoller Prozeß gegen viele Widerstände sowohl von Männern als auch von Frauen, "der davon abhängen wird, wie mutig und selbstbewußt, solidarisch, stur, ungeduldig, hartnäckig und frech Frauen für ihre Rechte eintreten werden." 12
Einige tausend Jahre patriarchale "Ordnungen" in "Unordnung" zu bringen, um in neuen Strukturen mit gleichen Rechten und Pflichten für Männer wie für Frauen gleichberechtigt zu leben, ist ein langer Weg.
Aber: Aufbrüche beginnen immer wieder mit ersten Schritten. Das Modellprojekt der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg "Unsere Stadt braucht Frauen" ist ein solcher.
Anmerkungen:
1. Annette Kuhn (Hrsg.): Die Chronik der Frauen. Dortmund 1992, S.
381 (* 1.: AG zur Förderung d.wirtschaftlichen u. sozial. Bildung e.V. (Hrsg.): Frauen
und Männer sind gleichberechtigt. Bonn Ausgabe '92/'93, S.6)
2. Agnes von Zahn-Harnack: Die Frauenbewegung - Geschichte, Probleme, Ziele. Berlin 1928,
S. 285
3. Die Chronik der Frauen. a.a.0., S. 434 ff.
4. Die Chronik der Frauen. a.a.0., S. 437
5. Die Chronik der Frauen. a.a.0., S. 477
6. Joseph Goebbels, März 1933 bei der Eröffnungansprache der Ausstellung "Die Frau,
Frauenleben und -wirken in der Familie, Haus und Beruf" in Berlin, in: Die Chronik
der Frauen, a.a.0., S. 477
7. Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Bildung e.
V. / Bundesministerium für Frauen und Jugend: Frauen und Männer sind gleichberechtigt.
Lehrheft. Bonn 1991, S. 17 ff.(*2 ebenda, S.21)
8. E. Scheffler: Die Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im Wandel der
Rechtsordnung seit 1918, Berlin 1970. - R. Nave-Herz: Die Geschichte der Frauenbewegung in
Deutschland. Bonn 1988, S. 61
9. Die Chronik der Frauen. a.a.0., S. 529
10. Die Chronik der Frauen, a.a.0., S. 569
11. Die Chronik der Frauen. a.a.0., S. 569
12. Birgit Meyer: Der Aufbruch der Frauen ins 21. Jh. In: Die Chronik der Frauen. a.a.0.,
S. 568