Gedenkstättenarbeit

Auf dem Weg zu einer Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler

Forschungsstand - Quellen - Methode

 

V. Gerichtsakten als Quellen
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1. Vorüberlegungen

Gerichtsprozesse können für die Geschichtsschreibung wichtige Anstöße geben.97 Insbesondere da, wo andere Materialien gezielt vernichtet wurden, werden Ermittlungsakten und Verhöre zur einzigen Quelle. Dies ist insbesondere für die historische Erforschung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den meisten Fällen die Ausgangslage, da nicht nur die Täter bemüht waren, die Spuren ihres Tuns zu verwischen, sondern auch ein nicht zu unterschätzender Teil der Materialien durch Kriegseinwirkungen vernichtet wurde. Dieses Problem besteht auch für die Erforschung des KL Natzweiler, wo allem Anschein nach bei der Räumung des Lagers im September 1944 eine großangelegte Aktenvernichtungsaktion durchgeführt wurde 98. Die im ersten Teil vorgestellte Literatur stützte sich bereits vereinzelt auf veröffentlichte und damit leicht zugängliche Gerichtsunterlagen. Dabei ist auf drei Publikationen hinzuweisen:

Eine von Anthony M. Webb unter dem Titel "The Natzweiler Trial" herausgegebene Aktenedition stellt die offizielle Dokumentation eines Prozesses dar, der Ende Mai 1946 in Wuppertal vor einem englischen Militärgerichtshof gegen neun Angeklagte wegen der Ermordung der Frauen am 6. Juli 1944 in Natzweiler geführt wurde 99. Die englischen Militärbehörden erhoben in diesem speziellen Fall Anklage, da es sich bei drei der Mordopfer - das vierte konnte in diesem Prozeß nicht identifiziert werden 100 - mit Sicherheit um Angehörige des englischen Geheimdienstes "Special Operation Exekutive" (S.O.E.) handelte 101. Die drei identifizierten Frauen Denise Borell, Vera Light und Diana Rowden - erstgenannte war eine in England ausgebildete Französin - waren im Juni und November 1943 in Paris und Dijon verhaftet und im Mai 1944 in ein Frauengefängnis nach Karlsruhe gebracht worden. Von dort wurden sie auf Anweisung des RSHA nach Natzweiler gebracht - das nächstgelegene Konzentrationslager; sie trafen dort am 6. Juli 1944 ein und wurden in den "Bunker" gesperrt. Am Abend wurden sie einzeln in den Räumen des Krematoriums durch Phenolspritzen getötet, ihre Leichen wurden verbrannt.

Der Prozeß versuchte die näheren Umstände der Tat und die an ihr Beteiligten zu ermitteln. Die Aussagen einiger Zeugen und die der Angeklagten selbst waren dabei die einzigen Quellen, auf die sich das Gericht stützen konnte. Es kommt zu dem Schluß, daß die tödlichen Spritzen von den Lagerärzten Rohde und Plaza verabreicht wurden 102 . Anwesend bei der Exekution waren der Adjutant des Kommandanten, Granninger, der Vertreter des Schutzhaftlagerführers Zeuss, Otto, ein Lagersanitäter names Bruttel, ein Vertreter der Politischen Abteilung mit Namen Straub und ein im Krematorium beschäftigter Häftling namens Berg. Als mitschuldig, aber nicht nachweisbar direkt beteiligt wurden der Kommandant Hartjenstein, der Schutzhaftlagerführer Zeuss 103 und der Chef der Politischen Abteilung Wochner befunden.

Wie Kirstein ausführt, lag die besondere Bedeutung dieser Mordaktion liegt im sichtbaren Bemühen aller Beteiligten, ihr Tun möglichst geheim zu halten 104. So mußten an diesem Tag alle Arbeitskommandos des Lagers in ihre Blocks einrücken, zusätzlich berichten mehrere Zeugen, daß es den Häftlingen unter Androhung des Erschießens verboten war, aus dem Fenster zu sehen. Darüber hinaus wird eine der typischen Funktionen eines Konzentrationslagers deutlich, nämlich die, der Gestapo als Exekutionsstätte zu dienen.

Die von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke unter dem Titel "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" herausgegebene Aktendokumentation thematisiert die "medizinischen" Versuche in Konzentrationslagern. Obwohl schon 1948 entstanden, wurde sie erst 1960 unter dem Titel "Medizin ohne Menschlichkeit" allgemein zugänglich gemacht 105. Mitscherlich und Mielke belegen dabei auf der Grundlage der Akten der Nürnberger Prozesse eine Vielzahl sogenannter "medizinischer" Versuche an KL-Häftlingen. Natzweiler war demnach der Schauplatz von Versuchen mit Typhus (Fleckfieber) und den Kampfstoffen Lost und Phosgen. Außerdem wurde in seiner Gaskammer eine große Anzahl von jüdischen Männern und Frauen ermordet, um in der "Reichsuniversität" Straßburg eine Skelettsammlung anzulegen.

Wie eine überlieferte Aktennotiz vom 26. April 1942 belegt, regte Sievers, Reichsgeschäftsführer der SS-eigenen "Forschungs- und Lehrgemeinschaft Ahnenerbe" an, im "Ahnenerbe" ein "Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung" zu gründen. Eine Abteilung dieses Instituts sollte dem Ordinarius für Anatomie an der Universität Straßburg, August Hirt, unterstellt werden. Hirt sollte auf diese Weise ermöglicht werden, Versuche mit dem Kampfstoff Lost an Menschen auszuführen. Himmler erteilte den Befehl zur Errichtung dieses Instituts am 7. Juli 1942 und übertrug die Leitung Sievers; Hirt erhielt am 13. Juli einen Forschungsauftrag, der Menschenversuche in Natzweiler vorsah. Er begann laut Zeugenaussage ab Mitte Oktober mit Versuchen mit flüssigem Lost an rund 30 Häftlingen, von denen sieben nicht überlebten. Beteiligt an diesen Versuchen waren auch der Luftwaffenarzt Wimmer und der Ordinarius für Biologie an der Universität Straßburg Otto Bickenbach. Nachdem eine Gaskammer beim Struthof im April 1943 fertiggestellt worden war, begann eine zweite Versuchsart mit gasförmigem Lost 106. Die Zahl der Opfer dieser Versuche ist unbekannt 107. Die Versuche mit dem Gas Phosgen wurden vor allem von Bickenbach durchgeführt, offensichtlich beteiligte sich aber auch Hirt daran. Nach seiner eigenen Aussage wurde Bickenbach 1943 von Himmler mit der Durchführung dieser Versuche beauftragt, die die Wirksamkeit eines von ihm gefundenen Gegenmittels beweisen sollten 108.

Die Experimente mit einem Fleckfieber-Impfstoff, die außer in Natzweiler hauptsächlich in Buchenwald durchgeführt wurden, fanden in Natzweiler von Herbst 1943 bis Herbst 1944 statt und gingen auf eine Initiative des Ordinarius für Hygiene der Universität Straßburg Eugen Haagen zurück. Nach Vorversuchen an Tieren begann Haagen im Mai 1943 mit einer ersten Versuchsreihe an Menschen. Die Opfer waren 28 polnische Häftlinge des Lagers Schirmeck-Vorbruck. Bereits nach drei Tagen waren zwei Probanden verstorben 109. Das überlieferte Impfbuch beweist weitere Impfungen in Schirmeck. Im Sommer 1943 wurde die Versuchstätigkeit nach Natzweiler verlegt und Hirt hinzugezogen. Ein überlieferter Briefwechsel dokumentiert das Vorgehen: Am 15. November 1943 beschwert sich Haagen in einem Brief an Hirt, daß von den 100 vom "SS-Hauptamt zur Verfügung gestellten Häftlingen" nur 12 in einem Zustand seien, der sie für die Versuche geeignet erscheinen lasse 110. Haagen forderte noch einmal 100 Häftlinge in besserem Gesundheitszustand an. Er erhielt daraufhin 90 Häftlinge aus Auschwitz, die im Winter 1943/44 einer Versuchsreihe unterzogen wurden. Es kann alleine bei diesen Tests nach Zeugenaussagen von etwa 50 Todesopfern ausgegangen werden 111. Haagen forderte im Mai und Juni 1944 erneut 200 Häftlinge an. Obwohl Haagen selbst betonte, daß es sich dabei um nicht realisierte Planungen gehandelt habe, kann angesichts mehrerer Zeugenaussagen vermutet werden, daß er die Versuche während des ganzen Sommers 1944 durchgeführt hat 112.

Aufs Hirts Initiative geht auch die oben schon erwähnte Ermordung von Juden zum Zweck der Anlage einer Skelettsammlung zurück. Ein umfangreicher Briefwechsel belegt, daß Hirt zunächst am 9. Februar 1942 bei Himmler brieflich anregte, die "Schädel von jüdischbolschewistischen Kommissaren zur wissenschaftlichen Forschung an der Reichsuniversität Straßburg sicherzustellen" 113. Zu diesem Zweck sollten nach der Vorstellung Hirts gezielt "geeignete" Juden festgenommen, getötet und ihre Schädel anschließend präpariert werden. Ein weiterer, ebenfalls abgedruckter Brief von Sievers an Eichmann beweist, daß ein Dr. Beger am 15. Juni 1943 in Auschwitz insgesamt 115 Personen für diese Skelettsammlung selektiert hatte; sie wurden zur Ermordung nach Natzweiler gebracht und erreichten das elsässische KL laut der Aussage des damaligen Lagerkommandanten Kramer Anfang August; unter Überwachung des von Hirt instruierten Lagerkommandanten wurden sie nach kurzer Haft vergast und ihre Leichen am nächsten Morgen mit einem Lastwagen nach Straßburg in das Anatomische Institut gebracht. Kramer spricht allerdings von 80 Opfern 114. Annähernd übereinstimmend berichtete ein ehemaliger Angestellter des Anatomischen Instituts, daß im August 1943 86 Leichen dorthin gebracht und in mit Alkohol gefüllte Becken zur Konservierung gelegt worden seien 115. Sie lagen dort über ein Jahr, bis Hirt angesichts der Kriegslage in einem Brief an Himmler anregte, die Sammlung "vollständig aufzulösen" 116.

Eine von Serge Klarsfeld 1985 veröffentlichte Dokumentation beschäftigt sich ausschließlich mit dieser Mordaktion 117. Grundlage sind die Aktenbestände eines Major Jardin, der nach 1944 Ermittlungsrichter eines Straßburger Militärgerichtsprozesses war 118. Ergänzt werden diese Dokumente durch einige Unterlagen, die bereits im Kontext der Nürnberger Prozesse publiziert wurden 119, und durch Ergebnisse eines Prozesses gegen Beger, der 1970/71 in Frankfurt stattgefunden hat 120. Das Vorwort dieser Dokumentation beschäftigt sich mit technischen Einzelheiten des Massenmordes, beispielsweise mit der Frage, welches Gas verwendet wurde. Anschließend sind die wichtigsten Dokumente abgedruckt. Diese wurden bereits in Nürnberg als Beweisstücke verwendet und stammen aus den genannten Aktenbeständen. Außerdem werden Aussagen Kramers vom 26. Juli und 6. Dezember 1945 zitiert. In den Auszügen der Akten Jardins finden sich zahlreiche Fotos und Skizzen zum KL selbst, vor allem aber zum Krematorium und der Gaskammer. Fotos der Alliierten von den im Anatomischen Institut vorgefundenen Leichen und Leichenteilen bilden den Abschluß 121.

Die Auswertung dieser Quellengattung erweist sich als sehr ergiebig. Gerade dadurch, daß sich im Beweismaterial unterschiedliche Quellen wie Zeugenaussagen, SS-Dokumente und Beurteilungen Dritter finden, ergibt sich ein wesentlich schärferes Bild als dies aus den schriftlichen Erinnerungen der Häftlinge erschlossen werden konnte. Dieser Befund stimmt mit den Erfahrungen, die bereits bei anderen Forschungsvorhaben gemacht wurden, überein: beispielsweise stützte Raul Hilberg 1977 mit Erfolg seine Untersuchung über die Beteiligung der Reichsbahn an der Shoah auf solche Quellen 122. Nachdem man unter anderem durch Hilbergs Arbeit auf diese Quellengattung aufmerksam geworden war, wurde von Historikern verstärkt gefordert, diese bis dahin kaum beachtete Masse des von Gerichten erhobenen Materials auszuwerten 123. Mittlerweile geschieht dies in zunehmenden Maße. Ebenso wie bei der Auswertung von Häftlingserinnerungen ist bei der Verwendung von Gerichtsunterlagen jedoch ein besonderes Maß quellenkritischer Vorüberlegungen notwendig, die sich zum einen auf die Entstehungszusammenhänge dieser Akten, zum anderen auf die Verwertbarkeit der einzelnen Bestandteile wie Vorermittlungsverfahren, Anklageschriften, Zeugenaussagen oder anderer Beweismittel richtet 124. Es ist daher geboten, sich auch auf dem Weg zu einer Geschichte des KL Natzweiler und seiner Außenkommandos auf die Suche nach solchen Akten zu machen, die unveröffentlicht und daher noch nicht ausgewertet sind. Um sich klar zu machen, wer gegen wen unter welchen Bedingungen wegen NS-Verbrechen vor Gericht tätig werden kann oder konnte, ist ein Überblick über die Entwicklung der Strafverfolgung von NS-Verbrechen unabdingbar.

Bei der folgenden Darstellung werden aus datenschutzrechtlichen Gründen Namen von Personen, die nicht als Personen der Zeitgeschichte gelten, abgekürzt, soweit diese nicht bereits veröffentlicht wurden.

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