Soziale Gerechtigkeit? (Archiv)

Populismus oder Politik? Soziale Gerechtigkeit oder Stimmenfang? Bürgernähe oder Bürgerblendung? Die Politik in Deutschland leidet momentan an ihrer Glaubwürdigkeit. Sie begibt sie sich auf einen schmalen Grad zwischen Wahlkampf und konstruktiv mutigen Entscheidungen. Nach der Wahl ist vor der Wahl, doch zu welchem Preis? Egal ob Pendlerpauschale, Mehrwertsteuersenkung, Rentenerhöhung oder Arbeitslosengeld. Das Füllhorn wird wieder geöffnet. Ist den Volksvertretern beim kurzsichtigen Wählerfang jedes Mittel recht oder ist Flexibilität in der heutigen Politik notwendig? Darf die Politik heute alles über Bord werfen, was gestern noch galt?

Deutschland im Frühjahr 2008: Die Wirtschaft wächst trotz internationaler Bankenkrise immer noch, die Steuereinnahmen übertreffen alle Prognosen, die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Der Aufschwung hat das Land erfasst, es bieten sich neue Chancen, und doch passen die Wirtschaftsdaten nicht zur empfundenen Wirklichkeit. Zwei von drei Deutschen finden, dass es im Land sozial ungerecht zugeht. Ihr Anteil steigt – die Konjunktur wird besser, die Stimmung aber schlechter. Der Aufschwung ist bei der Mehrheit der Bevölkerung nicht angekommen, seit Jahren gibt es Reallohnverluste. Längst gibt es eine Flut unterschiedlicher Gerechtigkeitsbegriffe: Generationengerechtigkeit, Chancengerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Bildungsgerechtigkeit, soziale Gerechtigkeit.  Nach dem Einzug der Linken auch in westdeutsche Landtage kämpfen Politiker aller Parteien darum, wer hierzulande wohl das sozialere und gerechtere Programm bietet.

Mehr Netto für alle

"Dass Wahlkampf ist in Deutschland, merkt man spätestens dann, wenn wieder jemand die Verbesserung der Pendlerpauschale fordert", so Heike Göbel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. CSU-Parteichef Erwin Huber hat sich durch diese Forderung ins Gespräch gebracht. Er möchte die Pendlerpauschale wieder ab dem ersten Kilometer einführen und damit die Kürzung vom 1. Januar 2007 rückgängig machen. Zusätzlich will die CSU Entlastungen bei Steuern und Abgaben, vor allem für Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Die dazu notwendige Senkung des Einkommensteuertarifs soll nicht durch den Abbau von Abzugsmöglichkeiten gegenfinanziert werden. Vielmehr sollen die haushaltspolitischen Spielräume genutzt werden, um eine echte Entlastung für Jedermann zu erreichen. Huber erntet dafür viel Kritik, wie zum Beispiel von der Bundeskanzlerin und dem Finanzminister, aber auch Zustimmung, beispielsweise aus den Reihen der Linkspartei. Doch wie viel Kalkül steckt in Hubers Forderung, wenn man bedenkt, dass im Herbst die bayerischen Landtagswahlen anstehen und die CSU das schlechte Abschneiden bei den Kommunalwahlen wieder gutmachen will?

Die Große Koalition hatte Ende 2005 zusammen mit dem Abbau von Steuersubventionen auch beschlossen, die Pendlerpauschale ab 2007 zu kürzen. In 2007 führte dies zu Mehreinnahmen von Bund und Ländern in Höhe von 1,3 Mrd. Euro, ab 2008 zu einem Plus von jährlich 2,5 Mrd. Euro. Die Koalition einigte sich schließlich darauf, generell für den Weg zur Arbeit das "Werkstorprinzip" einzuführen: Danach zählt der Weg nicht zur Arbeits-, sondern zur Privatsphäre, die Kosten sind nicht mehr steuerlich absetzbar.

Momentan erhalten Arbeitnehmer die Pendlerpauschale erst ab dem 21. Kilometer – als Ausnahme für Härtefälle. Pro weiter gefahrenem Kilometer können sie 30 Cent steuerlich geltend machen. Diese Neuregelung liegt momentan dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor, da der Verdacht der Verfassungswidrigkeit besteht. Eine Entscheidung soll noch in diesem Jahr getroffen werden. Ein Argument für die uneingeschränkte Pendlerpauschale ist im Grundgesetz zu finden. Aufwendungen die dem Erwerb dienen sind demnach steuerfrei zu stellen. Ob das auch für die ersten 20 Kilometer gelten muss, bleibt abzuwarten.

Erwin Huber möchte die Beschlüsse jedoch schon vorher im Bundestag rückgängig machen. Diese Forderung geht laut Huber auf ein Paket zur Stärkung des Mittelstandes zurück, das er in der nächsten Koalitionssitzung vorstellen möchte. Ebenso führten steigende Ölpreise zu einer untragbaren Mehrbelastung der Pendler. Zustimmung erhält der neue Parteichef der CSU hierbei von der Linkspartei. Oskar Lafontaine begrüßte den Vorschlag, den die Linke in den Bundestag gebracht habe. Auch Wirtschaftsminister Michael Glos sieht genug finanzielle Mittel um die Pendler zu entlasten. Nur: Auf wen sollen die Mehrkosten konkret umgelegt werden - auf die Stadtbewohner mit den kürzeren Wegen zur Arbeit und dafür höheren Lebenshaltungskosten? Was die Politik nicht sagt ist, dass die Kosten, die durch die Pendlerpauschale entstehen, u.a. die Arbeitnehmer tragen, die in der Nähe des Arbeitsplatzes wohnen, es zahlen die Rentner, die Studenten usw. über indirekte Steuern mit. Die zusätzlichen Mittel kommen also nicht vom Staat, sondern durch Umverteilung aus den Taschen der Mitbürger.

Es gibt jedoch viele Stimmen gegen Hubers Vorstoß, auch aus den eigenen Reihen. So lehnt die Bundeskanzlerin Angela Merkel diesen Schritt ab. Die alte Pendlerpauschale würde zu Steuerausfällen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro führen. Man müsse laut Michael Fuchs (CDU) Subventionen abbauen und nicht wieder einführen. Er sehe mehr soziale Gerechtigkeit in der Streichung aller Subventionen und der gleichzeitigen Runtersetzung der Steuersätze.

Die CSU verlangt, im Zuge einer Steuerreform rund 28 Milliarden an die Bürger zurückzugeben. Diese sollen in drei Stufen in den Jahren 2009, 2010 und 2012 umgesetzt werden. Bereits im kommenden Jahr sollen Kindergeld und Kinderfreibetrag angehoben werden. Zudem soll die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer wieder eingeführt werden. Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden werden im Jahr 2012 rund 90 Milliarden Euro höher sein als 2008. Die dann insgesamt erwarteten 645 Milliarden entsprechen allerdings fast der bisherigen Kalkulation. Der jüngsten Schätzung zufolge ergibt sich gegenüber der Prognose vom November: Bis 2011 kann mit zusätzlichen Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden gerechnet werden. Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) zog daraus die Schlussfolgerung, dass es keine Spielräume für die Bedienung von Wunschlisten gebe. Wer dies den Menschen verspreche, verschweige, dass er den Weg zurück in die Verschuldung gehen wolle. Steinbrück will 2011 erstmals einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen.

Die SPD sowie die meisten Medien halten den Vorschlag Hubers für reinen Populismus. Durch die Wahlschlappe der CSU bei der Kommunalwahl im März 2008 und der bevorstehenden Landtagswahl, in der die CSU ihre absolute Mehrheit verlieren könnte, steht Huber unter Zugzwang. Auch das Zurückrudern beim Nichtraucherschutz-Gesetz wurde hauptsächlich so bewertet. Die Zeit schreibt: "Bei der CSU war die Grenze zwischen Programm und Populismus immer fließend. Seit Hubers Amtsantritt gibt es keine Grenze mehr."

Links:

Die Zeit: Wider den Populismus
Die Zeit: Populismus aus dem Süden
Die Zeit: Beifall von links für CSU-Vorschläge
Spiegel online: CSU will alte Pendlerpauschale zurück
Spiegel online: Glos widerspricht Merkel - Spielraum für Comeback der alten Pendlerpauschale
Spiegel online: Lafontaine lobt CSU für Pendlerpauschalen-Vorstoß
FAZ: Pro und Contra Pendlerpauschale
ZDFheute: CSU will alte Pendlerpauschale zurück

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Mehrwertsteuersenkung

Kaum ein Preis steigt momentan so rapide und kontinuierlich an wie die Energiekosten. Damit kommen auf die Verbraucher extreme Mehrbelastungen zu. Haben die Energiekonzerne erst Anfang des Jahres die Preisschraube nach oben gedreht, so wurde jetzt eine neue Preiswelle angekündigt. In diesem Zusammenhang forderte FDP-Parteichef Guildo Westerwelle eine Senkung der Mehrwertsteuer für Gas, Strom und Öl von 19 auf 7 Prozent. "Bezahlbare Energie ist ein Grundbedürfnis - die Energiekosten sind der Brotpreis des 21. Jahrhunderts" so Westerwelle in der "Bild"-Zeitung.

Mindestens 182 Gasversorger wollen im April und Mai diesen Jahres die Preise um durchschnittlich 6,7 Prozent erhöhen. Für einen Durchschnittshaushalt mit 20000 Kilowattstunden pro Jahr steigen damit die Energiekosten um ca. 186 Euro an. Der Grund hierfür ist der Ölmarkt. Im Oktober 2007 hat der Ölpreis die 80-Dollar-Marke überschritten und lag zeitweise bei 110 Dollar pro Barrel Öl. Durch die Kopplung an den Ölpreis, steigt auch der Gaspreis. Dieses Zusammenspiel sei jedoch unnötig und nicht mehr zeitgemäß, kritisiert Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die Konzerne kassieren hier ungerechtfertigt ab.
Auch der Strompreis geht weiter nach oben. 57 Anbieter heben die Strompreise zum 1.April, bzw. 1. Mai um durchschnittlich 5,9 Prozent an.

Auf die Welle der Empörung über die steigenden Energiekosten springt FDP-Spitze Guido Westerwelle geschickt auf. In einem Interview mit der "Bild"-Zeitung macht er deutlich, dass Energie für ihn ein Grundbedürfnis, ähnlich wie Brot ist. Daher solle Energie, genauso wie Lebensmittel, mit nur 7 Prozent Mehrwertsteuer belegt sein. Energie dürfe kein Luxus werden.
Laut Westerwelle mache der Staat Energie durch Steuern unnötig teuer. Es seien zwei Drittel der Kosten für Strom, Gas und Öl Steuern. Zum Steuerausfall in einstelliger Milliardenhöhe machte Der FDP-Chef keine genauen Angaben. "Der Staat verplempere doch für alles Mögliche Geld", so sein Statement.

Verbraucherschützer und Wirtschaftsexperten kritisieren jedoch die Pläne der FDP und halten die Forderung für sinnlos. Eine Absenkung des Mehrwertsteuersatzes hätte erfahrungsgemäß eine "indirekte Subventionierung der Energiekonzerne" zur Folge, so Holger Krawinkel vom Bundesverband der Verbraucherzentrale zur "Berliner Zeitung". Das heißt, dass Unternehmen eine derartige Senkung dazu nutzen würden, ihre Gewinne zu steigern. Statt dessen fordern die Experten eine Steigerung des Wettbewerbs. Hier müsse die Politik ansetzen, so Kemfert.

Auch von Regierungsseite kommt Widerstand gegen den Vorstoß der FDP. Wirtschaftsminister Michael Glos hält eine Absenkung der Mehrwertsteuer nicht für den richtigen Weg. Das Bundesfinanzministerium lehnte die Forderung ab.
Jürgen Rüttgers von der CDU sieht eher einen Bedarf darin, Menschen mit wenig Einkommen zu unterstützen und damit von dem Druck der steigenden Energiepreise zu entlasten.
Für SPD und Grüne kommt noch das Argument dazu, dass erneuerbare Energie mit verbilligten Gas- und Ölpreisen nicht mithalten könnten.
Unterstützung erhielt Westerwelles Vorschlag von der Linkspartei, dem Bund der Steuerzahler und der Deutschen Steuergewerkschaft.

Links:

Spiegel Online: Westerwelle fordert niedrige Mehrwertsteuer auf Energie
Spiegel Online: Streit über Mehrwertsteuer für Energie: Glos gegen Absenkung
FAZ: Streit über Billig-Mehrwertsteuer für Energie
Die Zeit: FDP-Pläne: Experten gegen niedrige Energie-Mehrwertsteuer
ZDFheute: Westerwelle: Staat treibt Energiepreise an

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Rentenerhöhung

Nach drei Nullrunden für die Rentner und einer Rentenerhöhung von 0.54 Prozent im letzten Jahr, sollen nun die Renten wieder steigen. Arbeits- und Sozialminister Olaf Scholz (SPD) fordert nach Absprache mit der Bundeskanzlerin einen Anstieg um 1,1 Prozent. Es sei nur gerecht, wenn auch die Rentner vom Aufschwung im Land profitieren könnten. Allerdings rufen diese Forderungen viele Kritiker auf den Plan, die die Vorschläge der Bundesregierung für unüberlegt und auf lange Sicht gefährlich halten. Um die Erhöhung zu finanzieren, müsste der so genannte Riester-Faktor für 2 Jahre ausgesetzt werden. Dieser Abschlag an die Riesterrente dämpfte seit 2003 die Rentenerhöhung um etwa 0,6 Prozent pro Jahr. Schon in den letzten Jahren hätten die Renten aufgrund der niedrigen Lohnzuwächse eigentlich gesenkt werden müssen, was politisch aber nicht durchsetzbar war. Sollte die Erhöhung kommen, müssen die Rentenerhöhungen von 2010 bis 2014  nach Angaben des Arbeitsministerium entsprechend gekürzt werden.

Die Inflationsrate im vergangenen Jahr betrug 2,2 Prozent, momentan liegt sie sogar bei 3,1 Prozent. Faktisch haben die Rentner - aber auch die Arbeitnehmer - in den letzten Jahren also immer weniger Geld zur Verfügung. Auch mit der geplanten Rentenerhöhung um 1,1 Prozent wird diese Tendenz bleiben. Außerdem werden Rentner ab Juli mit der Erhöhung der Pflegeversicherungsbeiträge um 0.25 Prozent zusätzlich belastet. Aus diesen Gründen sieht sich die Bundesregierung gerechtfertigt eine stärkere Rentenerhöhung durchzuführen als bisher geplant. Dafür ist sie auch bereit das Gesetz im Bezug auf die Abschreibungen zur Riesterrente zu ändern.

Die Politik hatte einst beschlossen, die Finanzierbarkeit des Rentensystems langfristig durch eine Absenkung des Rentenniveaus zu sichern. Junge und Alte sollten gleichermaßen in die Pflicht genommen werden. Die Zuwächse bei den Renten sollten geringer ausfallen, dafür sollten die Beiträge zur Rentenversicherung nicht exorbitant steigen. Ohne eine solche Absenkung würden sich die Rentenbeiträge von derzeit 19,9 Prozent des Bruttoeinkommens auf mehr als 30 Prozent im Jahr 2030 erhöhen. Die bereits beschlossenen und noch geplanten Änderungen des Rentenrechts führen dazu, dass das Rentenniveau bis zum Jahr 2030 auf weniger als 60 Prozent des Nettoeinkommens sinkt. Im selben Zeitraum erhöhen sich die Beitragssätze allmählich bis auf maximal 22 Prozent des Bruttoeinkommens. Trotz der Sparmaßnahmen im Sozialsystem werden die heutigen Arbeitnehmer also künftig immer größere Beitragslasten schultern müssen – eine zwangsläufige Folge der Alterung der Gesellschaft. 1950 finanzierten vier Arbeitnehmer einen Rentner, heute sind es nur noch zwei. Laut Prognosen muss in 30 Jahren sogar ein Arbeitnehmer allein für einen Ruheständler aufkommen. Gleichzeitig sind die Jüngeren gefordert, zusätzlich für ihr Alter privat vorzusorgen, weil ihnen ansonsten bei einer niedrigen gesetzlichen Rente ein Lebensabend in Armut droht. Doch für die private Vorsorge bleibt gerade den Beziehern kleinerer und mittlerer Einkommen kaum mehr Luft, weil der Staat ihnen hohe Steuern und Abgaben abverlangt. Bis 2020 soll der Rentenbeitrag nicht über 20 Prozent klettern. Um dieses Ziel zu erreichen, müsste die künftige Regierung den dämpfenden Riester-Faktor, den sie jetzt 2008 und 2009 aussetzen will, in den Jahren 2012 und 2013 nachholen. Statt um 2,2 Prozent würden die Renten 2012 um 0,7 Prozent steigen. Das wäre kaum mehr, als in diesem Jahr ohne Änderung herausgesprungen wäre. Nur: 2013 sind wieder Bundestagswahlen.

Die geplante Erhöhung der Renten belastet nicht nur die Rentenkasse dauerhaft mit Milliarden. Hinzu kommt, dass auch die steuerfinanzierten Hartz-IV-Sätze entsprechend angehoben werden müssen, weil diese an die Rente gekoppelt sind.

Doch es regt sich Widerstand, auch in den eigenen Reihen der großen Koalition. Besonders die jüngeren Abgeordneten sehen in den Plänen einen Fehler zu lasten der Gesellschaft. Eine immer stärkere Belastung der folgenden Generationen, sei aufgrund der ungelösten Herausforderungen in der Zukunft nicht verantwortbar, so Kurt Lauk, Präsident des Wirtschaftsrates der CDU. Michael Fuchs (CDU) bekräftigt: "Es wäre sinnvoller, die Milliarden für eine Senkung des Rentenversicherungsbeitrags auszugeben - davon profitieren mit etwas Zeitverzögerung auch die Rentner, da mit steigenden Löhnen automatisch die Renten steigen." Die Wirtschaftsverbände sehen dem Paket von Aktionen, wie die Rentenerhöhung, den Mindestlohn und das Arbeitslosengeld einen Linksruck und beanstanden, dass für Union und SPD offenbar kein Wahlgeschenk zu teuer sei. Auch die Arbeitgeber sind irritiert: mit solche einer Aktion rücken die Beitragssenkungen in weite Ferne. Geplant war, die Rentenbeiträge ab 2011 von 19,9 auf 19,3 Prozent abzusenken.

Laut Handelblatt lägen die Kosten für den Staat enorm viel höher als von der Bundesregierung angegeben. Arbeitsminister Scholz kündigte eine Mehrbelastung von 2,5 Milliarden Euro an, tatsächlich müsse mit 12,5 Milliarden Euro gerechnet werden, schreibt das Handelsblatt. Der Unterschied liegt in der Länge der Berechnung. Scholz davon aus, dass es nur in diesem und im nächsten Jahr zu Mehrbelastungen kommen wird, langfristig gebe es "keine unmittelbaren finanziellen Belastungen". Das Handelsblatt errechnet aber allein bis 2011 eine Summe von 9,1 Milliarden Euro.

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Zeitschrift Politik & Unterricht 1/2 - 2007
Demografischer Wandel

Wir werden älter, wir werden weniger
Zeitschrift PUU: Demografischer WandelDas Bewusstsein um den demografischen Wandel unserer Bevölkerung hat die Gesellschaft erreicht: Fast täglich berichten Medien darüber, Statistische Ämter und Forschungsinstitute bieten laufend neue Berichte und Prognosen. Das Thema prägt auch die Politik, denn es geht um eine rechtzeitige Reaktion auf den Wandel, um die Zukunft der jungen Generation wie auch um die Konsolidierung und die Zukunftsfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme. Grundannahmen unserer Gesellschaft wie der "Generationenvertrag", der über fünfzig Jahre zur sozialen Stabilität Deutschlands beigetragen hat, geraten ins Wanken. ...mehr

Links:

Spiegel online: Arbeitgeber werfen Regierung Zahlen-Trickserei bei Rentenerhöhung vor
Spiegel online: Abgeordnete wettern gegen geplante Rentenerhöhung
Spiegel online: Wirtschaftsbosse kritisieren "Retro-Politik"
Spiegel online: Wie die Jungen in der Union das Schweigen lernen
Spiegel online: Oettinger erfuhr über Renten-Anhebungsplan aus der Zeitung
Spiegel online: Rentenerhöhung viel teurer als erwartet
FAZ: Rentenerhöhung wird wohl teurer als geplant
manager-magazin: Hoffnung auf ein wenig mehr Geld
Zeit: Die Rente wird höher
ZDFheute: Scholz: Renten steigen und 1,1 Prozent

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Arbeitslosengeld

Die Zahl der Arbeitslosen hatte nach der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (Hartz IV) zu Beginn des Jahres 2005 mit 5,2 Millionen ihren bisherigen Höchststand erreicht. Jetzt liegt sie aufgrund des Wirtschaftsaufschwungs bei offiziell 3,6 Millionen und damit so niedrig wie seit Mitte der neunziger Jahre nicht mehr. Die Zahl der Empfänger von Arbeitslosengeld I hat sich seit 2001 halbiert und liegt nur noch etwas über einer Million. Auch  bei den Langzeitarbeitslosen (ALG II) stellen sich - wenn auch langsamer - Erfolge ein. Die Zahl der Beschäftigten stieg innerhalb eines Jahres um mehr als eine halbe Million. Das senkt Ausgaben und erhöht Einnahmen, was der Arbeitslosenversicherung in diesem Jahr ein Plus von mehr als sechs Milliarden Euro bescheren dürfte. Geld, das Begehrlichkeiten weckt. SPD-Chef Kurt Beck hatte vorgeschlagen, die Bezugdauer von ALG I vom Alter abhängig zu machen und modifiziert damit ein Modell der CDU. Der Koalitionsausschuss verständigte sich am 12. November 2007 darauf, Älteren schon bald wieder länger Arbeitslosengeld zu zahlen und dies kostenneutral für die Bundesagentur für Arbeit zu finanzieren. Der Bundestag hat am 16. November die Verlängerung des Arbeitslosengelds I für Ältere und die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent beschlossen.

Die Agenda 2010 kürzte das Arbeitslosengeld von maximal 32 Monaten auf 12 Monate bzw. auf 18 Monate für über 55-Jährige. Anschließend erhalten arbeitsfähige Erwerbslose nur noch Arbeitslosengeld II, das den früheren Sozialhilfesätzen entspricht. Wenn bestimmte Freigrenzen überschritten werden, wird Vermögen angerechnet. Vor der Hartz-Reform gingen die Älteren häufig freiwillig in den Vorruhestand. Bei 32 Monaten Arbeitslosengeld, danach einer zeitlich unbegrenzten, wenn auch niedrigeren Arbeitslosenhilfe (auch hier wurde schon das Vermögen angerechnet), einer eventuellen Abfindung und anschließender Rente vor Augen gingen sie sogar massenhaft in den Vorruhestand.  Firmen rationalisierten so zu Lasten der Solidargemeinschaft. Die Hartz-Reformen haben zudem das Verhalten der Arbeitslosen verändert: Gerade die Älteren suchen jetzt früher einen Job und sind eher bereit, eine schlechter bezahlte Stelle anzunehmen.

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Jetzt ringt die SPD um Gerhard Schröders Sozialreformen. Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck hat sich, getrieben von schlechten Umfrageergebnissen, mit seinem Vorschlag, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I für ältere Arbeitslose zu verlängern, zum Vorkämpfer einer sozialpolitischen Wende gemacht. Beck sieht bei den Hartz-Gesetzen eine Gerechtigkeitslücke: Ältere Arbeitslose haben es auf dem Arbeitsmarkt immer noch wesentlich schwerer, wieder Fuß zu fassen. Ältere Arbeitslose haben in der Regel auch wesentlich länger in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt als jüngere. Beschäftigte ab 45 Jahren sollen künftig 15 Monate ALG I erhalten, allerdings nur, wenn sie in den fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens 30 Monate lang sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren. Arbeitnehmer ab 50 sollen bei mindestens 36 Monaten vorheriger Beitragszahlung 18 Monate lang Arbeitslosengeld I erhalten, bei 42 Monaten sozialversicherungspflichtiger Arbeit 24 Monate. Beck beziffert die Kosten auf 800 Millionen Euro. Damit lehnt er sich an ein Model des DGB an. Und Kurt Beck steht nicht allein: Die Mehrheit der Deutschen meint, dass es im Lande nicht gerecht zugeht. Das soll der Staat ändern - längeres Arbeitslosengeld, Mindestlöhne und keine Rente ab 67 sind der Weg zu mehr Gerechtigkeit.

Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) stemmt sich gegen eine Änderung der Hartz-Gesetze. Wichtiger als die Verlängerung von ALG I sei die Förderung älterer Arbeitsloser. Müntefering kann auf positive Zahlen verweisen: Die Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen stieg aufgrund der guten Weltkonjunktur seit dem Jahr 2000 um mehr als 10 Prozentpunkte und liegt nun bei 52 Prozent. Die Arbeitslosenzahl der über 50-Jährigen ist von 1,1 Millionen im Herbst 2006 auf 900.000 im September 2007 gesunken. Besonders wichtig: Die Arbeitslosenquote der 55- bis 64-Jährigen sank in den vergangenen zwölf Monaten um 3,7 Prozentpunkte, die der restlichen Erwerbsfähigen dagegen nur um 2,1 Prozentpunkte. Langsam nimmt auch die Wirtschaft Abschied von ihrem Jugendlichkeitswahn und besinnt sich - auch aufgrund demografischer Entwicklungen - vermehrt auch ältere Arbeitnehmer zu beschäftigen.

Der SPD-Vorstand hatte am 22. Oktober 2008 einem längeren Arbeitslosengeld für Ältere zugestimmt. Auf dem Bundesparteitag der SPD in Hamburg stimmten auch die Delegierten am 26. Oktober dem Vorschlag Becks mit großer Mehrheit zu. Eine Aussprache gab es nicht. Finanziert werden soll die Verlängerung des ALG I aus Überschüssen der Bundesagentur.

Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) fordert seit langem, die Bezugsdauer für ältere Arbeitslosengeld-Empfänger zu verlängern. Wer länger einzahlt soll auch länger ALG I beziehen: 15 Monate Arbeitslosengeld für Versicherte mit mehr als 15 Beitragsjahren, 18 Monate nach 25 Beitragsjahren, und 24 Monate nach 40 Jahren. Auf dem Parteitag der CDU in Dresden Ende 2006 beschloss die CDU auf Antrag von Rüttgers, Arbeitslosen mit längeren Beitragszeiten auch länger Arbeitslosengeld zu zahlen. Bei dem Beschluss ist es bisher geblieben. Wer kürzer Beiträge entrichtet, erhält aber weniger als die zwölf Monate Arbeitslosengeld I, die jetzt gelten.
 
Die CSU plädierte dafür, die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I nach der Beitragsdauer zu bemessen. Das Alter eines Arbeitslosen sei das falsche Kriterium, um mehr Leistungsgerechtigkeit herzustellen. Eine längere Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I müsse aufkommensneutral finanziert werden.

Angesichts der Landtagswahlen in Hessen und in Niedersachsen Anfang 2008 kommt zwischen den Volksparteien ein politischer Wettlauf um die Frage in Gang, wer die beste Sozialpolitik macht. Teils reagieren die Politiker damit auf den Druck der Linkspartei, teils argumentieren sie auch nur, jetzt im Aufschwung könne man wieder etwas verteilen. In dieser Stimmung geht unter, dass der Bundeshaushalt noch lange nicht ausgeglichen ist, die Verschuldung immer noch bei 1,5 Billionen Euro liegt, die Sozialabgaben immer noch zu hoch sind und Konjunkturforscher die Wachstumsprognosen bereits nach unten korrigieren.

Arbeitsmarktexperten sind entsetzt: Wer jetzt mühsam durchgesetzte Reformen wieder rückgängig macht, müsse im nächsten Abschwung noch radikaler kürzen. Die Zeche müssten die Arbeitnehmer zahlen - mit steigenden Renten- und Arbeitslosenbeiträgen. Nötig sei vor allem eine bessere Fortbildung und Qualifizierung.

Die Wende musste kommen. Der öffentliche Druck zur Einigung der Volksparteien war einfach zu hoch. Der Koalitionsausschuss verständigte sich am 12. November darauf, Älteren schon bald wieder länger Arbeitslosengeld zu zahlen und dies kostenneutral für die Bundesagentur für Arbeit zu finanzieren. Für über 50-Jährige wird das ALG 1 künftig 15 Monate lang gezahlt, ab 55 Jahren 18 Monate und ab 58 Jahren 24 Monate. Die entsprechenden Vorversicherungszeiten würden noch festgelegt. Wer länger ALG I beziehe, soll von der Bundesagentur entweder eine konkrete Beschäftigung angeboten bekommen oder einen Eingliederungsschein erhalten. Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll nach dem Willen der Regierungsparteien an 1. Januar 2008 von zurzeit 4,4 auf 3,3 Prozent gesenkt werden. Die zusätzlichen Kosten für die ALG I-Verlängerung von 1 Milliarde Euro sollen durch einen Rückgriff auf Eingliederungsmittel bei der Bundesagentur für Arbeit von rund 500 Millionen Euro aufgefangen werden. Weitere 270 Mio. Euro kämen aus Einsparungen beim ALG II durch die längere Bezugsdauer beim ALG I, die der Bund an die Bundesagentur weitergebe.
Die Runde verständigte sich zusätzlich darauf, für Empfänger von ALG II zusätzlich eine Milliarde Euro zur Verfügung zu stellen. Damit sollen die Anstrengungen intensiviert werden, ALG-II-Empfänger schneller wieder in Beschäftigung zu bringen. Zudem soll der Bund 200 Millionen Euro aufbringen, um Kinder aus sozial schwachen Familien besser zu unterstützen.
Der Bundestag hat am 16. November die Verlängerung des Arbeitslosengelds I für Ältere und die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 3,3 Prozent beschlossen.

Links:

  • LpB-Spezial: Arbeitslosengeld II - Hartz IV
  • FAZ: SPD - Streit ums Soziale
  • Stiftung Jugend und Bildung: SOZIALPOLITIK
    Sozialpolitik ist ein kostenloses Medienpaket für den Unterricht in den Klassen 9 bis 12/13 an allgemeinbildenden oder berufsbildenden Schulen und für das Selbststudium. Die Materialien führen in das Thema soziale Sicherung ein und geben einen Überblick über den Sozialstaat Deutschland sowie die wichtigsten Bereiche der Sozialpolitik. Das Medienpaket umfasst mehrere Informationsangebote, die eng miteinander verknüpft sind: ein Schülermagazin, Arbeitshefte (auch in Leichter Sprache), eine Lehrerinformation, Overhead-Folien, ein Plakat und eine barrierefrei aufbereitete Internetplattform.

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