Der Beutelsbacher Konsens: Entstehung und Wirkung

von Prof. Dr. Hans-Georg Wehling

Als Demokrat wird man nicht geboren, vielmehr muss Demokratie gelernt werden. Entweder von klein auf, vermittelt durch das Elternhaus, oder aber – nach einer Diktatur mit ihrer demokratiefeindlichen Ideologie und mit undemokratischen Strukturen, in der auch die Eltern keine Demokratie lernen konnten – muss der Staat eingreifen und politische Bildung im Sinne von Demokratie-Lernen organisieren. Als geeignete Organisationen haben sich dafür in Deutschland die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung bewährt: Einerseits sind sie staatliche Behörden, aus dem jeweiligen Staatsetat finanziert, andererseits wird ihnen die notwendige Unabhängigkeit von der jeweiligen Regierung gewährt, durch ein Kuratorium als Aufsichtsorgan, das auch die Opposition einbezieht wie auch gesellschaftliche Gruppen, z. B. Kirchen, Gewerkschaften, Landesjugendring u. a.

Die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts in Deutschland waren durch eine parteipolitische Polarisierung gekennzeichnet, nicht zuletzt als Folge der studentischen „Revolte“ von 1968 und den darauffolgenden Jahren. Die „1968er-Revolution“ mündete zum kleinen Teil in die terroristischen Herausforderung der Demokratie in Gestalt der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) mit Attentaten und Bombenanschlägen. In Bevölkerung und Parteien setzte der Streit über die Ursachen und die Hintergründe ein. Der Linken (vor allem der SPD) wurde vorgeworfen, sie habe zu lange diese Auswüchse geduldet, ja allzu lange den „Studentenprotest“ mit Sympathie begleitet. Der Rechten (insbesondere der CDU) wurde vorgehalten, durch zu geringe Reformbereitschaft, durch Verkrustung und Starrsinn einen solchen Protest erst hervorgerufen zu haben. Die Lehrpläne für das Schulfach Politik (mit den Namen „Gemeinschaftskunde“ oder „Sozialkunde“) versuchten, darauf  konservativ oder progressiv zu reagieren. Denn die Lehrpläne für die Schulen werden von den jeweiligen Landesregierungen geprägt. Die „Hessischen Rahmenrichtlinien“, verabschiedet von einer SPD-Landesregierung, schienen der CDU-Opposition als zu „links“. Die CDU versuchte deshalb, diese „Hessischen Rahmenrichtlinien“ zum Wahlkampfthema zu machen, was in der deutschen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich einmalig war – und geblieben ist.

Die parteipolitisch unabhängigen Zentralen – Bundeszentrale wie auch die Landeszentralen für politische Bildung – gerieten so zwischen die „Fronten“, drohten von den jeweiligen Regierungen vereinnahmt und instrumentalisiert zu werden. Sie wehrten sich dagegen, unter Berufung auf den politischen Konsens, der für sie das eigentliche Lebenselixier ist. Vor diesem Hintergrund versuchte der damalige Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Dr. h. c. Siegfried Schiele, unterstützt von einem seiner Vorgänger und aktuell seinerzeit Professor für politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, Prof. Dr. Herbert Schneider, alle diejenigen Autoren zusammenzurufen, die sich wissenschaftlich mit der politischen Bildung beschäftigten. Ziel war es, die Möglichkeiten für einen politischen Konsens auszuloten, über die unterschiedlichsten wissenschaftlichen und politischen Positionen hinweg. Darüber sollte der Streit organisiert werden, der im Herbst 1976 in dem idyllischen Weinort Beutelsbach im Remstal nahe Stuttgart mehrtägig ausgetragen werden sollte. Das Vorhaben überzeugte bundesweit: alle kamen und diskutierten engagiert und zivilisiert. Die Sehnsucht nach einem Konsens war bei allen gegeben, um aus der misslichen Lage der Instrumentalisierung durch die Parteipolitik herauszukommen. Der Natur der Sache nach konnte es sich dabei nur um einen Minimalkonsens handeln.

Gedacht war von vornherein daran, die vorbereiteten Impulsreferate zu publizieren, ergänzt mit den durch die Diskussion angereicherten neuen Einsichten. Das wäre nicht viel mehr gewesen als ein bunter Strauß unterschiedlicher Positionen darüber, wie denn politische Bildung auszusehen habe, welches die curricularen Inhalte sein könnten und wie diese didaktisch-methodisch zu vermitteln wären. Kein geringes Ziel einer solchen Zusammenkunft! Und so geschah es dann auch. Allerdings: Wer von den Adressaten aus Politik und Verwaltung würde denn die Gesamtheit der Beiträge lesen und seine Schlussfolgerungen daraus – und in welche Richtung – ziehen? Die Gefahr drohte, dass das gesamte Unternehmen im Sande verlaufen könnte und dann allenfalls die Solidarität der in Beutelsbach Versammelten stärken könnte.

In gewisser Weise hatte die Tagungsleitung vorgesorgt und Dr. Hans-Georg Wehling, damals leitender Mitarbeiter der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, beauftragt, einen Tagungsbericht für die geplante Publikation zu erstellen, der den Verlauf der Diskussion und die wichtigsten Kontroversen dokumentieren sollte. Daraus wurde mehr, nämlich die Formulierung eines Minimalkonsenses in drei Punkten: kurz, eingängig, gedanklich nachvollziehbar und vor allem praktikabel – gerade auch für die Entscheider in Politik und Verwaltung. Vor diesem „Beutelsbacher Konsens“, wie in Wehling getauft hatte, mussten sich in Zukunft Curricula legitimieren. Zudem eignete sich der „Beutelsbacher Konsens“ auch als Richtlinie für das umfangreiche Zuschusswesen für die nichtstaatlichen Träger politischer Bildungsarbeit, die Stiftungen der politischen Parteien eingeschlossen.

Festzuhalten bleibt, dass der „Beutelsbacher Konsens“ nicht das Ergebnis eines formalen Entscheidungs- und Abstimmungsprozesses war: Der „Beutelsbacher Konsens“ wurde nicht in Beutelsbach formuliert oder gar verabschiedet, er war das Ergebnis eines namentlich gekennzeichneten, „privaten“ Beitrags“, verfasst von Hans-Georg Wehling, geschrieben für die ein Jahr später erschienenen Publikation „Das Konsensproblem in der politischen Bildung (hrsg. von Siegfried Schiele und Herbert Schneider, Stuttgart 1977, S. 173–184, hier S. 179 ff.). Der Erfolg des „Beutelsbacher Konsenses“ beruht letztlich darauf, dass er einleuchtend, nachvollziehbar ist. Von daher hatte er keine Probleme, Bestandteil des „Berufsethos“ all derer zu werden, die politische Bildung betreiben, ganz gleich, ob sie es im staatlichen Auftrag oder als private Träger tun.

Politische Bildung vermittelt Kenntnis und Verständnis von Verfassung und Institutionen (zu denen auch z. B. Parteien und Verbände gehören). Sie bietet Hilfe an, seine Interessen zu artikulieren und sich politisch einzumischen – mehr noch: Sie strebt die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur an.

Die folgende Passage stammt aus dem oben zitierten Buch:

„Das Expertengespräch von Beutelsbach diente der Klarstellung von Positionen und der Erkundung von Konsensmöglichkeiten. Ein Auftrag, einen Konsens – etwa in Form eines Lehrplanes – nun auch tatsächlich zu produzieren, war nicht gegeben. So kann es sich an dieser Stelle nur darum handeln, zu skizzieren, wo der Verfasser nach seinen – zugegebenermaßen subjektiven – Eindrücken einen Konsens für möglich hält, einen Konsens zwischen so unterschiedlichen wissenschaftstheoretischen, politischen und auch didaktischen Positionen wie denen von Rolf Schmiederer, Kurt Gerhard Fischer, Hermann Giesecke, Dieter Grosser, Bernhard Sutor bis hin zu Klaus Hornung. Unwidersprochen  scheinen mir drei Grundprinzipien Politischer Bildung zu sein (…):

  1. Überwältigungsverbot
  2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen.
  3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen.“

Hans-Georg Wehling: Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch, in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 173–184, hier S. 178 ff.

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