EU-Beitritt der Türkei (Archiv)

Mehr als vier Jahrzehnte nach dem ersten Beitrittsantrag der Türkei verhandelt die Europäische Union seit dem 3. Oktober 2005 mit dem Land am Bosporus über eine EU- Vollmitgliedschaft. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat den formellen Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen als "riesigen Schritt" gewürdigt. "Das ist ein Erfolg für die Türkei, das ist ein Erfolg für alle, das ist ein Erfolg für unser Volk", sagte der Regierungschef in Ankara. Der türkische Außenminister Abdullah Gül sprach von einem "wichtigen Wendepunkt" und betonte: "Jetzt beginnen die Gespräche für eine Vollmitgliedschaft der Türkei."

Aktueller Stand im Beitrittsprozess

Die 2005 begonnenen Beitrittsverhandlungen gestalteten sich schwierig, wurden immer wieder unterbrochen und sind derzeit aufgrund der unbefriedigenden Situation von Rechtsstaatlichkeit, fortwährenden Menschenrechtsverletzungen und der Zypernproblematik auf Eis gelegt. Wie ist der aktuelle Stand im Beitrittsprozess? Wie stehen die Chancen auf einen künftigen EU-Beitritt? Welche Argumente sprechen dafür, welche dagegen? 

Vorausgegangen war dem offiziellen Beginn der Verhandlungen ein verzweifeltes Ringen der EU-Außenminister um eine Beilegung des Streits mit Österreich. Das Land hatte sich geweigert, die Vollmitgliedschaft als Verhandlungsziel festzuschreiben. Auf Druck ihrer 24 Amtskollegen akzeptierte die österreichische Außenministerin Ursula Plassnik schließlich aber im Text des Verhandlungsrahmens den Satz: "Gemeinsames Ziel der Verhandlungen ist die Mitgliedschaft". Österreich setzte aber einen Verweis auf den Artikel 49 des EU-Vertrages durch, in dem die Anforderungen an jedes neue Mitglied detailliert aufgelistet sind. Zudem wurde vereinbart, dass die Aufnahmefähigkeit der EU ein wichtiges Kriterium für jede neue Erweiterung sei.Die Türkei war in der Zypernfrage auf die Europäische Union zugegangen und konnte mit einem Beginn von Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober 2005 rechnen. Nach stundenlangem Ringen versprach der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdogan beim EU-Gipfel in Brüssel Ende 2004, die Ausdehnung der Zollunion auf die zehn neuen EU-Länder - und damit auch Zypern - anzuerkennen.Der Streit um die geteilte Insel hatte die Einigung über die geplanten Beitrittsgespräche bis zum Schluss in Frage gestellt."Die Türkei hat heute die Hand ergriffen, die wir ausgestreckt hatten", sagte der Ratsvorsitzende und niederländische Regierungschef Jan Peter Balkenende. "Wir haben heute Geschichte geschrieben." Erdogan habe in einer Erklärung deutlich gemacht, dass er zur späteren Unterzeichnung des Protokolls zur Zollunion bereit sei.Damit beginne eine neue Epoche in den Beziehungen zwischen der Türkei und der EU, sagte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso. Die Türkei wartet seit 40 Jahren auf einen Beitritt zur EU.Kurz nach Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen hat die Türkei bekräftigt, das EU-Mitglied Zypern weiter nicht anzuerkennen. Diese Haltung bleibe unverändert, bis es einen festen Friedensplan für die geteilte Mittelmeerinsel gebe, sagte der türkische Außenminister Abdullah Gül. Die Europäische Union verlangt, dass die Türkei während der Beitrittsverhandlungen Zypern anerkennt.Ein von Kofi Annan unterbreiteter Plan zur Wiedervereinigung der seit 30 Jahren geteilten Mittelmeerinsel war im April dieses Jahres an der Ablehnung der griechischen Bevölkerungsgruppe Zyperns gescheitert.

Nach oben

Parlamentswahlen 22. Juli 2007

Die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan hat die Parlamentswahlen vom 22. Juli mit 46 Prozent deutlich gewonnen. Damit kann er die eingeleiteten Reformen in Politik und Wirtschaft weiterführen. Zugute kam ihm bei der Wahl das türkische Wirtschaftwunder. So ist das Bruttoinlandprodukt 2006 um 5,2 Prozent gewachsen. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen ist seit 2003 von 3400 auf über 5000 Dollar gestiegen. Erstmals in den letzten 50 Jahren ist es einer regierenden Partei bei Wahlen gelungen, das vorherige Resultat zu verbessern. Die Republikanische Volkspartei (CHP), konnte trotz einem betont aggressiven Wahlkampf mit 20,8 Prozent lediglich die Stimmen ihrer traditionellen Wählerschaft auf sich vereinigen. Den Einzug ins Parlament hat mit 14,3 Prozent auch die rechtsextreme Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) geschafft. Im neuen Parlament werden zum ersten Mal nach einem Jahrzehnt wieder kurdische Abgeordnete sitzen, die als Unabhängige angetreten waren.Erdogan will seinen Wahlsieg als Motor für weitere Reformen auf dem Weg in die EU nutzen. Erdogan signalisierte, die säkularen Traditionen vor dem Hintergrund der schleichenden Islamisierung zu bewahren. Armee, Irak, Kurden, Präsidentenwahl und Zypernkonflikt sind neben EU und Reformen Themen, die in der Türkei für Zündstoff sorgen dürften.Trotz der klaren Mehrheit für die AKP muss Erdogan künftig auf die anderen Parteien zugehen, und das wird alles andere als einfach. Die AKP hat islamische Wurzeln und ist EU-freundlich, die Nationalistenpartei MHP scheut dagegen die EU wie der Teufel das Weihwasser, die republikanische Volkspartei CHP will um jeden Preis die Religion aus der Politik heraushalten, und die Kurden sind für alle schwierige Partner. Da die Regierung nicht über zwei Drittel der Mandate verfügen wird, ist sie für Verfassungsänderungen oder für die Wahl des neuen Präsidenten auf die Unterstützung anderer Abgeordneter angewiesen.

Nach oben

Fortschrittsbericht der EU-Komission

Die EU-Kommission hat am 8. November 2006 in Brüssel ihren Fortschrittsbericht präsentiert. In dem Fortschrittsbericht kritisierte die EU-Kommission, dass sich das politische Reformtempo in der Türkei im vergangenen Jahr verlangsamt habe. Signifikante weitere Anstrengungen seien erforderlich. Die Liste der Kritik ist lang: Es gebe nach wie vor Berichte über Folter. Das geltende Strafrecht in Sachen Meinungsfreiheit sei immer noch "Grund für Besorgnis". Der Einfluss des Militärs sei noch immer viel zu groß, die Reform des Justizsystems komme nicht schnell genug voran. Kritisiert werden unter anderem auch mangelnde Religionsfreiheit in der Türkei. Die Kommission droht zudem damit, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen, wenn Ankara bis Dezember seine Häfen für Schiffe aus Zypern nicht öffne. Brüssel empfahl zum jetzigen Zeitpunkt aber noch keinen Abbruch der Gespräche. Eine neue Stellungnahme solle es EU-Gipfel am 14. und 15. Dezember in Brüssel geben.Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat Erwartungen nach einem Entgegenkommen im Streit mit der EU um eine Anerkennung Zyperns gedämpft. Es sei nicht «realistisch», eine Öffnung türkischer Häfen für Schiffe und Flugzeuge aus der Republik Zypern zu erwarten, solange die EU nicht die Isolation des türkischen Nordens der Mittelmeerinsel beende.

EU Außenministertreffen in Brüssel (11.12.2006)

Nach zehnstündigen Beratungen haben sich die 25 EU-Außenminister am 11. Dezember 2006 doch noch auf einen Kompromiss geeinigt. Die Beitritts-Verhandlungen mit der Türkei werden in acht von 35 Bereichen auf Eis gelegt.Die Verhandlungen waren schwierig: Einige Staaten, wie die Niederlande, Griechenland und Zypern wollten zehn der 35 Verhandlungs-Kapitel nicht eröffnen. Eine andere Gruppe um Großbritannien und Spanien wollte lediglich drei Kapitel aussetzen. Schließlich verständigten sich die Außenminister auf den ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission. Die Zahl der Verhandlungs-Kapitel, die vorläufig nicht geöffnet werden, bleibt, wie von der Kommission vorgeschlagen bei acht Kapiteln.Die Verhandlungen in dem Teil-Bereich der Regelmäßigen Kontrollen sollen solange nicht eröffnet werden, wie die Türkei sich weigert, ihre Häfen und Flughäfen für das EU-Mitgliedsland Zypern zu öffnen, und damit das Ankara-Protokoll über die Zoll-Union umzusetzen. Jedes Jahr will der Minister-Rat nun überprüfen, ob die Türkei ihren Verpflichtungen in Bezug auf Zypern nachkommt.Die Republik Zypern, deren Nordteil seit über 30 Jahren von türkischen Truppen besetzt ist, sagte zu, den direkten Handel zwischen dem türkischen Nordzypern und der EU nicht länger zu blockieren.Die EU forderte die Vereinten Nationen auf, einen neuen Anlauf zu wagen, um eine politische Lösung des Zypern-Problems zu finden.

Nach oben

Die Aufnahme der Türkei in die EU hat viele Befürworter, aber auch viele Gegner. Erstmals würde ein islamisches Land in die EU aufgenommen werden. Mit Spannung wurde deshalb der für den 6. Oktober 2004 angekündigte Bericht zum möglichen EU-Beitritt der Türkei erwartet. Die EU-Kommission hatte sich für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausgesprochen. Dem Land werde aber eine Reihe von Bedingungen gestellt. Zudem soll es jederzeit die Möglichkeit geben, die Verhandlungen zu unterbrechen. Ein Datum für den Beginn der Gespräche wird nicht genannt.Im 1963 geschlossenen Assoziierungsabkommen zwischen der Türkei und der EU war die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Union vorgesehen, und 1989 beantragte die Türkei ihre Aufnahme. Die im Rahmen dieses Abkommens im Jahre 1995 errichtete Zollunion ist sowohl für die EU als auch für die Türkei mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden.Auf dem Europäischen Rat von Helsinki im Jahre 1999 wurde der Türkei der Status eines Bewerberlandes zuerkannt, und die Türkei wurde aufgefordert, die erforderlichen politischen und wirtschaftlichen Reformen durchzuführen. Zu diesem Zweck nahm die EU unlängst eine Beitrittspartnerschaft mit der Türkei an, in der die kurz- und mittelfristigen Prioritäten  bei der Erfüllung der Beitrittskriterien dargelegt wurden.Der Europäische Rat von Kopenhagen beschloss Ende 2002, dass die EU ihre Unterstützung für die Beitrittsvorbereitungen der Türkei weiter verstärken soll, und dass die Kommission einen Bericht über die Fortschritte der Türkei Ende 2004 erstellen wird.Im Dezember 2004 hatte der Europäische Rat zu entscheiden, ob mit der Türkei Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union aufgenommen werden. Bedingung dafür ist die Erfüllung der politischen Kriterien des Europäischen Rates von Kopenhagen 1993. Danach muss ein Beitrittsstaat nicht nur formal sondern auch in der Staatspraxis folgende Punkte gewährleisten:

  • Stabilität der Institutionen, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten;
  • eine funktionierende Marktwirtschaft, die den Anforderungen des EU-Binnenmarkts genügt;
  • Übernahme der gemeinschaftlichen Regeln, Standards und der Politik, die die Gesamtheit des EU-Rechts darstellen.

Deutschland wird in der Europäischen Union für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stimmen, wenn die EU-Kommission eine entsprechende Empfehlung abgibt. Das hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder am 3.10.2004 nach einem Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan erklärt.CDU/CSU wollen der Türkei nur eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten, da sie die EU durch die Aufnahme überfordert sieht. Allein die jährlichen Netto-Kosten der Türkei-Mitgliedschaft werden auf 28 Milliarden Euro geschätzt. Die "privilegierte Partnerschaft" erkennt alle Interessen der Türkei an, die nicht gegen die Interessen der europäischen Völker verstoßen, und sie stellt die größte mögliche Belohnung der innertürkischen Demokratieentwicklung dar, belohnt jedoch nicht das Streben der türkischen Führung, auf Europa einzuwirken.Kann die EU einen türkischen Beitritt verkraften? So kontrovers diese Frage derzeit in Europa diskutiert wird - faktisch ist sie längst entschieden. Jedenfalls aus Brüsseler Sicht: Ankara ist schon seit über vier Jahren offizieller Beitrittskandidat. Zudem dürfte die nun wohl anstehende Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einen Automatismus in Gang setzen, der kaum noch zu stoppen sein wird. Höchstens durch Volksbefragungen in EU-Ländern. So hat der französische Präsident Chirac ein Referendum über den türkischen EU-Beitritt angekündigt. Oder auch dann, wenn das NATO-Mitglied Türkei schließlich selbst daran scheitern sollte, durch weitere Reformen die Beitrittsreife zu erreichen. Wobei der eigentliche Beitritt aber ohnehin erst in 10 bis 15 Jahren möglich sein wird.

Nach oben

Links:

Auswärtiges Amt: Türkei
Bundesregierung: Ist die Türkei reif für einen EU-Beitritt?
Bundeszentrale für politische Bildung: Türkei und EU
DW: Türkei: Das Ziel ist klar
FAZ: EU-Beitritt der Türkei
tagesschau: Die Türkei auf dem Weg nach Europa

LpB: Zeitschrift "Der Bürger im Staat" Heft 1/2000
Die Türkei vor den Toren Europas (HTML)
Die Türkei vor den Toren Europas (PDF)

Nicht nur geografisch liegt die Türkei vor den Toren Europas. Sie ist seit dem Begründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, auch politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich nach Europa hin orientiert. Seit langem schon begehrt die Türkei Eintritt in die Europäische Union, seit Dezember 1999 ist das Land offiziell Beitrittskandidat. Auch in dieser Beziehung steht die Türkei also vor den Toren Europas.

 

LpB: Zeitschrift "Der Bürger im Staat" Heft 3/2005
Europa und die Türkei

Seit mehr als vierzig Jahren klopft die Türkei an die Tür der Europäischen Union und sucht um eine Vollmitgliedschaft nach. kein anderer Beitrittskandidat hat die politische Debatte und die öffentliche Meinung derart polarisiert. Die kontrovers geführte Diskussion, ob die Türkei überhaupt, zu welchen Bedingungen und zu welchen Zeitpunkt Teil der EU werden soll, wird die im Oktober 2005 beginnenden Beitrittverhandlungen begleiten.

LpB-Zeitschrift Politik und Unterricht Heft 1/2/2004
Europa wählt - Europa wird größer! Die EU und die Türkei

Mit der Türkei würde ein Land Mitglied der EU werden, das geografisch überwiegend nicht zu Europa gehört. Die politische Kultur der Türkei unterscheidet sich noch immer sehr von der des Westens. Der Modernisierungsprozess, dem sich die Türkei seit der Präsidentschaft Kemal Atatürks (1923-1938) unterzogen hat, lief auf eine mit autoritären Mitteln durchgesetzte Teilverwestlichung hinaus.

Nach oben

Cookieeinstellungen
X

Wir verwenden Cookies

Wir nutzen auf unseren Websites Cookies. Einige sind notwendig, während andere uns helfen, eine komfortable Nutzung diese Website zu ermöglichen. Einige Cookies werden ggf. für den Abruf eingebetteter Dienste und Inhalte Dritter (z.B. YouTube) von den jeweiligen Anbietern vorausgesetzt und von diesen gesetzt. Gegebenenfalls werden in diesen Fällen auch personenbezogene Informationen an Dritte übertragen. Bitte entscheiden Sie, welche Kategorien Sie zulassen möchten.