Dossier

Analphabetismus in Baden-Württemberg

Wenn die Buchstaben keinen Sinn ergeben

Mehr als jeder zehnte Mensch in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren kann keine kurzen, einfachen Texte lesen. Rund zwölf Prozent der Bevölkerung sind sogenannte funktionale Analphabeten. Ihre Lese- und Schreibkenntnisse sind niedriger als das Niveau, das im Alltag als selbstverständlich vorausgesetzt wird. 

Analphabetismus ist kein Randphänomen der Gesellschaft.

Wie ist die Situation in Baden-Württemberg? Und wo finden betroffene Personen Hilfe und Weiterbildungsmöglichkeiten?

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Funktionaler Analphabetismus - im Video erklärt

Infobox: Was bedeutet Analphabetismus?

Definition und Verbreitung

In der Alltagssprache ist ein Analphabet jemand, der nicht lesen und schreiben kann. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es konkretere Definitionen. 

„Funktionale Analphabeten“ können einfache Sätze lesen und schreiben. Zusammenhängende, kürzere Texte verstehen sie nicht. Von funktionalem Analphabetismus sind nach der Leo-Studie 12,1 Prozent der Deutsch sprechenden Bevölkerung betroffen. Das bedeutet, dass zwölf von 100 Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren kurze Texte nicht verstehen.

Seit der letzten Erhebung aus dem Jahr 2011 ist die Zahl der funktionalen Analphabeten von 7,5 Millionen auf 6,2 Millionen zurückgegangen.

Funktionaler Analphabetismus hat verschiedene Facetten. Analphabetismus im engeren Sinn bedeutet, dass eine betroffene Person nicht nur Texte, sondern auch Sätze nicht lesen oder schreiben kann. Einzelne, häufig verwendete Wörter können Analphabeten Buchstabe für Buchstabe zusammensetzen. Von dieser enger gefassten Form des Analphabetismus sind rund vier Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung betroffen.

Die letzte Leo-Studie zum Thema Analphabetismus ist von 2018. 

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Infobox: Was ist Grundbildung?

Der Begriff der Grundbildung beschreibt alle Kompetenzen, die man braucht, um erfolgreich seinen Alltag zu meistern und an der Gesellschaft teilnehmen zu können. Dazu gehört, dass man Rechnen kann. Zur Grundbildung gehören auch soziale Kompetenzen, Grundfähigkeiten im IT-Bereich, eine finanzielle Grundbildung und ein grundlegendes Verständnis von Gesundheit. Ein wichtiger Bereich der Grundbildung ist die kulturelle und politische Bildung, die eine breite Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglichen soll.

Es geht bei dem Begriff vor allem darum, Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, als eigenständig denkende, sich begründet Meinungen bildende und selbstbestimmt handelnde Personen im Alltag zu bestehen. Damit das funktioniert, muss man alphabetisiert sein, also Lesen und Schreiben beherrschen.

Weitere Infos

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Zahlen und Fakten: Lese- und Schreibschwäche in Deutschland

  • 6,2 Millionen Männer und Frauen in Deutschland haben der LEO-Studie von 2018 zufolge mit einer Lese- und Schreibschwäche zu kämpfen. Das sind 12,1 Prozent der Menschen zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland.
  • 58 Prozent der Erwachsenen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten sind Männer, rund 42 Prozent Frauen.
  • Ältere Menschen sind häufiger betroffen als junge Erwachsene.
  • Menschen mit einem niedrigen Schulabschluss sind mit 40,6 Prozent am häufigsten betroffen.
  • 62,3 Prozent der Betroffenen sind erwerbstätig.
  • Die Herkunftssprache ist bei mehr als der Hälfte der Betroffenen Deutsch (52,6 Prozent).
  • Rein statistisch sind in Baden-Württemberg rund 750.000 Menschen betroffen.
     
  • Links: Leo-Studie  Fachstelle Grundbildung

Interview: „Je früher Kinder Lesen und Schreiben lernen, desto besser“

Eine Mail von der Chefin lesen, Bewerbungen schreiben, Wahlunterlagen verstehen - für funktionale Analphabeten ist das eine Herausforderung, die sie nicht bewältigen können. Ihnen fällt es schwer, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. 

Im Interview beschreibt Knut Becker von der Fachstelle Grundbildung und Alphabetisierung Baden-Württemberg den Alltag von Analphabeten und erklärt, wie man das Problem angehen könnte und was bereits getan wird. Das Interview ist von 2018 und bezieht sich auf die Leo-Studie von 2011.

Die Fachstelle steht allen Interessierten bei allen Fragen zum Bereich Grundbildung und Alphabetisierung zur Verfügung. Hier erklärt sie in einfacher Sprache, wie man besser Lesen und Schreiben lernt.

Alltag eines Analphabeten

Wenn die Buchstaben keinen Sinn ergeben, wie kommt man dann im Alltag klar?

„Ein Beispiel von einer Person, die bei uns einen Kurs gemacht hat: Eine Frau, Mitte 50, konnte schon bei ihrem Berufseintritt nicht lesen oder schreiben. Sie war trotzdem nie arbeitslos, arbeitete bei einer Putzfirma und später im Altersheim. Sie hat sich hochgearbeitet von einer Hilfskraft zu einer richtigen Pflegehilfe - und war auf einmal beauftragt, Medikamente auszugeben.“

Wie bewältigt man so eine Aufgabe, ohne Beipackzettel lesen zu können?

„Ganz einfach: Sie hat sie auswendig gelernt. Grüne Pillen in gelber Verpackung bekommt jeder und jede morgens und abends. Sie hat eine Strategie entwickelt, um ihr Defizit im Lesen und Schreiben auszugleichen. Das gibt es häufig. Menschen sind trotz Analphabetismus im Beruf erfolgreich und können es durch Gedächtnisleistung oder den Fokus auf eine manuelle Tätigkeit ausgleichen. Dabei helfen oft Tauschangebote, „ich übernehme deine Schicht, wenn du meinen Schreibkram erledigst“. Dem mitwissenden Umfeld, so nennen wir das, kommt eine zentrale Rolle zu.“

Welche Rolle spielt denn das mitwissende Umfeld bei Analphabeten?

„Manchmal wird einfach akzeptiert, dass jemand nicht lesen kann, aber häufig wird sich auch darum gekümmert, dass diese Menschen Hilfe bekommen. Im beruflichen Kontext ist das nicht nur Nächstenliebe, sondern aus Firmensicht eine Notwendigkeit. Ein Beispiel: Ein Süßwarenhersteller hat keine manuell bedienbaren Maschinen mehr, sie haben die Prozesse nach und nach digitalisiert. Da ist dann Schluss; wer nicht lesen schreiben kann und sich nicht weiterbildet, kann die digitale Oberfläche nicht bedienen und muss gehen. In solchen Fällen kommen auch Arbeitgeber auf uns zu.“

 

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Verbreitung von Analphabetismus

Nach diesem Beispiel ist die Antwort eigentlich klar: Kann in Baden-Württemberg jeder lesen und schreiben?

„Nein, bei Weitem nicht. Ungefähr eine Million Menschen in Baden-Württemberg sind funktionale Analphabeten. Eine genaue Zahl gibt es nicht, der vhs Verband schätzte diese Zahl aufgrund der Leo-Studie von 2011. Konkret bedeutet das, dass eine Million Menschen bei uns einzelne Sätze lesen oder schreiben können, aber nicht genug, um an unserer Gesellschaft teilzuhaben.“

Mehr als jeder und jede Zehnte in Deutschland versteht einfache Texte nicht. Diese Zahl erschreckt.

„Ja, es ist so. Analphabetismus ist ein Thema, Analphabetismus kommt vor, es wird nur nicht immer als Problem gesehen.“

Ein Blick ins Ausland: Sind die Zahlen in europäischen Ländern ähnlich hoch?

„Im europaweiten Vergleich liegen wir im Mittelfeld oder stehen sogar ganz gut da. Vergleiche sind schwierig, denn in anderen Ländern sind die Analphabetismus-Erfassungsmethoden andere. Grundsätzlich lässt sich aber sagen: In ganz Europa ist Analphabetismus ein Problem, auch in den reichen Ländern.“
 

Ursachen und Lösungen

Wie kann das sein, dass trotz Schulpflicht Personen nicht lesen lernen?

„Ich bin selbst Lehrer an beruflichen Schulen, daher spreche ich aus eigener Erfahrung: Es gibt immer wieder Schülerinnen und Schüler, die auch mit einem Hauptschulabschluss große Schwierigkeiten mit Lesen und Schreiben haben. Nach Ende der Schulpflicht können Schülerinnen und Schüler ein Abgangszeugnis ohne eine Abschlussprüfung bekommen, das bezeugt, dass sie auf Schule waren. Wenn man bis dahin Lesen und Schreiben kann, ist das gut, aber wenn nicht, dann ist es eben - leider - so.“

Garantiert ein Abschluss die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können?

„Bei Abschlüssen wie dem Hauptschulabschluss lässt sich eine schlechte Deutschnote mit einer guten Mathenote ausgleichen. Manche sind nicht "ausbildungsreif" nach dem Hauptschulabschluss. Ein schreckliches Wort, aber es beschreibt es ganz gut. An vielen beruflichen Schulen gibt es daher Förderprogramme, um die Lesekompetenz zu fördern.“

Welche Ursachen für Analphabetismus gibt es ansonsten?

„Eigentlich lernt jeder und jede während der Schulpflicht auf der Schule Lesen und Schreiben - so die Theorie. Aber es gibt Menschen, die Schuljahre verpassen. Zum Beispiel hatte eine Person schwere Verbrennungen und war 18 Monate nicht auf der Schule. Doch es ist wichtig, dass Grundlagen zum Lesen und Schreiben in der Grundschule gelegt werden. Menschen mit Zuwanderungsgeschichte fallen manchmal auch nicht mehr unter die Schulpflicht, haben in ihrem Ursprungsland aber nie Schreiben gelernt. Ein anderer widriger Umstand kann das Elternhaus sein. Wenn dort nicht gelesen oder geschrieben, viel Fernsehen geschaut und wenig geredet wird, haben die Kinder einen Nachteil.“

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Was müsste geändert werden, damit niemand mehr Analphabet ist?

"Das ist eine Frage, die politisch vorsichtig angefasst wird, denn jeder Vorschlag kostet Geld. Ich habe einige Jahre in Singapur gelebt und gearbeitet. Dort hat man einen großen Schritt gemacht und erkannt, dass der Staat für jeden im Vorschulbereich investierten Dollar auf lange Sicht zwei Dollar spart. Jede Lösung muss daher lauten: Je früher, desto besser. 

In Singapur gibt es die Vorgabe, dass Kinder, bevor sie in die Grundschule kommen, ihren Namen schreiben können und im Zahlenraum bis 10 rechnen müssen. Kompetenzen sind hier schon in der Vorschule vorhanden. Der Staat gibt dort dafür zwar erheblich viel Geld aus, aber es ist sehr ökonomisch gedacht. Weltweit gehört Singapur zu den Besten, dort herrscht fast 100 Prozent Literalität. Wir müssen schon früher Grundfertigkeiten wie Lesen lernen und zuverlässige Evaluationsinstrumente zur Erfolgsmessung haben.  

Aber: Baden-Württemberg ist da bereits sehr weit. In Gemeinschaftsschule arbeitet man schließlich nach diesem Konzept. Statt früh aussortiert zu werden, fördert man Kinder, bei denen man ein Defizit erkennt."

Viele Angebote gegen Analphabetismus richten sich an die Erwachsenenbildung, an Menschen im Beruf. Ist das nicht zu spät?

"Nein. Früher galt: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr." Heute sagt man: Vielleicht kann Hans manches erst als Hans lernen. Wir haben auch 60-Jährige in unseren Kursen. Es ist nie zu spät, Lesen und Schreiben kann man immer lernen." 

Ist es schwierig, die Information über die Hilfe zu den Betroffenen zu bekommen? Zum Beispiel funktioniert auch Ihre Webseite über Text.

"Was hilft, ist "einfache Sprache", in der wir zum Beispiel über Hilfsangebote informieren. Aber klar, überhaupt eine Webseite aufzurufen ist für einen Analphabeten natürlich schwierig. Unsere Sensibiliserungsmaßnahmen richten sich daher stark an das mitwissende Umfeld. Das können Freunde und Familie sein, aber auch Kolleginnen oder Kollegen oder Mitarbeitende in kommunalen Verwaltungen, die mitbekommen, dass jemand ein Formular nicht ausfüllen kann, wenn jemand ein Formular nicht ausfüllt. Sie müssen leicht an alle Hilfsangebote kommen. Den letzten Schritt, das Hilfsangebot annehmen, muss jeder Betroffene jedoch selbst machen."

Interview vom 7. September 2018, geführt von Rebecca Beiter.

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Hilfe für Analphabeten

Das Alfa-Telefon: 0800 / 53 33 44 55 
Informationen zum Alfa-Telefon


Hilfe in Baden-Württemberg


Weitere mögliche Ansprechpartner

  • Regionale Grundbildungszentren in Heidelberg und Konstanz
  • Angebote der VHS vor Ort zum Thema Grundbildung
  • Angebote von Mehrgenerationenhäusern im Rahmen der Förderung Lese- und Schreibkompetenz
  • Landesbeirat Alphabetisierung und Grundbildung 

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Analphabetismus und Politische Bildung

Ziel politischer Bildung ist es, allen Bürgerinnen und Bürgern Kompetenzen zu vermitteln, damit sie ihre Bürgerrolle als gleichgestellte Mitglieder in einer Demokratie verantwortungsbewusst und selbstbewusst ausfüllen können. Politische Bildung stärkt die Orientierungskompetenz und vermittelt Grundwissen, Fachwissen und Funktionswissen sowie die Fähigkeit zur kritischen Distanz und Urteilsvermögen.

Diese Ziele politischer Bildung können auch als die zentralen Ansatzpunkte für Angebote der politischen Grundbildung angesehen werden.

Politische Grundbildung in der Landeszentrale für politische Bildung BW


Niederschwellige Angebote der Landeszentrale für politische Bildung BW


Politische Bildung in der Grundbildung. Eine Materialsammlung für die Praxis


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Autor: Internetredaktion LpB BW | Stand der Aktualisierung: September 2022

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