62 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei

30. Oktober 1961: Ein Notenwechsel, der Deutschland verändert hat

Die türkeistämmige Wohnbevölkerung ist längst zu einem festen Bestandteil Deutschlands geworden. Eine solche Entwicklung hätte sich vor 60 Jahren wohl kaum jemand träumen lassen, als die Bundesregierung das Anwerbeabkommen mit der Türkei geschlossen hatte. Diese „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland“ kam am 30. Oktober 1961 zustande. 

Das Dossier gibt einen Überblick über das deutsch-türkische Anwerbeabkommen. Warum kam es zu der Vereinbarung? Wie war das Verhältnis zwischen „Gastarbeitern“ und Deutschen? Und wie sieht die Bilanz nach 60 Jahren Anwerbeabkommen aus?

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Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun 

Meier-Braun ist baden-württembergischer Landesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN) und Mitglied im Bundesvorstand dieser Organisation. Er ist Migrationsexperte, Honorarprofessor an der Universität Tübingen und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Migration und Integration. Lange Jahre war er Redaktionsleiter und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR). 2021 wurde er für sein Engagement in der Integrationsarbeit mit dem Verdienstorden des Landes Baden-Württemberg ausgezeichnet.

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Das Anwerbeabkommen

  • Das Anwerbeabkommen mit der Türkei, die „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland“, kam am 30. Oktober 1961 zustande.
  • Die Vereinbarung kam nicht nur deshalb zustande, weil Deutschland dringend Arbeitskräfte suchte. Auch außenpolitische Gesichtspunkte gehörten dazu: Die Türkei war bereits ein wichtiger Handelspartner für Deutschland und als Mitglied der NATO ein strategisch bedeutendes Land in Südosteuropa.
  • Die Beschäftigung war zunächst für längstens zwei Jahre vorgesehen. Doch trotz Rotationsprinzip nahm die Zahl der Arbeitsmigranten stark zu. 
  • Durch ein zweites Abkommen mit der Türkei vom 30. September 1964 wurde die Beschränkung des Aufenthalts auf zwei Jahre gestrichen.
  • Die angeworbenen Arbeitskräfte wurden in Deutschland „Gastarbeiter“ genannt.
  • Das Bildungsniveau der angeworbenen türkischen Arbeitsmigranten war keineswegs so niedrig, wie oft angenommen wird. 
  • Der Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer wurde am 23. November 1973 von der Bundesrepublik verhängt.
  • Bis zum Anwerbestopp kamen rund 867.000 Türkinnen und Türken nach Deutschland. Zurückgekehrt sind in diesem Zeitraum rund 240.000 Personen. 

Ein Einwanderungsland

  • Insgesamt kamen von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 rund 14 Millionen Migranten nach Deutschland. Elf Millionen zogen in diesem Zeitraum wieder weg. Eigentlich wurde Deutschland in dieser frühen Phase schon zum Einwanderungsland.
  • Die Lebenslüge „Wir sind kein Einwanderungsland“ bestimmte fast ein halbes Jahrhundert lang die deutsche Politik. Eine staatliche Integrationspolitik gab es jedoch lange Zeit nicht. Erst 1978 schuf die Bundesregierung das Amt eines Ausländerbeauftragten.
  • Das sogenannte „Ausländerthema“ wurde in der Bundesrepublik zunehmend zu einem „Türkenproblem“ gemacht. Anfang der 1990er Jahre kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen und rassistischen Pogromen auch gegen Türkeistämmige in Deutschland. Deutschland verzeichnet seit 1990 ausländerfeindliche Anschläge mit insgesamt rund 200 Todesopfern.

Die Situation heute

  • Heute leben rund 1,5 Millionen Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Einen türkischen Migrationshintergrund haben rund 2,8 Millionen Menschen. Damit stellen sie die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. 
  • Das muslimische Leben in Deutschland ist in den letzten Jahren deutlich vielfältiger geworden.  
  • Insgesamt wird die muslimische Bevölkerung in Deutschland künftig eine noch stärkere Bedeutung erlangen, nicht zuletzt aufgrund der steigenden Zahl der Einbürgerungen und damit der Wählerstimmen.
  • Eine symbolische Wertschätzung durften die Zugewanderten aus der Türkei 2021 erfahren, indem ihre Verdienste und die kulturelle Bereicherung, die Deutschland durch sie erfahren hat, gewürdigt wurden.

30.10.1961: Es war „nur“ ein Notenwechsel

Derzeit leben rund 1,5 Millionen Personen mit türkischer Staatsangehörigkeit in Deutschland. Einen türkischen Migrationshintergrund haben rund 2,8 Millionen Menschen, das heißt, sie selbst oder zumindest ein Elternteil sind aus der Türkei eingewandert. Damit stellen sie die größte Gruppe von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Etwas mehr als die Hälfte von ihnen (rund 1,5 Millionen) ist in Deutschland geboren.

Die türkische Wohnbevölkerung ist längst zu einem festen Bestandteil Deutschlands geworden und bildet eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen ethnischen Wurzeln – viele haben beispielsweise einen kurdischen Ursprung – und unterschiedlichen religiösen Überzeugungen, beruflichen und schulischen Erfolgen, wie der restliche Teil der Gesellschaft auch. Enkel und Urenkel der einstigen „Auslandstürken“ sind hier geboren und aufgewachsen. 

Eine solche Entwicklung hätte sich vor 60 Jahren wohl kaum jemand träumen lassen, als das Anwerbeabkommen mit der Türkei zustande kam, die „Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland. Deutsch-türkische Vereinbarung vom 30. Oktober 1961“, nachzulesen im Bundesarbeitsblatt vom 10. Februar 1962.

Die Vereinbarung kam durch einen Notenwechsel – nicht durch eine offizielle „Unterzeichnungszeremonie“ wie andere Anwerbeabkommen – zustande und trat rückwirkend zum 1. September 1961 in Kraft. Immer wieder ist aber in diesem Zusammenhang davon die Rede, das Anwerbeabkommen sei in Bad Godesberg bei Bonn von beiden Seiten unterzeichnet worden, was aber so nicht stimmt. Von der Unterzeichnung des Abkommens mit Spanien existiert beispielsweise ein Foto, wie ein Vertragspartner dem anderen das Schreibwerkzeug reicht, von der türkischen Vereinbarung dagegen nicht.

Ein Briefwechsel zwischen den diplomatischen Vertretungen

Denn es war nur ein Notenwechsel, ein Briefwechsel zwischen den diplomatischen Vertretungen im Empfangsstaat und dem Außenministerium des Empfangsstaates, aber mit vertraglichen Verpflichtungen. Üblicherweise wird eine solche diplomatische Note von der Gegenseite erwidert, so dass auch von einem Notenwechsel gesprochen wird. So heißt es auch in der entsprechenden Regelung: 

Die Türkische Botschaft beehrt sich, den Empfang der Verbalnote des Auswärtigen Amtes vom 30. Oktober 1961 [...] zu bestätigen, mit der die Regierung der Bundesrepublik Deutschland vorgeschlagen hat, die Vermittlung von arbeitssuchenden türkischen Staatsangehörigen in eine Beschäftigung von Arbeitgebern in der Bundesrepublik Deutschland durch eine Vereinbarung zu regeln. [...] Die türkische Botschaft beehrt sich, dem Auswärtigen Amt mitzuteilen, dass sich die Regierung der Republik Türkei mit den Vorschlägen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einverstanden erklärt.

Anwerbeabkommen mit der Türkei

Offensichtlich wollte man durch einen Notenwechsel weniger Aufsehen erregen und deshalb auch keine „Presseverlautbarungen durch amtliche Stellen“ veröffentlichen. Aus der Verbalnote geht hervor, dass die Beschäftigung längstens für zwei Jahre vorgesehen war und dass sich die türkische Regierung verpflichtete, türkische Arbeitnehmer jederzeit formlos zurückzunehmen. Mit dieser Bestimmung konnte sich zunächst das Bundesinnenministerium mit seinem Rotationsprinzip durchsetzen. 

Offensichtlich sollten die türkischen Arbeitskräfte nach kurzer Zeit wieder gegen neue ausgetauscht werden. Schließlich hatte die Zahl der Arbeitsmigranten von 1956 bis 1960 auf über eine halbe Million zugenommen und sich damit mehr als verdreifacht. Die Arbeitgeber machten aber deutlich, dass sie an eingearbeiteten Arbeitskräften interessiert waren und sprachen sich dagegen aus, die türkischen Gastarbeiter nach ein paar Jahren wieder nach Hause zu schicken.

So wurde schon bald – durch ein zweites Abkommen mit der Türkei vom 30. September 1964 – vom Rotationsprinzip abgerückt und die Beschränkung des Aufenthalts auf zwei Jahre gestrichen. Auch wurde nun der Nachzug von Familienangehörigen ermöglicht. Ein Abkommen über Soziale Sicherheit wurde bereits am 30. April 1964 zwischen der Bundesrepublik und der Türkei beschlossen. Es stellte die türkischen Arbeitnehmer in wesentlichen Punkten mit den deutschen gleich und schrieb den Rechtsanspruch auf Kindergeld fest. 

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Ärztliche Untersuchung der Bewerberinnen und Bewerber

In der Vereinbarung aus dem Jahre 1961 hatte sich die Türkei verpflichtet, in der Verbindungsstelle im Istanbuler Stadtteil Tophane neben den üblichen Büromöbeln auch die für eine ärztliche Untersuchung der Bewerberinnen und Bewerber geeigneten Räumlichkeiten kostenlos zur Verfügung zu stellen. Die Türken mussten sich in einem lokalen Arbeitsamt melden, wo sie voruntersucht wurden.

Tränen in den Augen

Die endgültige Gesundheits- und Eignungsuntersuchung empfanden viele Bewerberinnen und Bewerber als erniedrigend: die Entkleidung bis auf die Unterwäsche, die deutschen Amtsärzte, die die Gebisse der Bewerberinnen und Bewerber untersuchten, die „Ausführung einfacher Übungen.“ Nach der Meinung des Vertreters des Innenministeriums, Ministerialrat Breull, sollte in der Anwerbevereinbarung sogar „klargestellt werden, dass die ärztliche Untersuchung nicht nur auf Arbeitsverwendungsfähigkeit hin, sondern auch zum Schutze der Bevölkerung aus seuchenhygienischen Gründen vorgenommen wird“. 

Bei der Anwerbekommission in der „Lüleciler Cad. 24" arbeitete damals die Türkin Sim San als Dolmetscherin. „Die Auswahl für Deutschland", erzählt sie, „erfolgte 10:1, das heißt, wenn deutsche Arbeitgeber zehn Arbeitskräfte brauchten, suchte man 100 Bewerber, die zur Anwerbekommission in Istanbul bestellt wurden“. Zurückblickend sagt Sim San:

„Es war für mich sehr traurig, denn die wussten alle, dass ich Türkin bin. Ein junges Mädchen, das Fragen gestellt hat. Die Männer standen vor mir mit feuchten Augen und haben mich gebeten, die Fragen nochmal zu stellen, weil sie das nicht verstanden haben."

 

Türkei war ein Agrarland

Im Jahre 1961 war die Türkei ein Agrarland. 80 Prozent der Bevölkerung arbeiteten in der Landwirtschaft. Eine wenig entwickelte Industrie, eine hohe Arbeitslosigkeit, ein starkes Bevölkerungswachstum kennzeichneten die Lage des Landes, das sich in einer politischen und wirtschaftlichen Krise befand. Nichts lag näher, als der Gedanke, Arbeitskräfte zu exportieren.

Ganz anders die Lage in Deutschland: Arbeitskräfte wurden dringend gesucht. Der Arbeitsmarkt in Italien, mit dem 1955 das erste Anwerbeabkommen abgeschlossen worden war, war leergefegt. Fachleute wie Eduard Keintzel vom Unternehmensverband Ruhrbergbau machen sich auf in die Türkei, um Anwerbemöglichkeiten von türkischen Arbeitskräften zu erkunden. In seinem Bericht schreibt er:

Der Türke gilt als äußerst genügsam und entwickelt von sich aus keine Initiative. Angeblich beeinflusst das eigenartige Klima seine Arbeitslust nachteilig, wenn der Südwind herrscht, und beschwingend, wenn der Nordwind weht. Die Empfindung von Neid ist dem Türken – wie behauptet wird – unbekannt. Er ist es nicht anders gewohnt, als dass er von strenger, harter Hand geführt wird [...].

Die Eile, mit der das Anwerbeabkommen zustande kam, ist auch darauf zurückzuführen, dass immer mehr Arbeitgeber auf eigene Faust Türkeistämmige als Arbeitskräfte nach Deutschland holten und man diese „illegale“ Arbeitskräftezuwanderung kontrollieren wollte. Dieser Gesichtspunkt spielte auch bei den anderen Abkommen eine wichtige Rolle. So reiste beispielsweise der türkische Ingenieur Tarik Kadam, der bei der Stuttgarter Baufirma Karl Kübler beschäftigt war, nach Istanbul und holte 105 türkische Arbeitskräfte – unter anderem Maurer und Tischler, die mit dem Bus nach Stuttgart gebracht wurden. Diese Arbeitskräfte bauten dann in Schramberg im Schwarzwald die Firma Junghans mit auf.

„Türke wird zum Europäer“

Erste Überlegungen, türkische Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen, gab es bereits Mitte der 1950er Jahre. Die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung war an solchen Versuchen beteiligt. Sie forderte einen ihrer Mitarbeiter, Heinrich von Dreyer, auf, sich entsprechend kundig zu machen. Dreyer teilte mit, die Bundesregierung müsse schon bald mit einer offiziellen Anfrage aus der Türkei rechnen. Er betonte, in der Türkei herrsche eine große „Zuneigung zu Deutschland“ und die Türken seien „sehr anstellig, geschickt [...] und fleißig“. Der Deutsche, schrieb Dreyer, „wirkt bei Türken wie ein Katalysator, dem Deutschen gegenüber verwandelt sich der Türke zu einem europäischen Menschen“.

Die Vereinbarung mit der Türkei kam aber nicht nur deshalb zustande, weil Deutschland dringend Arbeitskräfte suchte. Eine vielfältige Interessenlage auf beiden Seiten spielte eine Rolle. Außenpolitische Gesichtspunkte gehörten dazu: Die Türkei war bereits ein wichtiger Handelspartner für Deutschland und als Mitglied der NATO ein strategisch bedeutendes Land in Südosteuropa. Die türkische Regierung spielte diese „Karte“ ganz bewusst aus, um ihr Interesse an einem Anwerbeabkommen hervorzuheben. Offiziell wurde sie im Dezember 1960 im Auswärtigen Amt vorstellig, wie Karen Schönwälder in einer Untersuchung nachweist.

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Der Vertreter der Botschaft machte deutlich, dass

die türkische Regierung es als eine Zurücksetzung betrachten müsse, wenn sie trotz ihres lebhaften Wirtschaftsaustausches mit der Bundesrepublik und trotz ihrer Mitgliedschaft in der NATO hinter anderen, praktisch ebenso weit entfernt liegenden Staaten wie Griechenland zurückgesetzt würde.

Türkische Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1960

So unter Druck gesetzt, aber auch aus eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen heraus wurden schließlich die Bedenken der Bundesregierung, das Anwerbeabkommen könne einen Präzedenzfall für andere außereuropäische Länder schaffen, in den Hintergrund gestellt. Ein zweiseitiges Dokument, das zwischen dem Auswärtigen Amt in Bonn und der türkischen Botschaft fast schon still und leise ausgetauscht wurde, sollte einen entscheidenden Einschnitt in die deutsche Nachkriegsgeschichte mit sich bringen – mit langfristigen Auswirkungen bis zum heutigen Tage.

Deutschland – schon früh ein Einwanderungsland

In jenen Jahren erreichten Deutschland zahllose Anfragen aus allen Herren Ländern, zum Beispiel auch aus Thailand, Bolivien oder dem Sudan. Die Bundesrepublik lehnte die vielen Anfragen aus weit entfernten Ländern jedoch ab. Allerdings wurden Anwerbeabkommen mit Marokko (1963) und Tunesien (1965) abgeschlossen, also Ländern mit muslimischer Bevölkerung. Die anderen Anwerbeabkommen kamen 1960 mit Spanien und Griechenland, 1964 mit Portugal und 1968 mit Jugoslawien zustande. 

Die Bundesrepublik nahm lange Zeit mehr Zuwanderer auf, als die klassischen Einwanderungsländer USA und Kanada zusammen. Nach offizieller Lesart der Politik blieb Deutschland aber fast ein halbes Jahrhundert lang kein Einwanderungsland, obwohl Artikel 73 des Grundgesetzes klar von „Einwanderung“ als Aufgabe des Bundes spricht.

Allein von 1955 bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 kamen rund 14 Millionen Migranten nach Deutschland. Elf Millionen zogen in diesem Zeitraum wieder weg. Eigentlich wurde Deutschland in dieser frühen Phase schon zum Einwanderungsland. 

Es ist eine Legende, dass die Probleme, die aus der Ausländerbeschäftigung von türkischen und anderen „Gastarbeiterinnen“ und „Gastarbeitern“ entstanden sind, erst spät in die Öffentlichkeit gebracht worden wären. Bereits in den frühen „Gastarbeiterjahren“ bemühten sich Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände, die Arbeitsmigranten durch Beratungsmaßnahmen oder „Eingliederungshilfen“ zu unterstützen. Eine staatliche Integrationspolitik gab es jedoch lange Zeit nicht. Erst 1978 schuf die Bundesregierung das Amt eines Ausländerbeauftragten. Von 1979 bis 1980 standen sogar Integrationskonzepte im Mittelpunkt der Ausländerpolitik.

1979 legte der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung und frühere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn (SPD), ein bemerkenswertes Memorandum vor. Er kritisierte die bisherige Ausländerpolitik, die zu sehr von arbeitsmarktpolitischen Gesichtspunkten geprägt worden sei, und forderte die Anerkennung der „faktischen Einwanderung“, Integrationsmaßnahmen und beispielsweise ein Kommunalwahlrecht für Ausländer. Kühn wies damals schon auf den Geburtenrückgang unter der deutschen Bevölkerung und dessen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hin. Es gebe keine „Gastarbeiter“ mehr, sondern Einwanderer, so Kühn. 1980 blieb die damalige SPD/FDP-Bundesregierung mit ihren ausländerpolitischen Beschlüssen allerdings weit hinter den Forderungen ihres Ausländerbeauftragten zurück und lehnte seine Vorschläge für ein Ausländerwahlrecht oder Einbürgerungserleichterungen für ausländische Jugendliche ab.

Türkische Zuwanderung begrenzen

Aus diesen ersten integrationspolitischen Überlegungen wurde keine vorausschauende Integrationspolitik entwickelt. Noch im Jahr 1982 bekräftigte die Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP in ihrem Koalitionsvertrag: „Die Bundesrepublik Deutschland ist kein Einwanderungsland. Es sind daher alle humanitär vertretbaren Maßnahmen zu ergreifen, um den Zuzug von Ausländern zu unterbinden.“ Vor allem um die Zahl der Türkinnen und Türken zu verringern, wurden Rückkehrprämien gezahlt, was letztlich jedoch wenig erfolgreich war. Im Gegenteil: Während der Amtszeit der Regierung Helmut Kohl (CDU) stiegen die Ausländerzahlen sogar um über 60 Prozent an. Bei der ausländischen Minderheit kam die Botschaft aber so an, dass sie eigentlich unerwünscht seien und in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten, was integrationspolitisch geradezu kontraproduktiv war.

Auch die erst später bekannt gewordene Absicht Kohls aus dem Jahre 1982, die Hälfte der in der Bundesrepublik lebenden Türkinnen und Türken zurück in ihr Herkunftsland zu schicken, erwies sich als Illusion. Es zeigte sich, dass Deutschland längst zum Einwanderungsland geworden war und dass sich das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen ließ. Auch andere Maßnahmen zur „Konsolidierung der Ausländerbeschäftigung“ – so das Motto der Ausländerpolitik – waren wenig erfolgreich. Dazu zählt die sogenannte „Regionalsteuerung“, die in Baden-Württemberg ihren Ursprung hat. Durch diese Zuzugssperre in „überlastete Siedlungsgebiete“, in denen der Ausländeranteil über zwölf Prozent lag, sollte 1975 vor allem der Zuzug der türkischen Wohnbevölkerung reduziert werden. Schon bald erwies sich diese Maßnahme aber als „Flopp“ und wurde letztendlich auch auf Druck der Wirtschaft, die (wieder einmal) dringend Arbeitskräfte suchte, sang- und klanglos aufgegeben. Bei den Türkinnen und Türken verstärkte sich dadurch aber weiter der Eindruck, sie seien in Deutschland unerwünscht. 

Die Lebenslüge „Wir sind kein Einwanderungsland“ bestimmte fast ein halbes Jahrhundert lang die deutsche Politik. Aber auch die türkische Regierung muss sich vorhalten lassen, dass sie sich wenig um ihre Landsleute im Ausland gekümmert hat. Die Devisen wurden gerne gesehen, kritische Türkinnen und Türken wollte man aber als „Gastarbeiter“ loswerden, Arbeitslosigkeit wurde „exportiert“. 

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Die türkischen „Gastarbeiter“ in Deutschland

Qualifizierte türkische „Gastarbeiter“ 

Das (Aus-)Bildungsniveau der über angeworbenen türkischen Arbeitsmigranten war keineswegs so niedrig, wie oft angenommen wird. Die Historikerin Karin Hunn spricht sogar von einer „Auswandererelite“. Die Qualifikation der türkischen Auswanderer lag über dem Durchschnitt in der Türkei. Nur 44 Prozent der Türken hatten eine abgeschlossene Schulausbildung, aber 80 Prozent der Arbeitsmigranten. 46 Prozent der Arbeitskräfte in der Türkei waren Analphabeten, aber nur 5,6 Prozent der Türken, die nach Deutschland angeworben wurden. So besaßen bei den Auswanderern aus der Türkei 15 Prozent einen Berufsabschluss, fast 13 Prozent einen Mittelschulabschluss, 4,3 Prozent das Abitur und 0,8 Prozent einen (Fach-)Hochschulabschluss. Weitere 49 Prozent hatten immerhin die fünfjährige Grundschule besucht.

Auffallend hoch war insgesamt der Anteil qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter den angeworbenen Arbeitskräften aus der Türkei, der rund 31 Prozent lag. Er lag damit wesentlich höher als bei den Spaniern (rund 8 %), bei den Griechen (etwa 9 %), Portugiesen (22 %) oder bei den Italienern (23 %) Prozent. Offensichtlich war also die „erste Auswanderungswelle“ aus der Türkei weitaus besser ausgebildet, als vielfach vermutet. In der Erinnerungskultur der „Gastarbeiterzeit“ blieb aber vielfach das Bild von den „einfachen, ungebildeten“ Arbeitskräften aus der Türkei und den anderen Anwerbeländern dominant.

Als Legende hat die Wissenschaft auch entlarvt, die türkischen Arbeitskräfte seien alle „aus dem tiefsten Anatolien“ nach Deutschland gekommen. Anfangs stammten viele aus Großstädten, vor allem aus Istanbul, wobei eine ganze Reihe von ihnen zuvor als Binnenmigranten in die Städte gewandert waren. Nur 18,2 Prozent von ihnen hatten demnach ihren ständigen Wohnsitz vor dem Verlassen der Türkei in Dörfern mit weniger als 2.000 Einwohnern. 

Anfängliche Stimmung der „Neugier“ und Toleranz

Nicht nur Stereotype und Vorurteile prägten damals das Bild von den Türken und ihrem Land, wie die weiteren Untersuchungen von Karin Hunn über die Geschichte türkischer Arbeitsmigranten zeigen. Die Türken kamen einerseits mit einem fast schon idealisierten Bild von deutschem Fleiß und deutscher Gründlichkeit nach Deutschland. Andererseits herrschte in Deutschland eine teilweise aufgeschlossene und tolerante Haltung gegenüber den türkeistämmigen Muslimen, als das Anwerbeabkommen abgeschlossen wurde. Der Islam wurde damals weder als feindselig noch als bedrohlich, sondern eher als „exotisch“ empfunden. 

Das lässt sich an der zeitgenössischen Zeitungsberichterstattung ablesen, aber auch an einer Ramadan-Feier im Kölner Dom am 3. Februar 1965, „ein Tag, der Religionsgeschichte gemacht hat“, wie eine Tageszeitung damals schrieb. „In den nördlichen Seitenschiffen des Doms feierten mehrere hundert Mohammedaner“, wie es weiter hieß, das Ende des Fastenmonats. „Muselmanen beten im Kölner Dom“, so die Überschrift in der ZEIT. Gleichzeitig verweigerten Kölner Lokale aber den fast 2.000 Türken in der Domstadt den Zutritt. An Kneipentüren waren Schilder zu sehen wie „Wegen Schwierigkeiten mit aus-ländischen Gästen für Türken Lokalverbot“. Die ZEIT beendete ihren Bericht wie folgt:

Das ist die Wirklichkeit 1965, Theorie und Praxis der Nächstenliebe, das ist die Spanne zwischen Konzil und Köln: Die Kirche reißt jahrhundertalte Mauern nieder, die Bürger selber richten sie wieder auf.

Die ZEIT

Trotzdem sind schon frühzeitig weitere Anzeichen von Toleranz und Respekt gegenüber den türkischen Arbeitsmigranten zu verzeichnen. So richtete beispielsweise Daimler-Benz bereits 1968 einen Gebetsraum für die 1.700 muslimischen Arbeitskräfte ein, die in Stuttgart-Untertürkheim beschäftigt waren. Kulturelle Unterschiede spielten offensichtlich bis Ende der 1960er Jahre so gut wie keine Rolle. Das Arbeitsministerium Baden-Württemberg stellte im Februar 1966 fest: „Unterschiede hinsichtlich des Werturteils je nach der Nationalität der ausländischen Arbeitnehmer können kaum gemacht werden.“

So wurden Chancen vertan, diese anfängliche Stimmung der „Neugier“ und der Toleranz auf beiden Seiten zu verstärken bzw. aufrechtzuerhalten, etwa mit Veranstaltungen oder einem kulturellen Austausch mit staatlicher Unterstützung. Vielleicht auch deshalb setzte schon bald Anfang der 1970er Jahre so etwas wie Ablehnung gegenüber den Türkeistämmigen ein, die nun zunehmend als „Störenfriede“ oder gar als Bedrohung empfunden wurden. 

Nicht fortgesetzt wurde auch die Stimmung, die Anfang der 1980er Jahre entstand, als sich zahlreiche Delegationen und in einem Jahr allein 300.000 deutsche Touristen auf in die Türkei machten und mit einem ganz anderen Bild von Land und Leuten zurückkehrten. 

Beispiele: Lothar Späth und Richard von Weizsäcker

Dazu gehörte eine Reise mit einer Wirtschaftsdelation unter Ministerpräsident Lothar Späth oder der Sozialausschuss des Landtags von Baden-Württemberg. Der damalige Landtagspräsident Erich Schneider hielt nach dem Besuch wie viele andere Politiker fest, es müsse etwas getan werden, um die deutsch-türkischen Beziehungen zu verbessern. Begeistert von der Gastfreundschaft sagte er dem mitreisenden Reporter:

Ich bin ja selber 20 Jahre Bürgermeister gewesen. Ich habe die erste, ganz erste Generation […] miterlebt, als die Leute aufs Rathaus gekommen sind usw. Und ich würde mir eigentlich wünschen, ich hätte das damals schon gewusst, was ich heute weiß, ich glaube, ich würde die Menschen mit ganz anderen Augen ansehen.

Lothar Späth, Ministerpräsident von Baden-Württemberg ab 1978 bis 1991
 

Bundespräsident Richard von Weizsäcker äußerte sich bei seinem Staatsbesuch 1986 in der Türkei im Interview mit demselben Reporter ähnlich:

Es geht für diejenigen Türken, die bei uns leben und bleiben wollen, ganz gewiss nicht um Assimilierung. Vielmehr ist die Aufgabe, miteinander leben zu lernen, und zwar in der Weise, dass jeder seine Eigenart bewahrt und einbringt. Das wird uns gegenseitig in einem Maße bereichern, wie wir es vorher nicht gekannt haben. Ich denke nur etwa an die überwältigende Gastfreundschaft, die wir Deutschen von den Türken erfahren. Nicht nur hier in der Türkei, sondern meine Erinnerung an die Gastfreundschaft, die ich bei Türken etwa in Berlin immer wieder erfahren habe, nicht nur in ihren Wohnungen, sondern auch an Wochenenden, wenn sie im Tiergarten oder in anderen Parkanlagen miteinander ihre Freizeit begingen. Diese Gastfreundschaft ist etwas, was für uns Deutsche ein großes Erlebnis ist und was zu der gegenseitigen Bereicherung gehört.

Richard von Weizsäcker, Bundespräsident von 1984 bis 1994

 

Immer wieder haben Politiker jenseits aller Befürchtungen, Millionen von Türken säßen auf gepackten Koffern und warteten nur darauf, nach Deutschland zu kommen, zur Vernunft gemahnt und sich für eine vorausschauende Migrations- und Integrationspolitik eingesetzt. Ein prominenter Vertreter dieser Richtung war der Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, der sich erfolglos für die Einführung einer doppelten Staatsangehörigkeit stark machte. Weit vorausschauend sagte er beispielsweise 1988:

Wir werden immer eine türkische Gemeinde haben, wahrscheinlich eine wachsende. Es ist für Europa von entscheidender Bedeutung, dass die Türkei weiterhin zu Europa gehören will. Man muss deshalb das Ziel der langfristigen Integration der Türkei in Europa stets vor Augen behalten, und darf nicht wegen kleinlicher Probleme, die sich im Moment stellen, dieses Ziel etwa in Frage stellen. Es ist für Europa von großer Bedeutung, dass ein so wichtiges, so großes Kulturvolk, das gleichzeitig die Brücke zum Nahen Osten darstellen kann, dass dieses Kulturvolk sich mit uns freundschaftlich verbündet. Unter diesem Aspekt muss man die Kontakte betrachten, der türkischen zu den deutschen Städten, unter diesem Aspekt muss man vor allem auch die Politik gegenüber unseren türkischen Mitbürgern betrachten in den Städten. Man soll sich keine Illusionn hingeben. Der Glaube, dass deutsche Großstädte nur von Deutschen bewohnt werden, ist ein Irrglaube. Wer das meint, der entfernt sich von der Realität, er entfernt sich aber auch vom Europa-Gedanken.

Manfred Rommel, Stuttgarter Oberbürgermeister ab 1975 bis 1996

„Türken schwer zu haben“

1962 zog der für die Anwerbung von ausländischen Arbeitnehmern zuständige Referent der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung, Helmuth Wheicken, eine erste, fast schon euphorisch klingende Bilanz der Beschäftigung türkischer Arbeitskräfte in Deutschland:

Die türkischen Arbeitnehmer haben sich bei ihrer Arbeit in der Bundesrepublik durchaus bewährt. Die deutschen Arbeitgeber werden daher auch in Zukunft daran interessiert sein, Arbeitskräfte aus der Türkei vermittelt zu erhalten. Diese Entwicklung dürfte im allgemeinen deutsch-türkischen Interesse liegen, denn es darf erwartet werden, dass die Beschäftigung der türkischen Arbeitskräfte in der Bundesrepublik zu einer Vertiefung und Festigung der traditionellen deutsch-türkischen Beziehungen beiträgt. Für die Bundesrepublik bedeutet die Beschäftigung der türkischen Arbeitskräfte eine wertvolle Mithilfe zur Aufrechterhaltung des deutschen Produktionsniveaus.

Helmuth Wheicken, Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung

Die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte lief weiter auf Hochtouren. 1968 machte eine Tageszeitung mit der Schlagzeile auf: „Türken am meisten gefragt." Der Chronist hielt fest:

Besonders begehrt sind von der deutschen Industrie wieder die Gastarbeiter. Türken werden nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung am meisten angefordert. Deshalb sind sie auch am schwersten zu haben. Zehn Wochen müssen die Firmen allein auf Hilfsarbeiter warten. Türkinnen sind dagegen schon eher zu bekommen, vor allem Analphabetinnen. Insgesamt stehen die Gastarbeiter in diesem Spätsommer hoch im Kurs. Weitgehend ‚ausverkauft‘ sind auch die Italiener, bis auf eine kleine Zahl von Handwerkern wie Schneider, Maler und Elektromechaniker oder verwandte Berufe.

Ismail Bahadir – der „millionste Gastarbeiter aus Südosteuropa“

Bereits 1964 hatte man dem einmillionsten Gastarbeiter, dem Portugiesen Armando Rodrigues, bei seiner Ankunft in Köln als millionstem „Gastarbeiter“ einen „großen Bahnhof“ bereitet und ein Moped geschenkt. Am 27. November 1969 erwartete den 24-jährigen Türken Ismail Bahadir in München ein ähnlich festlicher Empfang. Er war der millionste ausländische Arbeitnehmer, der von den Dienststellen der Bundesanstalt für Arbeit in Südeuropa, in der Türkei und Tunesien vermittelt worden war.

Zum Empfangskomitee gehörte der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Josef Stingl, der dem überraschten türkischen Gastarbeiter einen Fernsehapparat überreichte. Auf einer Pressekonferenz hob Stingl die Bedeutung der ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland hervor, „da die Wachstumsrate nur erreicht werden kann, wenn weitere ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik kommen. Auch zur Bewältigung des Rentenberges tragen sie bei, denn die Deutschen müssten sonst noch höhere Beiträge zahlen.“ Stingl bezeichnete die Arbeit der ausländischen Arbeitskräfte in der Bundesrepublik als „nicht messbaren Gewinn“. 

Bahadir arbeitete zunächst in Mainz, wohin ihm im Herbst 1971 seine Frau Emine und die zweijährige Tochter Ayse folgten. Fünf weitere Töchter kamen bis 1979 in Deutschland zur Welt. Der einzige Sohn wurde erst später in der Türkei geboren. Die Familie lebte stets mit Rückkehrabsichten, die sie 1981 in die Tat umsetzte. Bahadir hatte für sich beschlossen, dass er als Industriearbeiter in Deutschland keine Zukunft mehr hatte. In seiner Heimatstadt Konya eröffnete „der Millionste“ eine kleine Maschinenfabrik. 1996 verkaufte er den Betrieb. Rückblickend sagt der einst Gefeierte, dass Deutschland ein „gutes Geschäft“ gewesen sei. Im fünfzigsten Jubiläumsjahr des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens im Jahr 2011 wurde Bahadir wieder zu Festveranstaltungen nach Ankara und nach Deutschland eingeladen. 

Anwerbestopp 1973

Nach einer gewissen „Gastarbeitereuphorie“ setzte aber schon bald eine Auseinandersetzung um die Vor- und Nachteile der Ausländerbeschäftigung ein, vor allem deshalb, weil immer mehr ausländische Arbeitnehmer ihre Familien nachholten und erkennbar wurde, dass die Ausländerbeschäftigung eben kein vorübergehendes Phänomen bleiben sollte.

Diese Debatte schlug sich nach der sogenannten „Ölkrise“ im Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer nieder, der am 23. November 1973 von der Bundesrepublik verhängt wurde. Der Anwerbestopp forderte jedoch den Familiennachzug geradezu weiter heraus. Junge, unverheiratete Arbeitnehmer zogen bei schwieriger wirtschaftlicher Lage eher in das Herkunftsland zurück. Die Verheirateten aber versuchten, die gesamte Familie nach Deutschland zu holen. 

Auch andere europäische Staaten stoppten zu diesem Zeitpunkt die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte aus dem Mittelmeerraum. Alles in allem kamen bis zum Anwerbestopp rund 867.000 Türken nach Deutschland. Zurückgekehrt sind in diesem Zeitraum rund 240.000 Personen. Über eine Million Ausreisewillige standen zeitweise auf den Listen der Anwerbekommission in der Türkei, die mit bis zu sieben Jahren Wartezeiten rechnen mussten.Die Migration nach Deutschland entlastete den Arbeitsmarkt in der Türkei, brachte vor allem Devisen, die innerhalb weniger Jahre zu einer der wichtigsten Einnahmequellen für die Türkei wurden. 1964 überwiesen die Auslandstürken bereits acht Millionen US-Dollar in ihre Heimat. Im Jahre 1973 waren es schon rund 1,2 Milliarden US-Dollar, wodurch das Außenhandelsdefizit im selben Jahr zu 153 Prozent gedeckt werden konnte.

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„Türkenfeindlichkeit“ und Terroranschläge

Das sogenannte „Ausländerthema“ wurde in der Bundesrepublik zunehmend zu einem „Türkenproblem“ gemacht. So stellten die im Februar 1980 von der Berliner CDU geäußerten Befürchtungen, die Berliner könnten sich im Falle einer weiteren Zunahme türkischer Migranten nicht mehr mit ihrer Stadt identifizieren, damals keineswegs die Ausnahme dar.

Das bayerische Innenministerium meinte beispielsweise, dass durch den dauerhaften Verbleib von Ausländern „massive Umweltschutzinteressen“ in Deutschland berührt würden. Der Ausschuss für Arbeitsmarktfragen des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit begründete seine Vorbehalte gegenüber dem Anstieg der Ausländerbeschäftigung ebenfalls damit, dass die Schaffung von „Lebensraum für die hier verbleidenden ausländischen Arbeitnehmer“ bedeuten würde, den „Lebensraum der übrigen in der Bundesrepublik lebenden Menschen zu begrenzen“. 

Immer wieder haben Entscheidungsträger in der Politik und Intellektuelle in der Bundesrepublik im Laufe der Zeit – ob gewollt oder ungewollt, spielt eigentlich keine Rolle – „Türkenfeindlichkeit“ geschürt. Dies lässt sich mit zahlreichen Zitaten belegen. Der Historiker Golo Mann, bekanntlich Spross einer berühmten deutschen Emigrantenfamilie, äußerte sich in einem Zeitungsinterview zum Thema „Türken in Deutschland“. Auf die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sein könne, antwortete Golo Mann: „Nein, das Boot ist voll.“ Er sagte:

So recht wohl fühle ich mich dabei nicht. Und ich weiß nicht, wie andere Länder sich dabei fühlen. Mir wäre es lieber, sie blieben zuhause. Auf der anderen Seite ist es sicher gut für sie, wenn sie einen völlig anderen Kulturkreis gründlich kennenlernen. Wenn sie dann nach Hause zurückkehren und dort berichten, kann das einen Fortschritt in ihrem Land bedeuten. Aber: sie sollten zurückkehren.

Golo Mann, Historiker (in einem Zeitungsinterview)

Der SPD-­Politiker Martin Neuffer bezeichnete die Türken als eine „im Ganzen wenig assimilationsfähige völkische Minderheit“. Der bayerischer Ministerpräsident Franz Josef Strauß meinte: „Es strömen die Tamilen zu Tausenden herein. Und wenn sich die Situation in Neukaledonien zuspitzt, dann werden wir bald die Kanaken im Land haben.“ Strauß warnte vor einer „Wohlstandsasylepidemie“.

Der Berliner CDU-­Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky sprach 1991 in einem Interview von Ausländern, die „bettelnd, betrügend, ja auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und nur, weil sie das Wort ‚Asyl‘ rufen, dem Steuerzahler in einem siebenjährigen Verfahren auf der Tasche liegen“. Schon früh – vor allem in der „Flüchtlingskrise“ 1979/80 – wurde eine unsägliche Diskussion über die Asyl- und Migrationspolitik in Gang gesetzt, die bis heute anhält. Von ihr profitieren populistische und rechtsextreme Gruppierungen.

Gewalttätige Ausschreitungen und rassistische Pogrome

Anfang der 1990er Jahre kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen und rassistischen Pogromen auch gegen Türkeistämmige in Deutschland, beispielsweise in Mölln 1992 und Solingen 1993, wo fünf Personen bei einem Brandanschlag ums Leben kamen. Auf der Seite der türkeistämmigen Community wurde kritisiert, dass Bundeskanzler Kohl den Trauerfeiern für die Opfer der Anschläge fernblieb. Er hatte sich durch Außenminister Klaus Kinkel und Arbeitsminister Blüm vertreten lassen, was als Signal interpretiert wurde, es gehe um „zweitklassige“ nichtdeutsche Opfer. In der Bundespressekonferenz vom 27. November 1992 antworte Kohls Regierungssprecher auf die Frage, warum der Kanzler bei der Trauerfeier nicht anwesend gewesen sei, man wolle nicht in einen „Beileidstourismus“ verfallen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel beteiligte sich dagegen im Februar 2012 in Berlin an der Trauerfeier für die vom NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) ermordeten Personen, unter denen viele Zugewanderte aus der Türkei waren, und bat die Angehörigen um Verzeihung. Das Land wurde durch die Mordserie des NSU und durch das klägliche Versagen der Sicherheits- und Ermittlungsbehörden erschüttert. Ziel dieser Vereinigung mit zehn Morden war es, „vor allem Mitbürger ausländischer Herkunft zu töten“.

Im Juni 2019 wurde der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke durch einen rechtsextremen Täter ermordet, im Oktober 2019 war eine Synagoge das Ziel eines ähnlichen Täters bei einem Anschlag in Halle an der Saale. Im Februar 2020 erschoss ein rechtsradikaler Todeschütze elf Menschen in Hanau – die meisten mit Migrationshintergrund. Deutschland verzeichnet ausländerfeindliche Anschläge mit insgesamt 200 Toten seit 1990.

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Die „Sarrazin-Debatte“ schadet der Integration

Wie brüchig das integrationspolitische Fundament in Deutschland ist, zeigte die „Sarrazin-Debatte“ ab dem Jahr 2010. Mit einer ziemlich einzigartigen Medienkampagne und Vorabdrucken im „Spiegel“ und in der „Bild-Zeitung“ wurde das Buch von Thilo Sarrazin („Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“), unterstützt von der Islamkritikerin Necla Kelek, am 30. August 2010 in Berlin vorgestellt.

Verschiedene Daten- und Faktenchecks widerlegten die Behauptungen, die im Buch von Sarrazin aufgestellt wurden. Sein Buch aber löste eine bisher einmalige Diskussion um die Integrationspolitik in Deutschland aus. 

Die Sarrazin-Debatte hinterließ bei den „integrierten Migranten“ tiefe Spuren. So meldeten sich unter dem Motto „Wir sind auch noch da – ein Aufstand der Integrierten“ Wirtschaftsvereinigungen mit Migrationshintergrund zu Wort. In Deutschland gebe es seit dem Herbst 2010 eine neue Zeitrechnung. Es gebe die Zeit vor der Sarrazin-Debatte und die nach der Sarrazin-Debatte, schrieben Unternehmer wie Vural Öger, ehemaliger SPD-Abgeordneter des Europäischen Parlaments oder Suat Bakir, Geschäftsführer der Türkisch-Deutschen Industrie und Handelskammer.

Behauptungen und Widerlegungen

Der frühere Berliner Finanzsenator, seit 2009 Vorstandsmitglied der Deutschen Bundesbank, bezeichnet die „Gastarbeitereinwanderung“ der 1960er und 1970er Jahre als „gigantischen Irrtum“. Analysen, ob die ausländischen Arbeitskräfte und deren Familien überhaupt einen Beitrag zum Wohlstand erbracht hätten, gibt es seiner Meinung nach nicht. Dabei zeigen Untersuchungen, dass allein zwischen 1960 und 1970 rund 2,3 Millionen Deutsche vor allem wegen der Ausländerbeschäftigung mit einem „Fahrstuhl-Effekt“ den Aufstieg von Arbeiter- in Angestelltenpositionen schafften. Nach Angaben des Bundesarbeitsministeriums aus dem Jahre 1976 ermöglichten die ausländischen Arbeitnehmer unter Wahrung eines starken Wirtschaftswachstums eine deutliche Verringerung der Arbeitszeit der Deutschen.

Untersuchungen, Daten und Fakten, die nicht in das Horrorszenario des Buches von Sarrazin passen, wurden von ihm ignoriert. So braucht man wirtschaftlich gesehen seiner Ansicht nach die muslimische Migration in Europa nicht. Demographisch stelle „die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“.

Weil Migranten mehr Kinder bekommen, so Sarrazin, sinke in Deutschland die durchschnittliche Intelligenz. Was wir bräuchten, seien „mehr Kinder von Klugen, bevor es zu spät ist“. Die Deutschen müssten ziemlich rasch und radikal ihr Geburtenverhalten ändern, die Unterschicht müsse weniger Kinder bekommen und die Mittel- und Oberschicht deutlich mehr als bisher. Akademikerinnen sollten nach Ansicht des früheren Berliner Finanzsenators eine staatliche Prämie von 50.000 Euro für jedes Kind bekommen, das vor Vollendung des 30. Lebensjahrs der Mutter geboren wird.

Verschiedene Daten- und Faktenchecks widerlegten die Behauptungen, die im Buch von Sarrazin aufgestellt wurden. Beispielsweise schreibt Sarrazin: „Sichtbares Zeichen für die muslimischen Parallelgesellschaften ist das Kopftuch. Seine zunehmende Verbreitung zeigt das Wachsen der Parallelgesellschaften an.“ Eine Untersuchung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu „Muslimisches Leben in Deutschland“ stellte dagegen zum gleichen Zeitpunkt fest: In der zweiten Generation nimmt die Häufigkeit des Kopftuchtragens signifikant ab. Sarrazin dagegen schreibt, es sei besorgniserregend, dass die Probleme der muslimischen Migranten auch bei der zweiten und dritten Generation auftreten würden, „sich also quasi vererben, wie der Vergleich der Bildungsabschlüsse zeigt“. In Wirklichkeit verlassen über 40 Prozent aus der zweiten und dritten Generation der türkeistämmigen Zugewanderten die Schule mit besserem Bildungsabschluss als ihre Eltern. Die Deutschkenntnisse haben sich verbessert. Die soziale Integration – der Kontakt mit Nachbarn und Kollegen – hat zugenommen. 

Der Vorsitzende der rechtsextremen NPD, Udo Voigt, sah sich und andere Rechtsextreme durch die Thesen von Thilo Sarrazin bei künftigen Prozessen wegen Volksverhetzung geschützt. Gegenüber dem ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ sagte Voigt: „Unsere Aussagen werden damit salonfähiger und es ist dann immer schwerer, Volksverhetzungsverurteilungen gegen NPD-Funktionäre anzustreben, wenn wir uns zur Ausländerpolitik äußern, wenn sich etablierte Politiker auch trauen, das zu äußern“.

Wellen der Empörung löste ein Satz des Bundesbankvorstandes in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ (29.8.2010) aus, in dem er sagte: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ Die Katholische Kirche kritisierte diese Ansicht scharf: „Solche Formulierungen sind geeignet, latent vorhandenen Rassismus mit allen darin enthaltenen Vorurteilen zu bedienen“, sagte der Vorsitzende der Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Norbert Trelle. Das Buch sei „ein Schritt vom dumpfen Rassismus zum intellektuellen Rassismus“, so Kenan Kolat, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. 

In der SPD führte Sarrazin zu einer heftigen Kontroverse. Letztlich wurde er aber 2020 von der Bundesschiedskommission aus der Partei ausgeschlossen.

Diskussion um die Integrationspolitik

„Die Sarrazin-Debatte hat eine desintegrative Eigendynamik an der Grenze zu Hysterie und Panik entwickelt“, erklärte der damalige Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Klaus J. Bade. Nötig sei „mehr politische Führung hin zu einer konzeptorientierten Versachlichung der Diskussion“ auf der Grundlage einer kritischen Erfolgsbilanz, wie sie der SVR in seinem Jahresgutachten „Einwanderungsgesellschaft 2010“ vorgelegt habe. 

Sein Buch aber löste eine bisher einmalige Diskussion um die Integrationspolitik in Deutschland aus. Selbst die Grünen übten nun Selbstkritik und räumten Versäumnisse bei der bisherigen Integrationspolitik ein. Auch die Grünen hätten Fehler gemacht, so Grünen-Chefin Claudia Roth. „Sicher haben wir Dinge vielleicht beschönigt oder Konflikte oder Widersprüche oder Herausforderungen nicht immer richtig benannt“, fügte sie hinzu. Der frühere bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer erklärte Multikulti für „tot“, die Bundeskanzlerin für „gescheitert“. Auch der Konsens, dass wir ein Einwanderungsland sind, geriet ins Wanken. Auf die Frage, ob Deutschland Einwanderungsland sei oder nicht, antwortete Bundeskanzlerin Merkel: „Eigentlich war es das nur zwischen den 1950er Jahren und 1973.“

Diskussionen nicht neu

Diskussionen wie die um die „Sarrazin-Thesen“ und „Türkenfeindlichkeit“ sind nicht neu in Deutschland. 1989 beispielsweise hatte der Chef der rechtsextremen „Republikaner“, Franz Schönhuber, in einem Buch gängige Vorurteile gegenüber den Türken bedient. Oder als weiteres Beispiel: 1981 hatten deutsche Professoren in ihrem sogenannten „Heidel-berger Manifest“ vor der „Unterwanderung des deutschen Volkes durch Ausländer, gegen die Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums“ gewarnt.

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Zugewanderte in den Medien

„Die Türken kommen – rette sich, wer kann“

1961 wurden die ersten türkischen Arbeitskräfte ins Land geholt, die mithalfen, das „Wirtschaftswunder“ im Nachkriegsdeutschland zu vollbringen und unseren Wohlstandsstaat mit aufzubauen. Diese Tatsachen schlugen sich auch in den Medien nieder. Aber schon bald machten Zeitschriften mit ganz anderen Schlagzeilen auf: „Die Türken kommen – rette sich wer kann“, schrieb der „Spiegel“ in einer Titelgeschichte 1973. Eine Bildunterschrift lautete: „Türkische Arbeiter in der Bundesrepublik: Wenn das so weitergeht, ersaufen wir einfach.“ Der Text geht weiter:

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Fast eine Million Türken leben in der Bundesrepublik, 1,2 Millionen warten zu Hause auf die Einreise. Der Andrang vom Bosporus verschärft eine Krise, die in den von Ausländern überlaufenen Ballungszentren schon lange schwelt. Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen: Es entstehen Gettos, und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Verelendung wie in Harlem.

Der Spiegel, 1973

In diesem Artikel ist weiter zu lesen: „Wenn irgendwo gestochen worden ist“, so meint ein norddeutscher Polizeiführer, „dann war meist auch ein Türke dabei“. 

Bei einem Aufmacher im „Spiegel“ aus dem Jahr 1997 wurde das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft festgestellt:

Die Ausländerintegration ist gescheitert. Überall im Land entsteht eine explosive Spannung. Bei jungen Türken und Aussiedlern, Randgruppen ohne Perspektive, wächst die Bereitschaft, sich mit Gewalt zu holen, was die Gesellschaft ihnen verweigert.

Der Spiegel, 1997

Klischees vom „gewalttätigen Ausländer“

Nicht nur die Boulevardpresse verbreitete also in Deutschland die Klischees vom „gewalttätigen Ausländer“, wie zum Beispiel 1964 in der Zeitungsschlagzeile „Gastarbeiter erstach Deutschen“. Insbesondere bei den Täterbeschreibungen im vielgelesenen Lokalteil finden sich Schlagzeilen wie „Mordfall Marianne E. – Polizei sucht einen Südländer“ oder auch: „Der Täter soll etwa 1.70 Meter groß und schlank sein, vermutlich stammt er aus südlichen Gefilden." Unfreiwilligen Humor verbreitete die Täterbeschreibung im Lokalteil einer bayerischen Tageszeitung: „Möglicherweise handelt es sich um einen Türken. Er sprach Hochdeutsch ohne erkennbaren Akzent."

Die Kritik an der negativen Darstellung von Zugewanderten in der Presse ist so alt wie die Ausländerbeschäftigung selbst. Oft wurde und wird im Polizeibericht die Nationalität genannt, auch wenn es gar nicht notwendig ist. Beim Publikum entsteht dadurch der Eindruck, Ausländer seien eben krimineller als Deutsche. Schon ältere Untersuchungen zeigen: Das Bild der Ausländer in den Medien wird dadurch deutlich negativ verzerrt. Dies sei nicht einem vermeintlich ausländerfeindlichen Handeln der Journalisten selbst anzulasten, sondern ergebe sich aus zwei sich verstärkenden Faktoren: Kulturferne und Unwissenheit.

So konnte und kann man – verglichen mit der Berichterstattung über die einheimische Bevölkerung – wenig Positives über Ausländer in der Presse lesen, negative Eigenschaften hingegen werden dramatisiert. Betroffen sind hier vor allem Kulturen, die nicht im Christentum wurzeln. So wurden in den 1980er Jahren die Türken als „Ausländer“ überrepräsentiert, Anfang der 1990er Jahre die Asylbewerber und Flüchtlinge. Später standen öfters die Aussiedler im Brennpunkt, die in manchen Zeitungsschlagzeilen als „Russen“ bezeichnet werden. 

Insgesamt zeichnen Medien oft noch ein undifferenziertes Bild der Zugewanderten in Deutschland. Die Weiterentwicklung, die in der zweiten und in weiteren Generationen stattgefunden hat, wird meist nicht berücksichtigt. Die „Frau mit dem Kopftuch“ erscheint als Symbol für die Mehrzahl der Ausländer, sprich Türken, hierzulande. Auch das verzerrt die Wirklichkeit. Es fehlen oftmals positive oder auch „normale“ Bilder aus der Alltagswirklichkeit im Zusammenleben zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Allerdings ist auch festzustellen, dass Medienschaffende in dieser Hinsicht inzwischen viel dazugelernt haben.

Der Islam ist ein Teil Deutschlands 

Es hat lange gedauert, bis die Politik in Sachen Migration Selbstkritik geübt hat. Bundespräsident Horst Köhler (CDU) kritisierte 2006, dass Deutschland die Integration „verschlafen“ habe. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte ein Jahr später: „Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank geschoben.“ Die Große Koalition von CDU/CSU und SPD erklärte 2005 das Thema Integration zu einer Schwerpunktaufgabe. Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) stellte 2006 fest: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft.“

Diese Äußerungen wurden damals kaum kritisiert. Bundespräsident Christian Wulff (CDU) sprach in seiner Antrittsrede am 2. Juli 2010 von einer „Bunten Republik Deutschland“. Noch als Ministerpräsident von Niedersachsen hatte er die erste türkeistämmige Ministerin in Deutschland, Aygül Özkan, als Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration eingesetzt. Als Bundespräsident wiederholte er, was Schäuble gesagt hatte, nämlich, dass der Islam zu Deutschland gehört.

Dieses Mal löste er damit aber eine Kontroverse aus. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) distanzierte sich im März 2011 von den Worten des Bundespräsidenten. Kurz nach seinem Amtsantritt sagte er, dass die in der Bundesrepublik lebenden Menschen islamischen Glaubens natürlich zu Deutschland gehören. „Aber dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich aus der Historie nirgends belegen lässt“, fügte er hinzu. Dies stieß bei den muslimischen Verbänden auf herbe Kritik und überschattete die Deutsche Islam Konferenz (DIK), durch die ab 2006 ein fairer Dialog mit den Muslimen ins Leben gerufen werden sollte.

Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte dagegen im Januar 2015 klar: Der Islam ist Teil Deutschlands. Allerdings ist diese Aussage nach wie vor selbst in der CDU umstritten. So widersprach Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU): „Ich teile diese Auffassung nicht. Muslime sind in Deutschland willkommen und können ihre Religion ausüben. Das bedeutet aber nicht, dass der Islam zu Sachsen gehört.“ Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) schloss sich dagegen der Meinung der Bundeskanzlerin an: „Die 7.000 Muslime in Thüringen gehören zu Thüringen. Also gehören auch deren Glauben und die Verteidigung ihres Glaubens zu Thüringen. Das Grundgesetz sieht Glaubensgewährung für jeden vor. Heißt also ausdrücklich: Auch der Islam gehört zu Thüringen.“ 

Ob der Islam nun Teil Deutschlands ist oder nicht, das bleibt sicher weiterhin ein Diskussionsthema. Im Endeffekt ist es eigentlich Haarspalterei. Muslime und damit auch ihr Glauben sind nun einmal ein Teil Deutschlands. Der Satz, den Wolfgang Schäuble geprägt hat, beschreibt nichts anderes als die Realität der Einwanderungsgesellschaft Deutschland. 

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Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas. Er ist Teil unserer Gegenwart und er ist Teil unserer Zukunft.

Wolfang Schäuble, Bundesinnenminister (2006)

Integration ist nicht gescheitert

Die Probleme, die aus der Ausländerbeschäftigung entstanden sind, dürfen weder verharmlost noch dramatisiert werden. Schlechte Schulabschlüsse vieler Kinder und Enkel der „Gastarbeiter“, hohe Arbeitslosigkeit, unzureichende Sprachkenntnisse, das ist nur eine Seite der Medaille. Tatsache ist, dass sich nur eine Minderheit der türkeistämmigen Wohnbevölkerung abkapselt. So stellte beispielsweise der 6. Familienbericht der Bundesregierung zur Situation ausländischer Familien in Deutschland bereits im Jahre 2000 für die große Mehrzahl der Migranten eine erfolgreiche Integration fest. Der öffentliche Diskurs über Ausländer in Deutschland sei von extremer Vereinfachung geprägt. Der Familienbericht unterstreicht zudem die Integrationsleistungen, die die Migrantenfamilien selbst erbracht haben und die die Aufnahmegesellschaft entlasten. 

Zu den Klischeevorstellungen gehört beispielsweise auch die Legende vom „Mediengetto“. Das Bild von den Türken in Deutschland, die sich mit der Satellitenschüssel abgekoppelt haben, spiegelt aber nur einen kleinen Teil der Realität wider, denn türkische Einwanderer und ihre Kinder haben sich – so zahlreiche Untersuchungen – viel besser angepasst als vielfach angenommen, insbesondere auch was die Mediennutzung angeht. Auffällig ist, dass bei den Türken in Deutschland deutsche Medien schon seit Langem mehr Vertrauen genießen als türkische. 

Eine Untersuchung des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), die im August 2021 veröffentlicht wurde, unterstreicht diese Erkenntnis. Danach vertrauen zwei Drittel der in Deutschland lebenden Menschen mit Migrationshintergrund deutschen Medien. Dieses Vertrauen bringen sie den Medien aus dem Herkunftsland nur zu 36 Prozent entgegen. Was den Konsum von Medienangeboten angeht, so nutzen nach dieser Studie Zugewanderte und ihre Nachkommen Medien überwiegend auf Deutsch. Eine Ausnahme stellen aber die Türkeistämmigen dar, die angeben, deutschsprachige und herkunftssprachige Angebote des (Online-)Fernsehens etwa gleichermaßen zu nutzen. 

Studien der Konrad-Adenauer-Stiftung belegten schon vor Jahren, dass die türkische Wohnbevölkerung in Deutschland insgesamt viel besser integriert ist als gemeinhin angenommen. Ein überraschend hoher Anteil – nämlich fast die Hälfte – fühlt sich mit Deutschland ziemlich stark oder stark verbunden. Etwa die Hälfte der hier lebenden Türken wäre sogar bereit, Deutschland bei einem militärischen Angriff durch ein islamistisches Land zu verteidigen. Dieser Wert liegt über dem in den neuen Bundesländern unter Deutschen ermittelten Wert (42 Prozent). Erstaunlich ist auch, dass die Gesellschaftsordnung in Deutschland bei den hier lebenden Türken eine deutlich höhere Akzeptanz als bei der deutschen Bevölkerung hat. Nur acht Prozent halten sie für ungerecht. Bei der deutschen Bevölkerung ist es fast die Hälfte. 

Demokratie wird hoch geschätzt

Die politische Lage in der Türkei hat sich immer wieder auch in Deutschland widergespiegelt, beispielsweise bei den Protesten der Kurden gegen die Regierung in Ankara. In den letzten Jahren kam auch die Frage auf, warum relativ viele „Deutsch-Türken“ Anhänger des umstrittenen und totalitär regierenden türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP sind. Allerdings muss hier hinzugefügt werden, dass die Wahlbeteiligung unter den „Auslandstürken“ zum Beispiel bei den Wahlen 2018 recht gering war.

In einem gewissen Gegensatz dazu steht auf jeden Fall das Vertrauen in die Demokratie in Deutschland. So sind die hier lebenden Türkinnen und Türken mit der Demokratie schon seit Längerem zufriedener als die Deutschen. Das bestätigt eine Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 25. August 2021 unter Muslimen mit deutscher Staatsangehörigkeit, das sind 2,6 Millionen Menschen. Danach sind diese deutschen Muslime mit der Demokratie und dem politischen System überdurchschnittlich zufrieden. Für 81 Prozent ist die Demokratie, die wir in Deutschland haben, die beste Staatsform. In der bundesdeutschen Bevölkerung insgesamt waren es nur 70 Prozent.

Die Ergebnisse der Befragung widerlegen – so Allensbach – so manches gängige Klischee. In der Bevölkerung insgesamt liegt der Anteil derjenigen, die mit dem Funktionieren der Demokratie sehr zufrieden sind, bei 26 Prozent, unter den Muslimen mit deutscher Staatsangehörigkeit dagegen bei 53 Prozent. Das Vertrauen der Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit spiegelt sich jedoch nicht in einer entsprechend hohen Wahlbeteiligung wider. 63 Prozent der Befragten deutschen Muslime sagten in der Befragung, dass sie sich nach Möglichkeit an jeder oder zumindest an den meisten Bundestagswahlen beteiligen würden. In der Bevölkerung insgesamt sind es dagegen 86 Prozent. 

Was die subjektiv wahrgenommene Lebenswirklichkeit dieser muslimischen Bevölkerungsgruppe angeht, so hat die Befragung ebenfalls interessante Ergebnisse geliefert: Bei der Bevölkerung insgesamt halten sich die Anteile derjenigen, die sich als soziale Aufsteiger empfinden, und derjenigen, die dies nicht tun, in etwa die Waage. 44 Prozent gaben an, ihre soziale Lage sei besser als die ihrer Eltern, sechs Prozent meinten, sie sei schlechter, 39 Prozent sahen keinen Unterschied, was diesen Aspekt angeht. Von den befragten deutschen Muslimen meinten dagegen fast drei Viertel (71 Prozent), ihre soziale Stellung sei besser als die ihrer Eltern. Nur fünf Prozent sprachen von einer Verschlechterung, 15 Prozent sahen keinen Unterschied. 

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Vielfältiges muslimisches Leben

Das muslimische Leben in Deutschland ist in den letzten Jahren deutlich vielfältiger geworden. Die Zahl der Musliminnen und Muslime ist gewachsen, und ihre gesellschaftliche Einbettung wird weniger von der Religion, sondern stärker von anderen Faktoren wie der Aufenthaltsdauer beeinflusst. Das ist ein zentrales Ergebnis der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“, die das Forschungszentrum des BAMF im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (DIK) erstellt hat.

Nach der neuen Hochrechnung leben jetzt zwischen 5,3 und 5,6 Millionen muslimische Religionsangehörige mit Migrationshintergrund in Deutschland. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt damit zwischen 6,4 und 6,7 Prozent. Im Vergleich zur letzten Hochrechnung (2015) ist die Zahl der muslimischen Religionsangehörigen um rund 900.000 Personen gestiegen. Muslimische Religionsangehörige mit einem Migrationshintergrund aus der Türkei bilden mit 2,5 Millionen Personen weiterhin die größte Herkunftsgruppe, stellen aber mit einem Anteil von 45 Prozent nicht mehr die absolute Mehrheit. Fast 1,5 Millionen Menschen (27 %) kommen aus einem arabischsprachigen Land im Nahen Osten (19 %) oder Nordafrika (8 %). 

Personen mit Migrationshintergrund aus muslimisch geprägten Herkunftsländern sind nach diesen Studienergebnissen deutlich religiöser als Personen ohne Migrationshintergrund. Über zwei Drittel (70 %) der muslimischen Mädchen und Frauen tragen kein Kopftuch, so ein weiteres Ergebnis. Der überwiegende Teil der muslimischen Religionsangehörigen attestiert sich selbst gute oder sehr gute Deutschkenntnisse. Die Studie beleuchtet auch Aspekte der sozialen Integration. Danach fühlen sich viele muslimische Personen stark mit Deutschland verbunden. Der größte Teil der Musliminnen und Muslime, der eine Vereinsmitgliedschaft besitzt, hat diese in einem deutschen Verein. Auch die Häufig-keit der Alltagskontakte zu Personen mit deutscher Herkunft ist demnach hoch. Zwei von drei Personen haben häufig Kontakt zu Personen deutscher Herkunft im Freundeskreis.

Alles in allem macht Deutschland beim Thema Integration deutlich Fortschritte. Zu diesem Ergebnis kommt eine groß angelegte Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus dem Jahr 2021. Demnach fühlt sich die Hälfte der Personen mit Migrationshintergrund aus der ersten Generation als Deutscher. 15 Jahre zuvor waren es nur 40 Prozent. Von der zweiten Generation fühlen sich sogar drei Viertel deutsch. Auf dem deutschen Arbeitsmarkt verdienten nach dieser Studie Zuwanderer der zweiten Generation – unter sonst gleichen Bedingungen wie zum Beispiel der fachlichen Qualifikation und dem Alter – sogar mehr als Personen ohne Migrationshintergrund. Angesichts dieser Ergebnisse befindet sich Deutschland – so die Studie – offenbar auf dem richtigen Weg. 

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Eine „Diamanthochzeit“ nach 60 Jahren?

Türken und Deutsche müssen 60 Jahre nach dem Anwerbeabkommen eine gemischte Bilanz ziehen. Eigentlich könnten sie jetzt die Diamanthochzeit feiern, aber vielleicht war es doch nur eine Scheinehe oder gar eine Zwangsheirat? Ein Zweckbündnis ganz sicher, aber wohl keine Liebesheirat. Die Deutschen haben mit Türkinnen und Türken jahrzehntelang – wenn auch ohne große Konflikte – vielleicht mehr schlecht als recht zusammengelebt: die früheren „Gastarbeiter“ in einer Rückkehrillusion, Deutschland in der Lebenslüge „wir sind kein Einwanderungsland“. Viele türkische Einwanderer haben Diskriminierungen erlebt. Jugendliche, die hier geboren und aufgewachsen sind, klagen oft darüber, dass sie gefragt werden: „Woher kommst Du aber eigentlich?“

Ein besonderes Problem sind die „Gastarbeiter-Rentner“, die oft schlecht Deutsch sprechen, weil sie nur in einem bestimmten Bereich immer an derselben Stelle in einem Betrieb gearbeitet haben. Das einfache „Gastarbeiter-Deutsch“ hat ausgereicht, zumal sie keine kostenlosen Sprachkurse in der Firma wie beispielsweise ihre Arbeitskollegen in Schweden angeboten bekommen haben. Den Kontakt zur alten Heimat haben sie oft verloren, in der Türkei sind sie die „Deutschländer“, in Deutschland nach wie vor die Türken. Die Altersheime und die Altenpflege, die Sozialpolitik insgesamt stehen hier vor der Herausforderung, diese Rentnerinnen und Rentner wenigstens noch im Alter zu „integrieren.“

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Muslimische Bevölkerung wird noch stärkere Bedeutung erlangen

Insgesamt wird die muslimische Bevölkerung in Deutschland künftig eine noch stärkere Bedeutung erlangen, nicht zuletzt aufgrund der steigenden Zahl der Einbürgerungen und damit der Wählerstimmen, die angesichts knapper Wahlergebnisse für die Parteien immer interessanter werden. So wurde schon gesagt, 1994 hätte Bundeskanzler Helmut Kohl mit den Stimmen der deutschstämmigen Spätaussiedler und sein Amtsnachfolger Gerhard Schröder 1998 mit den Stimmen der eingebürgerten Türken die jeweilige Bundestagswahl gewonnen. Bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen im Mai 2000 standen beispielsweise rund 180.000 Stimmen von „Deutschtürken“, wie sie genannt werden, auf dem Spiel. Im Bundestagswahlkampf 2021 bemühte sich der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, ganz gezielt um die Stimmen der „Deutschtürken“, ging es diesmal doch um 1,4 Millionen wahlberechtigte Frauen und Männer mit türkischem Migrationshintergrund. 

Land auf Menschen mit Migrationshintergrund angewiesen

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie sehr das Land auf Menschen mit Migrationshintergrund im Gesundheitswesen, im Dienstleistungssektor oder in der Altenpflege angewiesen ist. Darunter sind viele Frauen und Männer mit einer türkischen Einwanderungsgeschichte. In Zukunft braucht Deutschland Einwanderer, denn die Bevölkerungsentwicklung sieht so aus: weniger, älter und bunter. Sicher ist, dass durch Zuwanderung die Entwicklung zu einer immer älter werdenden und schrumpfenden Bevölkerung gar nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Man müsste praktisch nur noch Kinder einwandern lassen, was natürlich absurd ist. Zuwanderung ist also kein Allheilmittel gegen das „Altersheim Deutschland“. Einwanderung, gezielt ausgesucht, kann diesen Trend jedoch etwas abfedern und sollte in diesem Sinne eigentlich als Glücksfall begriffen werden. 

Einwanderer sind ein „Balsam für Rentenkassen“, wie es das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln bereits vor Jahren ausdrückte. In einer Studie unterstreicht das Institut 2021, dass ohne Zuwanderung das Arbeitskräftepotenzial schon heute sinken würde. Europa sollte türkische und andere Zuwanderer deshalb auch als Bereicherung, geradezu als Glücksfall begreifen. Die jungen Einwanderer und Einwanderinnen, hier geboren und aufgewachsen, sind auf jeden Fall ein Gewinn in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Darauf weisen Migrationsforscher seit über 25 Jahren hin. 

Deutschland sucht Arbeitskräfte

Im August 2021 warnte wieder einmal ein prominenter Experte, Detlef Scheele, Chef der Bundesagentur für Arbeit, in der „Süddeutschen Zeitung“ vor einem immensen Mangel an Fachkräften. Er appellierte an die nächste Bundesregierung, mehr Zuwanderer ins Land zu holen: „Deutschland gehen die Arbeitskräfte aus.“ Scheele in seinem Appell weiter: „Wir brauchen 400.000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren. Von der Pflege über Klimatechniker bis zu Logistikern und Akademikerinnen: Es werden überall Fachkräfte fehlen.“

Dazu müsste Deutschland ein zukunftsorientiertes Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen, das über die bestehenden Ansätze hinausgeht. Integrationspolitische Anstrengungen müssten verstärkt werden, vor allem die Integration in den Arbeitsmarkt müsste besser funktionieren. Dabei ist vor allem auch an die jungen Nachkommen der türkischen Einwanderer zu denken, deren Potenzial noch nicht ausgeschöpft ist.

Das gilt auch für die Geflüchteten, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind und von denen inzwischen die Hälfte eine Arbeitsstelle hat. Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sagte in diesem Zusammenhang: „Wenn sich Flüchtlinge aus Afghanistan oder anderen Ländern auf den Weg machen, sollte Deutschland seinen Beitrag leisten, um sie aufzunehmen und ihnen den Weg in die Berufstätigkeit erleichtern. Das erwarten wir auch von der Politik und der neuen Bundesregierung.“

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Symbolische Wertschätzung 2021

Eine symbolische Wertschätzung durften die Zugewanderten aus der Türkei – viele sind inzwischen eingebürgert – 2021 erfahren, wie auch schon beim fünfzigjährigen Anwerbejubiläum, wo ihre Verdienste und die kulturelle Bereicherung, die Deutschland durch sie erfahren hat, gewürdigt wurden. Immer wieder wird beschworen, dass sie ein festes Bindeglied mit Brückenfunktion zwischen beiden Ländern sind, die wirtschaftlich und politisch seit Langem miteinander verknüpft sind.

Im September 2021 erinnerte zum Beispiel das Goethe-Institut mit umfangreichen kulturellen Aktivitäten an den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens. Ein zweimonatiges Festival in Deutschland und in der Türkei sollte den deutsch-türkischen Dialog fördern. In Filmvorführungen, Konzerten und Lesungen stand die gesellschaftliche Vielfalt beider Länder und ihrer Menschen im Fokus. 

Am 31. August 2021 fand im Bundeskanzleramt ein Festakt zu Ehren der „Gastarbeiter“ und der „Vertragsarbeiterinnen“, die in der ehemaligen DDR gearbeitet hatten, statt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Staatsministerin Annette Widmann-Mauz, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, verliehen dabei den Integrationspreis „Talisman“ der Deutschlandstiftung Integration an vier „Gastarbeiter“ und „Vertragsarbeiterinnen“. In einer stark von Emotionen geprägten Runde sprachen die Kinder über die Lebensleistung ihrer Eltern, stellvertretend für viele Millionen ihrer Landsleute. Dr. Dilek Gürsoy, eine Herzchirurgin, erzählte vom Schicksal ihrer Mutter, Zeynep Gürsoy, die im Alter von 19 Jahren ihrem Ehemann nach Deutschland folgte. 47 Jahre lang hat sie in Neuss am Fließband im Akkord gearbeitet. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes musste sie die Familie allein versorgen. Sie ist in Deutschland geblieben, das für sie zur Heimat geworden ist. Widmann-Mauz würdigte die Leistungen der Arbeitsmigranten: „Dieser Teil deutscher Geschichte gehört in das kollektive Gedächtnis unseres Landes, in die Museen, in den Unterricht an jeder Schule.“

„Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!“ 

Anlässlich des historischen Jahrestages eröffnete am 10. September 2021 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine Gesprächsrunde mit Bürgerinnen und Bürgern mit türkischen Wurzeln mit einer Rede, in der er sagte: 

  • Sie alle haben nicht nur äußerlich das Gesicht unseres Landes verändert mit dem, was ihre Hände aufgebaut haben. Sondern sie haben die deutsche Gesellschaft im Innersten verändert. Und auch sechzig Jahre danach ist es nicht zu spät, Danke zu sagen.

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

  • Wenn wir heute an jene Zeit, an jene Bilder vor sechzig Jahren erinnern, dann sehen wir aber nicht nur Hoffnung, Zuversicht, Aufbruch. Wir sehen auch Bilder, die nur schwer zu ertragen sind: die erniedrigende Leibesvisitation bei der Einstellungsuntersuchung, deutsche Amtsärzte, die mit herzloser Routine Gebisse untersuchen, durchnummerierte Menschen in Unterwäsche; wir sehen baufällige Baracken, in denen viel zu viele auf kleinstem Raum hausen mussten; entwurzelte und entkräftete Menschen, ausgezehrt von der harten Arbeit. Solche Bilder, auch der Blick auf uns selbst bestürzt uns noch heute.

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

  • Steinmeier sprach sich für einen Perspektivwechsel aus, was den Begriff „Deutschsein“ beinhaltet. Dabei sollten wir aber ehrlich sein, so der Bundespräsident:

    Diese bessere Zukunft wird es nicht geben, solange Ausgrenzung, Vorurteile, Ressentiments den Alltag unserer Gesellschaft durchziehen. Wenn die Jobbewerbung aussortiert wird, wenn die Wohnungssuche zum Spießrutenlauf wird, nur weil man anders heißt, weil man anders aussieht. Ist das nicht eine ähnliche Geisteshaltung, die da zum Vorscheint kommt, ein ähnliches Menschenbild wie vor sechzig Jahren, als man keinen Anstoß daran nahm, Menschen wie Arbeitsmaschinen zu behandeln?

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

  • Ich finde, es ist an der Zeit für [...] diesen Perspektivwechsel. Wenn heute über ein Viertel der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund hat, die meisten von ihnen hier geboren, warum zeigen wir dann überhaupt noch auf andere Menschen und sagen, „das sind Menschen mit Migrationshintergrund“, als seien sie irgendwie anders, außergewöhnlich, fremder als „Wir“? Wer ist denn dieses „Wir“? Nein, meine Damen und Herren, Sie sind nicht „Menschen mit Migrationshintergrund“ – wir sind ein Land mit Migrationshintergrund!

    Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier

Das alles sind starke Signale einer Willkommenskultur, der jenseits aller Reden und Wellen der „Türkenfreundlichkeit“ weitere Anstrengungen in der Migrations- und Integrationspolitik, aber auch in einer nachhaltigen Anerkennungskultur folgen sollten. 

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Quellen, Literatur und weiterführende Links

Quellen- und Literaturangaben

  • Hunn, Karin: „Nächstes Jahr kehren wir zurück“. Die Geschichte der türkischen „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik, Göttingen 2005.
  • Meier-Braun, Karl-Heinz: Ramadanfeier im Kölner Dom – 50 Jahre Anwerbeabkommen mit der Türkei, in: Rauf Ceylan (Hrsg.): Islam und Diaspora. Analysen zum muslimischen Leben in Deutschland aus historischer, rechtlicher sowie migrations- und religionssoziolo-gischer Perspektive, Frankfurt/M. 2012, S. 31–58.
  • Meier-Braun, Karl-Heinz: Deutsche und Türken – das Ende einer alten Freundschaft? Zum aktuellen Stand der deutsch-türkischen Beziehungen. Sendung „Südfunk 3“ vom 5. Oktober 1986. 
  • Meier-Braun, Karl-Heinz: Einwanderung und Asyl. Die 101 wichtigsten Fragen, 3. Aufl., München 2017. 
  • Meier-Braun, Karl-Heinz/Reinhold Weber: Ein Koffer voll Hoffnung. Das Einwanderungs-land Baden-Württemberg, Tübingen 2019.
  • Schönwälder, Karen: Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001.
  • Zur Geschichte des deutsch-türkischen Anwerbeabkommen und „Einzelschicksale“.

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Stand der Aktualisierung: Oktober 2021, Internetredaktion der LpB BW.
Autor: Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun.

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