Juli 2018

Anna Haag (1888 – 1982)

Schriftstellerin, Politikerin, Pazifistin

Die württembergische Politikerin Anna Haag, die im Juli 2018 vor 130 Jahren geboren wurde, trug mit Überzeugungskraft und nicht korrumpierbarem Pazifismus entscheidend dazu bei, den Zwang zum Kriegs- bzw. Wehrdienst abzuschaffen.

Hinter einer der größten demokratischen Errungenschaften der Nachkriegszeit steht die Schriftstellerin, Politikerin und Frauenrechtlerin Anna Haag: Geprägt durch zwei Weltkriege und pazifistische Überzeugungen bringt die Sozialdemokratin 1947 den Initiativ-Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung in den Landtag ein und stößt damit nicht nur kontroverse Debatten an, sondern sorgt auch für ein neues Verständnis von Patriotismus und Frieden in Deutschland.

Noch bis 1991 mussten Angehörige jener Menschen, die im 2. Weltkrieg auf Grund moralischer Überzeugung desertierten, für eine Entschädigung und Anerkennung ihrer ermordeten Verwandten kämpfen. Lange Zeit war mit der Grausamkeit des Krieges auch das erzwungene Opfer Tausender junger Menschen verbunden, die durch blinden Patriotismus und totalitären Militarismus in den sicheren Tod geschickt wurden. Männer, die sich dem Gräuel des Krieges entzogen und widersetzten, wurden weltweit zum Tode verurteilt. Kriegsdienstverweigerung oder das Desertieren aus der Armee galt mehrheitlich als Schande und wurde hart bestraft.
Hunderttausende junger Männer in der Bundesrepublik Deutschland verdanken daher dieser Frau die Möglichkeit, dass sie hinsichtlich der Wehrpflicht eine Entscheidung treffen konnten, die ihren Werten und Vorstellungen entspricht.

Kindheit und Jugend

Als drittes von sechs Kindern einer Lehrerfamilie wird Anna Schaich am 10.September 1888 in Althütte bei Backnang geboren. Sie wächst in bescheidenen Verhältnissen auf und muss trotz ihres Wissensdursts nach Ende der Volksschule (d.h. mit der Konfirmation) die Schule abbrechen und im Familienhaushalt mitarbeiten. Abgesehen von einem zweijährigen Besuch der höheren Töchterschule in Backnang bleibt ihr – wie vielen anderen jungen Frauen jener Zeit – höhere Bildung verwehrt. Dennoch tut sie ihr Bestes, um sich weiterzubilden, etwa durch Diskussionen mit ihrem politisch wachen Vater oder die Lektüre unterschiedlichster Bücher.

Durch Diskussionen in ihrem Elternhaus kommt Anna früh in Kontakt mit Fragen der Gerechtigkeit: Als ihr Vater sich über die Erhebung indirekter (Verbrauchs-)Steuern durch den württembergischen Landtag ereifert, die gerade "kleine Leute" treffen, schwört sie sich:

„Wenn ich einmal groß bin, werde ich bestimmt helfen, dass die Welt vernünftiger geordnet wird! Auf alle Fälle werde ich dafür sorgen, dass die ärgerlichen indirekten Steuern abgeschafft werden!“

Anna Haag, zit. n. Mascha Riepl-Schmidt 1990, S.249

 

Aber: Anna ist ‚nur‘ ein Mädchen und das aktive und passive Wahlrecht für Frauen noch nicht erkämpft. Ihre ersten „frauenrechtlichen Regungen“ verspürt die junge Frau, als der Vater ihre Post zensiert und Briefe von potentiellen Verehrern aussortiert. Im Alter von 21 Jahren heiratet Anna Schaich nach vierjähriger Verlobungszeit den Mathematikstudenten und späteren Lehrer Albert Haag, dem sie an seine Arbeitsorte in Schlesien und Pommern folgt. Die Ehe ist von Toleranz und gegenseitigem Respekt geprägt und ermöglicht es Anna, ihre Freiräume zu nutzen. Nach der Geburt von zwei Töchtern zieht die junge Familie 1912 nach Bukarest, wo Albert Haag an der Deutschen Schule arbeitet. Anna Haag schreibt hier für verschiedene deutsche Zeitungen Reiseberichte und erhält positive Resonanz für ihre journalistische Arbeit.

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Kriegserleben und Friedenssehnsucht

Mit Beginn des 1. Weltkrieges 1914 endet die zunächst glückliche Zeit. Entsetzt erlebt Anna Haag mit, wie unzählige junge Männer in einem sinnlosen Krieg sterben oder aufs Schlimmste verstümmelt werden.

Einer ihrer Brüder wird in Russland getötet und ihr Ehemann wird interniert, so dass Anna allein für den Lebensunterhalt der Familie verantwortlich ist. Inmitten des großen Leids während der Kriegsjahre übernimmt sie die Leitung eines Flüchtlingsheimes in Bukarest und hält so die Familie am Leben.

Die Gräuel des Kriegs werden Anna Haag ihr Leben lang nicht mehr loslassen. Ihre pazifistische Überzeugung und die Perspektive der Völkerfreundschaft und -verständigung werden zu tiefen Grundsätzen ihres Denkens und Handelns.

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Hoffnung auf Frieden und Demokratie

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs kehrt Anna Haag 1919 mit der inzwischen fünfköpfigen Familie nach Deutschland zurück. Sieben Jahre leben die Haags in Nürtingen. Annas Glaube an ein demokratisches Deutschland und die Überzeugung, für Frieden und Freiheit weltweit eintreten zu müssen, motivieren sie zum politischen Engagement:

Bereits 1915, mitten im Krieg, war sie der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) beige-treten – noch bevor die pazifistische Frauenorganisation überhaupt eine deutsche Sektion hatte. 1919 wird Anna Haag Mitglied der neu gegründeten deutschen Sektion der IFFF. Gemeinsam mit ihrem Mann tritt sie in die SPD ein – der Partei, in der beide ihre Überzeugungen und Ziele am besten vertreten sehen.

1926 zieht die Familie nach Stuttgart, wo Albert Haag eine neue Stelle als Lehrer antritt. Anna setzt ihre schriftstellerische Arbeit fort und veröffentlicht 1926 nach mehreren Erzählungen mit „Die vier Roserkinder“ ihren ersten Roman. Die Einnahmen aus ihrem literarischen Werk tragen mit zum Familieneinkommen bei.

Anna Haags Hoffnung, nach dem Desaster des Ersten Weltkriegs nun in einem demokratischen und friedliebenden Staat leben zu können, wird jedoch bald zerschlagen. In Stuttgart muss die Familie mit ansehen, wie die Nationalsozialisten an Terrain gewinnen und Fremdenhass, blinden Nationalismus und die Diskriminierung großer Bevölkerungsgruppen vorantreiben. Von Beginn dieser Gefahr an ist Anna Haag eine ständige Mahnerin und Gegnerin der Nationalsozialisten und sieht in ihnen „die schlimmste Bedrohung für die Menschheit“.

Der Nationalsozialismus – „Schlimmste Bedrohung für die Menschheit“

Es verwundert nicht, dass Albert und Anna Haag nach der nationalsozialistischen Machtübernahme unter Schikanen leiden: Wird Albert 1934 wegen pazifistischer Äußerungen strafversetzt – er hatte sich öffentlich über die Schrecken des Ersten Weltkriegs geäußert – erhält Anna Publikationsverbot.

Sie leidet sehr darunter, sich nicht äußern und damit auch andere zur Vorsicht mahnen zu können. Nur knapp entgeht Anna Haag einer Verhaftung, weil sie ein mit ihrem Namen publiziertes Anti-Kriegs-Plakat der IFFF in letzter Minute vor einer Hausdurchsuchung verbrennen kann.

Ihre Sorgen und Nöte schreibt Anna Haag über den gesamten Zweiten Weltkrieg in einem geheimen, versteckt aufbewahrten Tagebuch nieder. Hier dokumentiert sie die nationalsozialistische Propaganda, hinterfragt deren Wirkmechanismen und schildert das Trauma von NS-Zeit und Zweitem Weltkrieg.
 

„Nicht die gelegentliche und zu allen Zeiten als Begleiterscheinung des normalen Lebens auftretende Niedertracht ist es, die mich im Innersten aufwühlt, sondern die Tatsache, daß bei uns zu Lande gegenwärtig die Niedertracht zum Prinzip erhoben ist – die braune Pest.“

Kriegstagebuch Anna Haag, 21.5.1941, zit. n. Riepl-Schmidt 1990, S. 250

„Fünf Tage lang habe ich nicht gewagt, meine Aufzeichnungen aus ihrem Versteck im Kohlenkeller hervorzuholen. Mir sitzt wieder mal die Gestapo im Genick, Ich habe irgendwo geäußert: ‚Hoffentlich marschieren wir nicht in Rußland ein.‘ Darum bin ich nun ein ‚Defaitist‘. Alberst sah mich bereits im KZ, Er bat, aber beschwor mich, klug zu sein. Es sei, als befinde man sich unter reißenden Tieren, jede ungeschickte Bewegung können einem das Leben kosten. ‚Was sollte ich ohne dich! ‘ hat er geflüstert.
Das war es: Was sollte dieser schwerblütige Mann auch tun ohne seine Frau, die trotz allem zwischendurch lachen und dem Drang, die Komik einer Situation aufzuzeigen, nicht widerstehen konnte.
Die schwarze Wolke zog vorüber. Ein gütiger Parteigenosse – es gab ja auch solche – hat sich für mich eingesetzt. Ich sei in Ordnung, habe er garantiert.“


Kriegstagebuch Anna Haag, 20.6.1941, zit. n. Haag 1968, S. 161

Der Nationalsozialismus bedeutete für Anna Haag „die Verneinung jeglicher Werte, für die man lebt. Sie sah in ihm die Reduzierung des Menschen auf die Bestie Mensch durch die Verherrlichung von Krieg und Sterben sowie von falschem Heldentum, durch die Auslöschung individueller Freiheit, durch die Gleichschaltung im Tun und Denken, durch Hörigkeit gegenüber der Propaganda, durch die Vergöttlichung des Führers. “ (Christa Gallasch zit. n. Hochreuther 2012, S. 108).

Anna Haag sehnt die Niederlage der Nationalsozialisten herbei und hofft, dem – dann vor dem Nichts stehenden –  deutschen Volk einen Neuanfang durch Bildung ermöglichen zu können. Noch kurz vor Kriegsende legt sie in ihrem Tagebuch den Schwur ab, nach Ende von Krieg und Nazi-Herrschaft am Neubeginn aktiv mitzuwirken.

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Politischer Wiederaufbau nach dem Krieg: „Wir Frauen müssen es machen!“

Gleich nach Kriegsende 1945 beteiligt sich Anna Haag am demokratischen Neuaufbau ihrer Heimat und engagiert sich wieder aktiv in der Politik. Unmittelbar nach Wiedergründung der SPD tritt sie der Partei bei, die sich 1933 im Reichstag als einzige Partei dem Ermächtigungsgesetzt widersetzt hatte.

Anna Haag wird Mitglied des ersten städtischen Beirats in Stuttgart, einem Vorläufer des demokratisch zu wählenden Gemeinderats. Hier wirkt sie maßgeblich mit an der Versorgung der ausgehungerten und heimatlos gewordenen Bevölkerung. Ohne Anna Haags Einsatz für Frauen und Benachteiligte wäre die Versorgung der Bevölkerung im bombenzerstörten Stuttgart der direkten Nachkriegszeit deutlich schwieriger gewesen. Neben der Bekämpfung der ersten Not ging es Anna Haag auch darum, nazistische Überbleibsel zu beseitigen und wo möglich Wiedergutmachung zu leisten.

Bald sind es aber die aus dem Krieg heimkehrenden Männer, die wieder ihren angestammten Platz in der (Kommunal)Politik einnehmen und Frauen ihren Platz streitig machen.

Noch 1945 gründet Anna Haag die Stuttgarter Gruppe der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) neu und wird deren Vorsitzende. Und sie wird wieder publizistisch aktiv: 1946 verfasst sie unter dem Motto „Und wir Frauen?“ eine Broschüre, die mit Lizenz der Militärregierung publiziert wird und auf breite Resonanz trifft. Damit versucht Anna Haag, ihre Geschlechtsgenossinnen für die aktive Mitarbeit in Politik und Gesellschaft zu gewinnen.

„Die Frauen müssen es machen! Wenn es die deutschen Frauen nicht machen, sehe ich keine Chance für Deutschland.“

Anna Haag 1945, zit. n. Kopp 2011

Auch mit der ab 1949 erscheinenden Zeitschrift „Die Weltbürgerin“ wendet sich Anna Haag gezielt an Hausfrauen und Mütter, vermittelt pazifistische Ideale und versucht, Frauen zur Beteiligung am politischen Geschehen zu motivieren.

Dabei bleibt es aber nicht:
Unter der Federführung und Beteiligung von Anna Haag entstehen zahlreiche soziale Projekte und Frauenverbände wie etwa der Deutsch-Amerikanische Frauenverein oder der Hausfrauenverein. 1949 legt Anna Haag mit der Arbeitsgemeinschaft „Stuttgarter Frauen helfen bauen“ einen wichtigen Grundstein für den Wiederaufbau und den Kampf gegen Wohnungsnot in der zerstören Großstadt.
„Denkt daran, wir Frauen müssen es machen!“ ist ihr Credo und Politikverständnis zugleich.

Auf Initiative von Anna Haag und mit großem Einsatz der nun über 60jährigen entsteht 1951 in Stuttgart-Bad Cannstatt ein Mädchen- und Frauenwohnheim, das alleinstehenden und obdachlos gewordenen Frauen das dringend benötigte Zuhause mit Freizeiträumen und Bibliothek bietet. Umgebaut und modernisiert besteht das „Anna Haag Haus“ als Mehrgenerationenhaus für breite Bevölkerungsschichten bis heute.

Das politische Engagement Anna Haags ist stets mit sozialem Tun verknüpft: Mit ihrer Unterstützung kann etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband in Stuttgart seine Arbeit aufnehmen. Die Psychotherapeutische Klinik Stuttgart-Sonnenberg mit ihren fortschrittlichen Therapie-Konzepten wird unter Anna Haags Beteiligung errichtet und leistet noch heute einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung.

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Eine von zehn Parlamentarierinnen

Nominiert von der SPD wird Anna Haag 1946 als eine von nur sechs Frauen Mitglied der Verfassunggebenden Landesversammlung von Württemberg-Baden und 1946 zur Abgeordneten im Landtag von Württemberg-Baden gewählt. Als eine von zehn Parlamentarierinnen setzt sie sich engagiert für ihre Überzeugungen ein – bei Wortmeldungen Anna Haags wird die Mehrzahl der „Herren Abgeordneten" unruhig.

Im Landtag engagiert sich Anna Haag für die einstweilige Aussetzung von Strafverfahren im Kontext des Paragraphen 218. Ihr geht es darum, Frauen zu unterstützen, die gerade in der Nachkriegszeit unter dem Verbot des Schwangerschaftsabbruchs leiden (und nicht selten an heimlichen Abtreibungen sterben). Als Hausfrau und Mutter, die sie auch ist, versucht Anna Haag, die Rechte von Hausfrauen zu stärken. Sie fordert, Hausfrauen-Arbeit als solche anzuerkennen und sie auch bei der Verteilung von Lebensmittelkarten zu berücksichtigen.

Dass sich nur wenige Frauen in der Politik engagieren, obwohl doch in ihren Augen Politik mit Frauenleben in all seinen Facetten fest verwoben ist, macht ihr genauso zu schaffen wie die Tatsache, dass in der Nachkriegszeit über lange Jahre alle wichtigen Gremien und Entscheidungsebenen ausschließlich von Männern besetzt sind. Anna Haags weites und feministisches Politikverständnis zeigt ein Redebeitrag auf einer SPD-Veranstaltung 1946:

„Es liegt an uns Frauen, zu beweisen, dass wir begriffen haben, um was es in der Politik geht.
Da es um nichts Geringeres geht, als um die Gestaltung unseres irdischen Lebens, um Wohnen und Essen, um Arbeit und Lohn, um Schule und Erziehung, um Frauen und Beruf, um Sicherung eines sorgenfreien Alters, um die Freiheit, unseren Gott suchen zu dürfen, wo wir ihn zu finden glauben, um Krieg und Frieden, werden wir Frauen in Zukunft den politischen Dingen den Ernst entgegenbringen müssen, der ihnen zukommt.“


Anna Haag 1946 - Zit. n.: Kuhn, Annette u.a.: Politeia. Szenarien der deutschen Geschichte nach 1945 aus Frauensicht, Bonn 1998, S. 81

 

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Gegen den Kriegsdienst — für Frieden und Freiheit

Anna Haags größtes und sicher bedeutendstes Projekt ist der 1947 von ihr eingebrachte Initiativ-Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung. Zur tiefsten Überzeugung der Pazifistin gehört es, dass jeder Mensch das Recht haben soll, den Kriegsdienst zu verweigern. Niemand soll gezwungen werden, gegen seinen Willen zu töten oder in einem Krieg kämpfen zu müssen.

Der Gesetzesentwurf, der im November 1947 von den Mitgliedern der SPD-Fraktion im Landtag mitgetragen und -unterzeichnet wurde, ist für sie nach den Erfahrungen des 2. Weltkrieges so selbstverständlich, dass sie kaum eine Debatte darüber erwartet. Wer so entsetzliches Leid wie den gerade beendeten Krieg durchgestanden hat, kann nach ihrer Einschätzung doch unmöglich befürworten, dass sich junge Menschen wieder für den Kriegseinsatz vorbereiten sollen. Dennoch entsteht unter den Landtagsfraktionen eine hitzig geführte, kontroverse Diskussion, die Anna Haag ungläubig verfolgt:

„Ich habe mir gedacht, daß dieser Gesetzentwurf angesichts der zahllosen Leidesstationen, die unser Volk durchwandern mußte und die von vielen noch nicht endgültig durchschritten sind, keines Kommentars bedürfte. Aber einige Mitglieder unseres Landtages sind durch diesen Gesetzentwurf offenbar in einen inneren Zwiespalt gekommen. Ich möchte diesen Kollegen sagen, sie möchten doch einmal jene Lazarette besuchen, wo die Menschenwracks, unsren Augen entrückt, lebendig begraben sind, jene Überbleibsel junge, schöne Menschen ohne Gesichter, menschliche Rümpfe ohne Arme und Beine, aber mit dem lebendigen Bewusstsein, das sie zwingt, in jeder Minute ihre Qual wahrnehmen zu können. Sie sehen dort, was Menschen angetan werden kann…“

Anna Haag zit. n. Brändle-Zeile 1983, S. 63

Nach langer Debatte wird der Gesetzentwurf – der im November 1947 zusätzlich zu den SPD-Mitgliedern von den Abgeordneten Elly Heuss-Knapp (DVP) sowie Gertrud Frühschütz und Antonie Langendorf (beide KPD) unterzeichnet wurde – im April 1948 angenommen. Das Gesetz ist bahnbrechend (nicht nur) für Württemberg-Baden: Erstmals setzt der Gesetzgeber ein Zeichen gegen Krieg und Waffendienst. Zwar lässt sich Krieg nicht durch ein Gesetz verhindern, es erlaubt Betroffenen aber, das eigene Gewissen, persönliche Freiheit sowie Frieden und den Wert  menschlichen Lebens über den Zwang zum Dienst mit der Waffe zu stellen.

In leicht abgeänderter Fassung wird der Gesetzentwurf bundesweit von den Vätern und Müttern der Verfassung übernommen und 1949 in das Grundgesetz aufgenommen. Dort heißt es im Grundrechte-Katalog:

„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“

Grundgesetz Art.4, Abs.3

Durch Anna Haags großes Engagement für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung schrieb sie sich in die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Ihr Einsatz bot bis zur Aussetzung der Wehr-pflicht im Jahr 2011 hunderttausenden junger Männer die Möglichkeit, ihrem Gewissen zu folgen und  den Wehrdienst zu verweigern.

Trotz ihrer erfolgreichen parlamentarischen Arbeit und diesem bahnbrechenden Erfolg kandidiert Anna Haag 1952 nicht mehr für den Landtag von Baden-Württemberg. Ihren unverrückbaren pazifistischen Idealen widerspricht die aktuelle politische Entwicklung: Sie ist gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik unter Kanzler Adenauer und hat in Sachen Wiedereinführung der Wehrpflicht auch Differenzen mit ihrer Partei. Ungewöhnlich und bis heute bewundernswert ist es, wie eindeutig und ohne Rücksicht auf Karriere oder Machtposition Anna Haag die politische Laufbahn zugunsten ihrer Überzeugungen aufgibt. Auf diese Weise kann sie auch als Vorbild für jene dienen, denen Moral wichtiger ist als Geld oder Macht.

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Weltbürgerin und Schriftstellerin

Auch nach dem Ausscheiden aus dem Landtag bleibt Anna Haag politisch aktiv.
Als Weltbürgerin wirkt sie nicht nur im Rat der Europäischen Bewegung mit, sondern setzt sich auch für die transnationale und transkontinentale Völkerverständigung ein. Nach dem Tod ihres Ehemanns 1951 nimmt sie eine Einladung in die USA an und spricht auf einer Vortragsreise über „Strömungen in Deutschland“, 1956 folgt eine weitere Vortragsreise. Immer macht Anna Haag sich für Völkerfreundschaft stark, für ein geeinigtes, friedliches Europa und für eine neue Perspektive auf das Nachkriegsdeutschland.

1968 erscheinen mit „Das Glück zu leben“ Anna Haags Lebenserinnerungen. Über dieses und weitere Bücher jener Zeit schreibt Mascha Riepl-Schmidt:

„Ihre Bücher (…) zeigen eine gütige, humorvoll-hartnäckige Frau, die nicht mit ihrer errungenen Lebensweisheit protzt, sondern versucht, mit ihrem besseren Wissen für mehr Menschlichkeit zu werben.“

Riepl-Schmidt 1990, S. 253

Auch im Alter bleibt Anna Haag politisch interessiert. Zu ihrem 80. Geburtstag wird sie 1968 mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt, 1975 mit der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg und zu ihrem 90. Geburtstag von der Stadt Stuttgart mit der Bürgermedaille.

Am 20. Januar 1982 stirbt Anna Haag im Alter von 93 Jahren in Stuttgart und wird auf dem Friedhof in Stuttgart-Birkach beigesetzt.

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Was bleibt und wie wird an sie erinnert?

Nur an wenigen  Orten wird versucht, Leben und  Wirken Anna Haags in Erinnerung zu behalten:
Ihr Geburtsort Althütte würdigt seine bekannteste Bürgerin mit einem Ausstellungsteil im Heimatmuseum. Die Grundschulen in Althütte und Anna Haags späterem Wohnort Nürtingen-Neckarhausen sind nach ihr benannt.

Vor allem das Anna Haag Haus in Stuttgart-Bad Cannstatt, das heute als ältestes Mehrgenerationenhaus in Deutschland gilt, setzt dem Engagement der Namensgeberin für Frauen und Mädchen ein Denkmal.

Vom Wohnhaus für wohnungslose Frauen und Mädchen in der Nachkriegszeit entwickelte es sich ständig weiter: 1971 machte der Soziale Arbeitskreis Anna-Haag-Haus e.V. das Haus zu einer Bildungsstätte mit dem Ziel, vor allem benachteiligte Mädchen zu unterstützen. Nach und nach ergänzen ein Kindergarten und ein breites Bildungsangebot das Spektrum des Hauses. 1981 gesellen sich Wohnungsmöglichkeiten für Seniorinnen und Senioren hinzu und im Jahr 2000 wird das Haus zum Sozialen Dienstleister. 2005 beginnt der Neubau des heutigen Anna Haag Mehrgenerationenhauses. Das Angebot des integrativen Hauses reicht von Nachbarschaftshilfe über Jugend-und Erwachsenenbildung, Kinderbetreuung, Seniorenwohnen bis hin zur Förderung sozial benachteiligter Menschen und Qualifizierungsmaßnahmen.

Die im Anna Haag Haus angesiedelte Anna Haag Stiftung fördert Projekte und Aktivitäten des Hauses und trägt damit auch dazu bei, dass die Namensgeberin und ihr Wirken nicht vergessen werden.

Neben dem Mehrgenerationenhaus tragen in Stuttgart ein Weg und ein Platz Anna Haags Namen, auch Mühlacker würdigt Anna-Haag mit einem Straßennamen. In Backnang ist die berufliche Schule für Soziales, Ernährung und Gesundheit nach der Weltbürgerin und Pazifistin benannt.

Dennoch ist ihr politisches Wirken viel zu unbekannt – sogar unter jenen, für die sie das Recht auf Gewissensfreiheit erstritten hat. Auch wenn ihr Leben und ihre Leistungen in verschiedenen Institutionen und Schulen weiterleben, ist der Name AnnaHaag in der breiten Öffentlichkeit kaum ein Begriff und weckt über die Grenzen Württembergs hinaus kaum Erinnerungen.

Wie andere außergewöhnliche Frauen ist auch Anna Haag viel zu sehr in Vergessenheit geraten. Nur wenige wissen heute noch, welch großen Beitrag die kluge und emanzipierte Frau in der Nachkriegszeit für die Stuttgarter Bevölkerung, aber auch für Völkerverständigung und Frieden geleistet hat. Wichtig ist deshalb, ihr einen Platz in der Erinnerungskultur des Landes und im Bewusstsein der Bevölkerung zu sichern. Die Geschichte hat starke und herausragende Frauen lange Zeit allzu gerne vergessen.

 


Autorinnen: Lea Horn, Beate Dörr / Aufbereitung für das Netz: Klaudia Saupe (Stand: August 2021)

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Literatur und Links

Literatur:

  • Brändle-Zeile, Elisabeth: Anna Haag, in: Seit 90 Jahren Frauen für Frieden, Stuttgart 1983, S. 61-64
  • Haag, Anna: Das Glück zu leben. Erinnerungen an bewegte Jahre, Stuttgart 1968
  • Haag, Anna: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebuch 1940-1945, Ditzingen 2021
  • Haag, Rudolf (Hg.): Anna Haag: Leben und gelebt werden. Erinnerungen und Betrachtungen, Tübingen 2003
  • Hochreuther, Ina: Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Parlamentarierinnen von 1919 bis heute, Stuttgart3 2012, S. 107-110
  • Riepl-Schmidt, Maja:  Anna Haag, geborene Schaich – Die Friedensfrau. In: Maja Riepl-Schmidt: Wider das verkochte und verbügelte Leben. Frauenemanzipation in Stuttgart seit 1800, Stuttgart 1990, S. 247-254.
  • Timms, Edward: Die geheimen Tagebücher der Anna Haag. Eine Feministin im Nationalsozialismus, Bad Vilbel 2018

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