Dossier

Nachhaltigkeit und Demokratie

Demokratie und Nachhaltigkeit – zwei Begriffe, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben. Doch der Kampf gegen den Klimawandel und die wachsende soziale Ungleichheit in einer globalisierten Welt gehören zu den größten Herausforderungen unserer Gegenwart und Zukunft. Demokratien geraten vor dem Hintergrund multipler Krisen auf ihrer Suche nach geeigneten Wegen hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft zunehmend unter Druck. Für die einen geht es nicht schnell genug und sie nutzen das Mittel des zivilen Ungehorsams, um die Politik zum rascheren Handeln zu bewegen. Manche fordern gar eine „Ökodiktatur“. (Rechts-)Populistische und rechtsextreme Strömungen dagegen leugnen vielfach den menschengemachten Klimawandel, machen sich die Unsicherheit der Menschen zunutze und instrumentalisieren die Klima- und Nachhaltigkeitspolitik für ihre Zwecke. Wie Nachhaltigkeit und Demokratie miteinander zusammenhängen und warum Demokratie Nachhaltigkeit „kann“ und braucht, beleuchtet dieses Dossier.

Gibt es ein Menschenrecht auf eine saubere, nachhaltige Umwelt?

Vor dem Hintergrund des Klimawandels ist inzwischen unbestritten, dass eine saubere Umwelt Grundvoraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist. Doch jahrzehntelang waren der Menschenrechtsschutz und der Umweltschutz zwei völkerrechtlich getrennte Bereiche. Erst seit den 1970er-Jahren fand eine schrittweise Annäherung statt. Am 28. Juli 2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine wegweisende UN-Resolution, in der das Recht auf Zugang zu einer sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt als ein Menschenrecht anerkannt wird. Am 29. März 2023 folgte eine UN-Resolution, in welcher der Internationale Gerichtshof (IGH) darum gebeten wurde, ein Gutachten über die Verpflichtungen von Staaten zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu erstellen. Was heißt das jetzt? Ist eine saubere Umwelt einklagbar?

So einfach ist das nicht. Sowohl die Resolutionen als auch die Gutachten des IGH sind rechtlich nicht bindend, haben allerdings eine starke politische Wirkung. Die Vereinten Nationen fordern die internationale Staatengemeinschaft damit auf, die gegenseitige Abhängigkeit von Menschenrechts- und Umweltschutz anzuerkennen und auf staatlicher Ebene in Form von Gesetzen entsprechend umzusetzen. Fast alle Staaten haben den Resolutionen zugestimmt. Außerdem ebnen solche Resolutionen oft den Weg für verbindliche Beschlüsse (Quelle: humanrights.ch).

Ein Umweltgrundrecht findet sich in den Verfassungen der Staaten jedoch bisher selten. In Deutschland ist seit 1994 der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen mit dem damals neugeschaffenen Artikel 20a als Staatsziel im Grundgesetz festgelegt:

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

Art. 20a GG

Was bedeutet es, dass der Schutz der Umwelt im Grundgesetz steht?

Staatsziele sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung. Sie stellen Richtlinien und Direktiven des staatlichen Handelns dar. Allerdings begründen sie kein subjektives Recht, weshalb Staatsziele nicht einklagbar sind, anders als beispielsweise Grundrechte. Ein Grundrecht auf eine saubere, nachhaltige Umwelt existiert im Grundgesetz also nicht (Quelle: Calliess, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht). Der Artikel 20a reicht daher allein nicht aus, um eine Klage einzureichen, was Umweltschutzorganisationen häufig kritisieren.

Was sind Klimaklagen?

Dennoch landen in vielen Ländern rund um den Globus immer häufiger sogenannte „Klimaklagen“ vor Gericht, bei denen Privatpersonen oft mit Unterstützung von Umweltorganisationen gegenüber Regierungen und Unternehmen das Recht auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen einklagen. Mögliche und tatsächliche Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit oder die Bedrohung wirtschaftlicher Freiheiten durch Umweltveränderungen werden bei den Klagen meist ins Feld geführt. Die Schutzdimension der Grundrechte wird hierbei herangezogen (Quelle: Calliess, Berliner Online-Beiträge zum Europarecht).

Laut des Grantham Institute der London School of Economics and Political Science wurden bis heute weltweit über 2.000 Umwelt- und Klimaklagen erhoben, viele davon in den letzten Jahren. Viele Klagen lehnten die Gerichte ab, einigen stimmten sie zumindest teilweise zu. Eine gute Übersicht über die aktuellen Entwicklungen in diesem Bereich liefert die Heinrich Böll Stiftung. Auf der Seite der Deutschen Umwelthilfe kann man sich einen Überblick über deren Klimaklagen auf Landes- und Bundesebene sowie gegen Unternehmen verschaffen.

Wie ist der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021 zu bewerten?

Im März 2021 erklärte das Bundesverfassungsgericht (BVG) das Klimaschutzgesetz der damaligen Bundesregierung (CDU/CSU und SPD) teilweise für verfassungswidrig. Die Begründung der obersten Verfassungsrichter:innen: Die im Gesetz von 2019 getroffenen Maßnahmen für eine Emissionsverringerung bis 2030 seien zwar nicht zu beanstanden. Allerdings würden ausreichende Vorgaben für die Minderung der Emissionen ab dem Jahr 2031 fehlen. So würden die Gefahren des Klimawandels auf die Zeit nach 2030 verschoben und gingen damit zulasten der jüngeren Generation.

Um einen Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur möglichst auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, müssten in zehn oder zwanzig Jahren so drastische Maßnahmen ergriffen werden, dass jüngere Menschen zu stark in ihren Freiheitsrechten eingeschränkt würden. Diese Last müsse durch eine Nachbesserung des Gesetzes und konkrete Maßnahmen abgemildert werden (Quellen: Bundesverfassungsgericht, tagesschau). Die zentrale Passage des Beschlusses lautet:

Die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgende Schutzpflicht des Staates umfasst auch die Verpflichtung, Leben und Gesundheit vor den Gefahren des Klimawandels zu schützen. Sie kann eine objektivrechtliche Schutzverpflichtung auch in Bezug auf künftige Generationen begründen.

Lässt sich daraus ein Umweltgrundrecht ableiten? Nein, sagt Rechtswissenschaftlerin Sabine Schlacke in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Zwar sind die Pariser Temperaturschwellen und Klimaneutralität nun Verfassungsziele. [...] [Beim Klimabeschluss des BVG] handelt es sich um eine Verpflichtung zur gerechten Verteilung von Freiheit über die Zeit. Der Klimabeschuss ist wegweisend und begrüßenswert: Er ist wegen der engen Voraussetzungen indes nicht ohne weiteres auf andere Umweltgüter, wie Biodiversität, übertragbar.“

Dennoch erachten viele Rechts- und Politikwissenschaftler:innen den Klimabeschluss des BVG als wegweisend, etwa der Berliner Umweltverfassungsrechtler Christian Calliess. Er fordert schon lange ein Grundrecht auf ein „ökologisches Existenzminimum“ ähnlich dem „sozialen Existenzminimum“. Das BVG halte es mit seinem Beschluss „zumindest für möglich, dass ein solches Grundrecht eine eigenständige Wirkung entfalten kann“ (Quelle: Legal Tribune Online). Wie schwierig es allerdings ist, ein Umweltgrundrecht in Deutschland einzuführen, führt Calliess in einer Ausgabe der Berliner Online-Beiträge zum Europarecht aus. Der Politikphilosoph Felix Heidenreich sieht die Entscheidung als „neues Paradigma der verfassungsrechtlichen Dynamisierung von Klimapolitik – zumal als Rechtsträger nun auch Personen anerkannt werden, die nicht unmittelbar betroffen sind. Der diesbezügliche Schlüsselbegriff lautet „intertemporale Freiheitssicherung“ (Quelle: Heidenreich, Nachhaltigkeit und Demokratie, S. 147 f.). Im Verfassungsblog lässt sich die Diskussion zum Klimabeschluss nachverfolgen.

Genießen Umweltflüchtlinge einen besonderen Schutz?

Immer mehr Menschen sind gezwungen, ihre Heimat wegen der Auswirkungen des Klimawandels und Umweltkatastrophen zu verlassen. Doch diese Umwelt- oder Klimaflüchtlinge fallen nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention und damit nicht unter den Schutz des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Hier klafft eine Schutzlücke. Was das für die Geflüchteten bedeutet und welche Anstrengungen auf internationaler Ebene unternommen werden, um für einen besseren Schutz zu sorgen, erfahren Sie in unserem Dossier „Klimaflucht“.

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Sind Demokratien zu schwerfällig, um der Klimakrise zu begegnen?

Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob Demokratien mit ihren mitunter langsamen Mechanismen der Mehrheitsfindung und Kompromisslösung zu schwerfällig seien, um der Klimakrise adäquat zu begegnen. Angesichts des sich schließenden Zeitfensters mehren sich Forderungen nach klaren Regeln und Verboten sowie einem Staat, der konsequenter und strikter durchgreift. Brauchen wir eine „Ökodiktatur“?

Der Wissenschaftler James Lovelock sprach sich schon früh für ein solches Konzept aus, bei dem in Anlehnung an die Kriegswirtschaft der Staat die Kontrolle über die Wirtschaft übernimmt, um der Klimakrise umfassend und effektiv zu begegnen (Quelle: ZDF online).

Was ist eine Ökodiktatur?

Der Begriff „Ökodiktatur“ ist umstritten und nicht einheitlich definiert. Generell ist damit aber eine „Regierungsform gemeint, die die als notwendig erkannten Maßnahmen zugunsten von Klimaschutz auch mit freiheitseinschränkenden Mitteln durchsetzen will, zum Beispiel durch staatliche Regeln und Verbote in allen Lebensbereichen“ (Quelle: BpB).

Gegner:innen dieses Konzepts erachten die autoritäre Durchsetzung einer kompromisslosen Klimapolitik – vielleicht sogar mit Gewalt – bis hin zur Errichtung einer „Ökodiktatur“ jedoch als den falschen Weg. Denn es gebe viele Wege, der Klimakrise zu begegnen und Gesellschaften nachhaltig zu organisieren. Dabei müssten jedoch alle Teile einer Gesellschaft mitgenommen werden, was nur durch eine demokratische Entscheidungsfindung möglich sei und nicht „von oben“ diktiert werden könne. Wir haben sechs Expert:innen dazu befragt:

Nachgefragt: Demokratie oder Ökodiktatur – ist unser politisches Sysem dazu fähig, die Klimakrise einzudämmen?

  • Oftmals wird statt über konkrete Klimaschutzmaßnahmen zweifelnd über Demokratie geredet. Wer glaubt, dass Demokratie angesichts der Klimakrise vernachlässigbar sei, irrt. Globaler Klimaschutz ist so komplex, dass er nicht von einer einzelnen Person, noch nicht einmal von einer Personengruppe gelenkt werden kann. Wirkungsvoller weltweiter Klimaschutz ist gegen den Willen der Menschen nicht durchsetzbar. Er braucht die Akzeptanz, die Unterstützung und vor allem die aktive Mitwirkung der regionalen Bevölkerung. Deswegen müssen wir für wirkungsvollen Klimaschutz nicht die Demokratie abschaffen, sondern im Gegenteil: Wir müssen die vielfältigen Instrumente der Demokratie ergreifen und die Musik einer nachhaltigen und sozialen Zukunft zum Klingen bringen.

    Prof.in Dr. Claudia Kemfert
    ist Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und ist Professorin für Energieökonomie und Energiepolitik an der Leuphana Universität. Sie ist Ko-Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), Mitglied im Präsidium der deutschen Gesellschaft des Club of Rome (DGCOR) sowie im Klimabeirat der Stadt Hamburg und Dresden.

  • Die Demokratie ist unser höchstes Gut. Sie sollte auch in der Klimakrise nie in Frage gestellt werden. Was aber in Frage gestellt werden muss ist, ob wir als Gemeinwesen genug dafür tun, dass die Menschen nicht nur Demokratie verstehen, sondern unser System auch als fair und schlagkräftig anerkennen und vor allem erleben. Wenn man sieht, wie wenig Menschen der Demokratie vertrauen, zeigt das die vielleicht größte politische und gesellschaftliche Baustelle: Vertrauen in und Wissen um die Demokratie zu fördern und zu erhalten. Auch hier muss man sich fragen, ob eine Politik im Geiste des Unterlassens nicht maßgeblich dazu beigetragen hat, dass Vertrauen verspielt wurde. Unter anderem auch deswegen, weil lange Zeit zwei Themenbereiche besonders von politischem Unterlassen gekennzeichnet waren: die soziale Frage und die Klimapolitik. Genau die beiden Bereiche, in der die Handlungsnotwendigkeit jetzt so deutlich wird. Aber deswegen auf Demokratie verzichten und andere autoritäre Strukturen herbeisehnen? Dass es nicht dazu kommt, dazu bedarf es tatkräftiger Arbeit auf vielen Ebenen. Beginnen müsste man dann auch damit klarzumachen, dass eine Anpassung unserer Lebensgewohnheiten nicht eine „Ökodiktatur“ bedeuten würde. Dieser Begriff ist brandgefährlich. Er wertet demokratische Entscheidungen ab und suggeriert, dass alles so bleiben darf, wie es ist. Einfach nicht zeitgemäß.

    Prof. Philipp Lepenies
    ist Ökonom und Professor für Politik mit Schwerpunkt Nachhaltigkeit an der Freien Universität Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Verbot und Verzicht: Politik im Geiste des Unterlassens“ (Suhrkamp).

  • Die jüngsten Berichte des Weltklimarats und des Club of Rome haben gezeigt, in welch schlechtem Zustand sich unser Planet befindet und wie weit wir von einem nachhaltigen Entwicklungspfad entfernt sind. Mit dem bisherigen Modell, welches rein auf Wirtschaftswachstum ausgelegt ist, werden wir Klimawandel, Artensterben und Vermüllung der Meere nicht stoppen. Allerdings brauchen wir keine „Ökodiktatur“. Wir brauchen Demokratien, die ihre Wirtschaft und Energieversorgung konsequent auf Nachhaltigkeit ausrichten. Wenn dieses Ziel von der Regierung klar kommuniziert wird und den Bürger:innen die Möglichkeit zur Teilhabe und Mitgestaltung gegeben wird, kann die Demokratie ihre Stärken ausspielen und die multiplen Krisen unserer Zeit bewältigen.

    Dr. Janpeter Schilling
    ist Klaus-Töpfer-Junior-Professor für Landnutzungskonflikte am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Koblenz-Landau und Wissenschaftlicher Leiter der Friedensakademie Rheinland-Pfalz.

  • Die Alternative ist fatal: Kein autokratisches System ist bisher besser mit dem Klima- und Artenschutz vorangekommen. Der Klimanotstand wird nicht ohne Eingriffe in private Freiheiten auskommen, die weit über die aus der Pandemiebekämpfung bekannten hinausgehen werden, aber ebenso wie diese einer legislativen Legitimation bedürfen. Zu einem wahrhaft planetaren Denken, das die menschliche Existenz und Handlungskapazität im Bezug auf nicht-menschliche Aktanten relativiert und relationiert, sind wir noch gar nicht vorgedrungen.

    Claus Leggewie
    ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und Initiator des dortigen Panel on Planetary Thinking.

  • Das demokratische System setzt die geeigneten Voraussetzungen für die Eindämmung der Klimakrise und den Erhalt natürlicher Ressourcen. Durch die Partizipation des gesamten Volkes kann auf einen weitreichenden Ideenpool zurückgegriffen werden, der deutlich kleiner ausfällt, wenn nur wenige Akteure entscheiden. Zudem fördert die Demokratie die Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln, zumal die ökologischen, insbesondere klimapolitischen Herausforderungen nur gemeinsam gemeistert werden können. Dazu ist es auch erforderlich, Ge- und Verbote zu formulieren. Dieses Ordnungsrecht stellt keine „Ökodiktatur“ dar, sondern ist ein Element des Instrumentenmixes, das häufig sehr viel besser und schneller umgesetzt werden kann als etwa finanzielle Förderinstrumente.

    Prof. Dr. Sabine Schlacke
    ist Professorin für Öffentliches Recht, insb. Verwaltungs- und Umweltrecht an der Universität Greifswald und geschäftsführende Direktorin des universitären Instituts für Energie-, Umwelt- und Seerecht (IfEUS). Sie ist Co-Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) und des Lenkungskreises der Wissenschaftsplattform Klimaschutz. Ferner ist sie Vizepräsidentin des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen.

  • Das ist eine falsche Alternative: Was sollen wir mit einer Ökodiktatur? Sie kann die Demokratie nicht ersetzen. Im Gegenteil, der Wunsch nach autoritären Lösungen ist kontraproduktiv und gefährlich: Populistische Rufe nach starken Männern oder Frauen führen auf Irrwege. Denn „Durchregieren“ ist leichter gefordert als getan. Das löst die Klimakrise nicht. Diktaturen wie die Volksrepublik China und Russland sowie autoritäre Staaten wie Ungarn sind bei der Eindämmung der Klimakrise weniger erfolgreich als die liberalen Demokratien. Im Durchschnitt erzielen die demokratischen Länder Europas schon jetzt bessere Ergebnisse bei der Begrenzung des
    CO2-Ausstoßes als die meisten Diktaturen der Welt. Global mehr Demokratie zu wagen ist die beste Hoffnung für den Planeten. Autoritarismus ist gefährlicher Unsinn, simplizistisch und wird die Klimakrise nicht eindämmen können.

    Prof. Dr. Philipp Gassert
    ist seit Februar 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim. Er ist Mitglied im Vorstand der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg sowie 2022/23 Senior Fellow des Historischen Kollegs in München. 2018 erschien die Monographie „Bewegte Gesellschaft: Deutsche Protestgeschichte seit 1945“; 2021 der Band „11. September – 100 Seiten“.

Bürger & Staat 4–2022: Nachhaltigkeit

Die ausführlicheren Interviews finden Sie in unserer Zeitschrift „Bürger & Staat 4–2022“ zum Thema „Nachhaltigkeit“.

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Wie weit darf Klima- und Umweltprotest gehen?

Es ist das Verdienst der „Fridays for Future“-Bewegung, dass der Kampf gegen den Klimawandel ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt ist. Dennoch handelt die Politik aus Sicht der Aktivist:innen und vieler Wissenschaftler:innen zu langsam oder unzureichend: „Protestbewegungen lenken als Feuermelder die Aufmerksamkeit auf ein Thema, verändern die öffentliche Meinung, und dann muss Politik handeln. Aber sie handelt nicht. Der Mechanismus ist kaputt“, erklärte beispielsweise der Politikwissenschaftler und Klimaaktivist Tadzio Müller 2021 in einem Interview mit dem Spiegel und sagte weiter: „Wer Klimaschutz verhindert, schafft die grüne RAF.“

So weit sind wir in Deutschland bisher nicht und auch Tadzio Müller hat sich mittlerweile von dieser Aussage distanziert (Quelle: Spiegel online). Doch die Unzufriedenheit über die Klimapolitik hat bereits radikalere Gruppierungen wie „Extinction Rebellion“ oder „Die letzte Generation“ auf den Plan gerufen. Sie nutzen das Instrument des „zivilen Ungehorsams“, also des politisch motivierten, beabsichtigten Gesetzesbruchs, etwa in Form von Straßenblockaden oder der Besetzung von Gebäuden, um ihrem Protest mehr Nachdruck zu verleihen. Ist das legitim?

Was ist ziviler Ungehorsam?

Der Philosoph Jürgen Habermas hat bereits 1983 fünf Bedingungen definiert, unter denen Proteste als ziviler Ungehorsam gelten können (Quelle: BpB):

  1. Der Protest ist moralisch begründet; ihm liegen nicht nur private Überzeugungen oder Eigeninteressen zugrunde.
  2. Der Protest findet öffentlich statt und wird häufig angekündigt.
  3. Einzelne Regeln und Gesetze werden vorsätzlich verletzt, ohne dass die Protestierenden die Rechtsordnung als Ganzes ablehnen.
  4. Die Protestierenden sind bereit, für die rechtlichen Folgen der Regelverletzung einzustehen.
  5. Die Regelverletzungen haben einen symbolischen Charakter und sind gewaltfrei.

Beim letzten Punkt, dem rein symbolischen Charakter und der Gewaltfreiheit, gehen die wissenschaftlichen Meinungen jedoch auseinander. Denn schon eine Sitzblockade kann juristisch gesehen als Nötigung mit Gewalt verstanden werden. Und ziviler Ungehorsam gehe immer „mit Formen der Intervention und auch Disruption – wie etwa Straßenblockaden – einher, die über das rein Symbolische hinausgehen“, so der Philosoph und Sozialwissenschaftler Robin Celikates (Quelle: BpB). Fest steht, dass sich ziviler Ungehorsam immer im Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität bewegt.

Ist ziviler Ungehorsam im Kampf gegen die Klimakrise gerechtfertigt?

Pro und Contra

  • Alle legalen Mittel wie Proteste und Petitionen sind aus Sicht der Aktivist:innen ausgeschöpft, die politischen Akteur:innen handeln jedoch immer noch zu langsam oder unzureichend. Der zivile Ungehorsam ist daher der einzige Ausweg.
  • Zivile Widerstandsaktionen sorgen für große Aufmerksamkeit, um die Gesellschaft als Ganzes wachzurütteln, und wirken Nichtwissen und strategischer Ignoranz entgegen.
  • Einschränkungen wie Verkehrsstaus oder Stornierungen von Flügen durch Aktionen von Klimaaktivist:innen treffen zu Recht auch „unbeteiligte Dritte“, weil jede und jeder etwas für den Klimaschutz tun kann.
  • Politische Institutionen und demokratische Prozesse können selbst Demokratiedefizite haben, wenn z. B. einzelne Interessengruppen einen zu großen Einfluss ausüben und die Interessen anderer Gruppen (Kinder, Jugendliche) vernachlässigt werden. Darauf machen diese Protestbewegungen aufmerksam.
  • Künftige Generationen oder die Länder des globalen Südens können im globalen Norden nicht für ihre Interessen eintreten, leiden aber schon jetzt oder zukünftig am meisten unter den Folgen des Klimawandels. Die Aktivist:innen sehen sich daher als ihre Stellvertretung (Stichwort: „Klimakolonialismus“).
  • Radikale Proteste sind Triebkräfte einer Demokratie: Wir brauchen sie, um große Veränderungen durchzusetzen und für mehr demokratische Teilhabe zu sorgen. Das war auch schon in der Vergangenheit so, z. B. beim Frauenwahlrecht oder der atomaren Abrüstung.

(Quelle: BpB)

  • In einer Demokratie gibt es andere, legale Möglichkeiten, seine Meinung zu äußern: Demonstrationen, Petitionen, Engagement in Parteien oder Bürgerinitiativen usw. Ziviler Ungehorsam ist dagegen Erpressung und daher nicht zulässig.
  • Die Aktivist:innen argumentieren immer wieder mit einem „Notstand“, der sie zu ihrem Handeln zwinge: Doch juristisch gesehen gehört zu einem Notstand eine unmittelbar drohende Gefahr für Leben und Gesundheit. Diese Unmittelbarkeit sehen Gerichte bei der Klimakrise meist (noch) nicht gegeben.
  • Aktionen zivilen Ungehorsams können unbeabsichtigt aus dem Ruder laufen und Unschuldige treffen. So können „unbeteiligte Dritte“ zu Opfern werden, etwa wenn Rettungswägen bei Staus nicht durchkommen oder Menschen bei Sabotageakten wie Brandstiftungen verletzt werden. Das geht zu weit.
  • Sabotageakte wie die Beschmierung von Kunstwerken oder das Festkleben auf Straßen mögen in autoritären und totalitären Regimen notwendig und legitim sein, nicht aber in demokratischen Systemen. Hier wird eine Grenze überschritten.
  • Durch zivile Widerstandsaktionen werden die Ergebnisse demokratischer Prozesse nicht respektiert, z. B. Wahlergebnisse, Parlamentsbeschlüsse oder Gerichtsurteile. Die Aktivist:innen setzen sich über sie hinweg.
  • Durch zivilen Ungehorsam wird die Klimaschutzbewegung als Ganzes diskreditiert und es entsteht eine Abwehrhaltung in der Gesellschaft. Damit schaden solche Aktionen mehr als sie nützen, sind also kontraproduktiv.

(Quelle: BpB)

Bürger & Staat 3–2023: Radikale Milieus

Wie Linksextremist:innen versuchen, die Klimabewegung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, können Sie im Beitrag „System Change, Not Climate Change“ – aber welches „System“? von Armin Pfahl-Traughber in der Zeitschrift Bürger & Staat 3-2023 „Radikale Milieus“ nachlesen.

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Wie nutzen Populisten und Rechte die Themen „Nachhaltigkeit“ und „Klimawandel“ für ihre Zwecke?

Bis vor wenigen Jahren spielten die Klimapolitik und das Thema Nachhaltigkeit bei (rechts-)populistischen und rechtsextremen Parteien und Organisationen nur eine untergeordnete Rolle. Das hat sich geändert: Vielfach leugnen ihre Mitglieder den menschengemachten Klimawandel, machen sich die Unsicherheit der Menschen zunutze und instrumentalisieren Klima- und Nachhaltigkeitsdebatten für ihre propagandistischen Zwecke. Schreckgespenster wie die „grüne RAF“ als Bezeichnung für Klimaaktivist:innen der „Letzten Generation“ und „links-grüne Ökodiktatur“ für die Politik der Ampelregierung bzw. der Grünen werden als Feindbilder bemüht.

Klimawandel und Nachhaltigkeit passen ins Konzept des Populismus, weil diese Themenfelder global und komplex sind, ihre Auswirkungen nebulös sind und vermeintlich in der Zukunft liegen. Es braucht die Wissenschaft, um sie zu erklären. Und es braucht gravierende Veränderungen im Hier und Jetzt und von allen, um die zukünftigen Entwicklungen zu beeinflussen. Damit sind die Themen wie geschaffen für populistische Strömungen, die wissenschaftsfeindlich sind, einfache Antworten auf komplexe Fragestellungen liefern und sich gegen Veränderungen im Hier und Jetzt sperren.

Zudem passen Klimawandel und Nachhaltigkeit ins populistische Narrativ der Elitenkritik: Demnach wolle eine korrupte links-grüne alternative urbane Elite, die nur ihre eigenen Interessen im Blick habe, auf Kosten des „normalen“ Bürgers die Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft umsetzen. Schließlich sperren sich populistische Strömungen gegen eine vermeintliche Bevormundung durch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen (UN) oder die Europäische Union (EU): Statt der Agenda 2030 der UN und des Green Deal der EU machen sie sich für nationale Interessen und eine Rückgewinnung politischer Souveränität für den Nationalstaat stark.

Neben dieser Abwehrhaltung versuchen (rechts-)populistische und rechtsextreme Organisationen, Nachhaltigkeit selbst als Thema zu besetzen: Klimaexpert:innen und -aktivist:innen sowie bestimmte politische Kräfte (z. B. die Grünen) seien mit ihrem Kurs hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft auf dem Holzweg. Vielmehr müsse Naturschutz als Heimatschutz verstanden werden und es gelte, die Kulturlandschaften vergangener Jahrhunderte zu bewahren, in der Mensch und Natur friedlich im Einklang miteinander leben. Der Kampf gegen Windkrafträder, die solche Kulturlandschaften zerstören, passt hier ins Narrativ (Quellen: Bürger & Staat, BpB). Ein gutes Beispiel für eine solche Umdeutung der Nachhaltigkeitsdebatte ist die AfD-Kampagne „Grüne stoppen – Umwelt schützen“. Wie die Rechte gegen die ökologische Wende vorgeht, zeigen der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent und seine Mitautoren Christoph Richter und Axel Salheiser im 2022 erschienenen Buch „Klimarassismus – Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende“.

Darüber hinaus gibt es aber auch rechtsextreme Strömungen, die Umweltschutz als völkischen Heimatschutz begreifen, angelehnt an die „Blut und Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten. Rechtsextreme Ideologien finden sich daher auch in Naturschutzorganisationen, etwa wenn davon die Rede ist, dass nicht einheimische Arten als „Fremdliche“ oder „Plage“ bezeichnet werden und „ausgemerzt“ werden müssten. Manche Rechtsextreme befürworten wiederum den Ausbau der erneuerbaren Energien als absolute Notwendigkeit, um das eigene Volk energieautark zu machen. Doch diese „Ökologie von rechts“ findet zumindest derzeit keine Mehrheit im rechtsextremen Lager und keine Beachtung in der breiten Bevölkerung (Quelle: Mitte-Studie der FES). Die Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN) bietet eine Handreichung zum Umgang mit rechtsextremen Ideologien im Natur- und Umweltschutz. Der Rechtsextremismusforscher

Schadet dieser Populismus der Demokratie?

Die Studie „Die geforderte Mitte“ der Friedrich-Ebert-Stiftung zu rechtsextremen und demokratiegefährdenden Einstellungen in Deutschland 2020/2021 konstatiert eine Polarisierung zwischen einer großen Mehrheit, die den Klimawandel als menschengemacht ansieht und als reale Bedrohung empfindet sowie die Energiewende im Großen und Ganzen befürwortet (je nach Fragestellung zwischen 70 und 80 Prozent), und einer kleinen Minderheit, die dies nicht so sieht und populistische Einstellungen teilt (zwischen 8 und 15 Prozent). Insgesamt sei die Klimadebatte polarisierter geworden, so die Studie.

Außerdem macht die „Mitte-Studie“ darauf aufmerksam, dass auch grundsätzliche Befürworter:innen der Energiewende mitunter eine kritische Haltung bei lokalen Projekten nach dem NIMBY-Prinzip („not in my backyard“ – nicht in meiner Nachbarschaft) einnehmen, die sich populistische und rechtsextreme Organisationen zunutze machen. So könnten sich populistische Ansichten verbreiten. Der Soziologe Fritz Reusswig vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und die Sozialpsychologin Beate Küpper von der Hochschule Niederrhein sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer „Tyrannei lauter, populistischer Minderheiten“, die eine Herausforderung für die Demokratie im guten wie im schlechten Sinne darstellen könne:

Positiv sei ein solcher Protest, „wenn er übergangene Positionen und marginalisierten sozialen Gruppen Gehör verschafft oder verkrustete Prozesse und Strukturen aufzubrechen hilft“. Negativ sei er hingegen, „wenn er mit der politischen Elite gleich das ganze demokratische System infrage stellt und mit der behaupteten Homogenität des Volkes dem demokratischen Grundprinzip der Pluralität widerspricht“ (Quelle: BpB).

Darüber hinaus mache die rechtspopulistische Aneignung der Nachhaltigkeitsdebatte reale Defizite im Konzept der Nachhaltigkeit deutlich, ohne wirklich an einem konstruktiven Diskurs interessiert zu sein, so Reusswig in einem Beitrag für die LpB-Zeitschrift „Bürger & Staat“. So dürfe Nachhaltigkeit nicht nur schöngeredet, sondern müsse auch differenziert und kritisch betrachtet werden. Außerdem müsse sich Nachhaltigkeitspolitik mehr um die Frage kümmern, welche Bevölkerungsgruppen aufgrund welcher sozialer Lagen und Mentalitäten sich wie zu Nachhaltigkeitsthemen stellen. Daraus lassen sich Potenziale, aber auch Bedrohungen für eine demokratische Nachhaltigkeitspolitik ableiten. Für mehr Differenzierung und eine breitere Akzeptanz nachhaltiger Transformationsprozesse in der Gesellschaft brauche es allerdings eine demokratische Konflikt- und Streitkultur sowie dezentrale Diskursräume und Beteiligungsmöglichkeiten statt einseitiger populistischer Schwarz-Weiß-Malerei, die nur zu einer noch größeren Spaltung der Gesellschaft in Klima- und Nachhaltigkeitsfragen beitrage.

Wie können sich die Menschen an der Nachhaltigkeitsdebatte beteiligen?

Grundsätzlich stärken Proteste, soziale Bewegungen und verschiedene Formen von Bürgerbeteiligung die Demokratie und sorgen in der Regel für mehr Akzeptanz von Transformationsprozessen. Doch sie kosten Zeit und verzögern Prozesse – ein Dilemma angesichts des sich schließenden Zeitfensters im Kampf gegen die Klimakrise, das Artensterben und die Verknappung lebenswichtiger Ressourcen. Doch ohne die Akzeptanz, Unterstützung und Teilhabe breiter Bevölkerungsgruppen wird die Schaffung einer nachhaltigen Gesellschaft nicht gelingen, da sind sich die meisten Fachleute einig (Quelle: BpB). Der Demokratietheoretiker Felix Heidenreich ist überzeugt: „Damit die große Transformation gelingen kann, müssen drei Ziele unter einen Hut gebracht werden, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Nachhaltigkeit, Partizipation und – vor allem – Deliberation.“ (Quelle: Heidenreich, Nachhaltigkeit und Demokratie, S. 139).

Partizipation und Deliberation, also gehört werden, mitmachen, sich beteiligen und aktiv Einfluss nehmen, gehören zu einer demokratischen Gesellschaft dazu, auch und gerade bei so komplexen Themen wie Klimawandel und Nachhaltigkeit. Aber was heißt überhaupt Beteiligung und wie können Bürgerinnen und Bürger durch ihre aktive Teilhabe die Nachhaltigkeitsdebatte und den Transformationsprozess beeinflussen? Im Folgenden soll diese Frage am Beispiel von Bürgerräten näher beleuchtet werden.

Was heißt Bürgerbeteiligung?

Der Begriff „Bürgerbeteiligung“ bezeichnet die freiwillige und unentgeltliche Teilhabe von Bürgerinnen und Bürgern an den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen und die Möglichkeit, auf Sachentscheidungen Einfluss zu nehmen.

Beispiel Bürgerräte

Um für eine breite Akzeptanz von Nachhaltigkeitsprojekten vor Ort, etwa die Schaffung eines Windparks oder die Umsetzung eines neuen Mobilitätskonzepts, zu sorgen, kann ein Bürgerrat ein hilfreiches Beteiligungsinstrument sein. Das Zufallsprinzip sorgt für eine Ausgewogenheit in der Zusammensetzung, so dass möglichst viele verschiedene Bevölkerungsgruppen mit ihren Erfahrungen und Interessen vertreten sind. So kann ein Bürgerrat eine neutrale Instanz zwischen unterschiedlichen Interessengrupen darstellen und zu gemeinwohlorientierten Lösungsvorschlägen kommen, die breit respektiert werden. Zentral ist allerdings, dass sich die Kommunalpolitik vorab verpflichtet, die Empfehlungen des Bürgerrats bei der konkreten Umsetzung auch zu berücksichtigen (Stichwort „Verbindlichkeit“). Ansonsten verpufft das Potenzial dieses Instruments und sorgt am Ende für mehr Frust und Konflikte (Quellen: BpB, RIFS Potsdam).

Felix Heidenreich geht sogar noch einen Schritt weiter: Aus demokratietheoretischer Perspektive würden nicht nur die von Bürgerräten erarbeiteten Ergebnisse eine große Wirkung erzielen, sondern die Wirkung für die Demokratie entstünde auch und vor allem „in ihrer Funktion als Orte repräsentativer Deliberation“ als solches (Quelle: Heidenreich, Nachhaltigkeit und Demokratie, S. 166).

Was sind Bürgerräte?

„Bürgerräte sind Versammlungen von 30 bis 200 per Los zufällig ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern, die bei mehreren Terminen gemeinsam und in Kleingruppen ein vorgegebenes Thema diskutieren und der Politik ihre Handlungsempfehlungen als Bürgergutachten übergeben. Sie erhalten Hintergrundinformationen von Expertinnen und Experten, die das gesamte wissenschaftliche und politische Spektrum umfassen. Ein neutrales Moderationsteam unterstützt die Teilnehmenden und ermöglicht eine Diskussion aller auf Augenhöhe: die sogenannte Deliberation. [...]

Bürgerräte dienen der Beratung der politischen Entscheidungsträger und stellen Informationen bereit, die auf anderem Wege bisher nicht ausreichend gewonnen werden können“ (Quelle: Deutscher Bundestag).

Bürgerräte in Baden-Württemberg

mit Nachhaltigkeitsbezug

Das Portal buergerrat.de bietet einen guten Überblick über Bürgerräte und Bürgerforen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Einige Beispiele aus Baden-Württemberg mit Bezug zu Nachhaltigkeitsthemen sind:

  • Bürgerforum Landwirtschaft BW

    Im Januar 2023 überreichte das Bürgerforum Landwirtschaft BW mit rund 45 Teilnehmenden seinen Abschlussbericht mit 18 konkreten Handlungsempfehlungen an die Landesregierung von Baden-Württemberg. Darunter befinden sich unter anderem Empfehlungen an Verbraucher:innen, Landwirt:innen, den Lebensmitteleinzelhandel und die Politik.

  • Bürgerrat „100% erneuerbare Energien Region Freiburg“

    In Freiburg gab es den ersten kommunenübergreifenden Bürgerrat Deutschlands, der im September 2022 Empfehlungen zum beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien in der Region Freiburg vorlegte. Darin empfiehlt der 91-köpfige Bürgerrat „100% erneuerbare Energien Region Freiburg“ beispielsweise, dass versiegelte Flächen für Solarenergie oder Industrieabwärme als Fernwärme für benachbarte Wohngebiete genutzt werden sollen.

  • Zukunftsrat „Enkeltaugliche Zukunft für Lindau am Bodensee“

    Das Projekt „LOSLAND“ begleitete zehn Kommunen in ganz Deutschland dabei, vor Ort eine enkeltaugliche Zukunft zu gestalten. Eine dieser Kommunen war Lindau am Bodensee. In einem Zukunftsrat befassten sich 13 ausgeloste Bürgerinnen und Bürger mit der Frage, wie Lebensraum für das Miteinander heutiger und zukünftiger Generationen in Lindau bewahrt und gestaltet werden kann. „LOSLAND“ ist ein Projekt des Vereins „Mehr Demokratie“ und dem RIFS Potsdam und wird von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert.

Fazit: Kann Demokratie Nachhaltigkeit?

Mit dieser Fragestellung beschäftigen sich Politik, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft in wachsendem Maße. Die komplexen Themen „Klimawandel und Nachhaltigkeit“ stellen eine immense Herausforderung für unsere demokratische Gesellschaft dar und können demokratiegefährend sein: etwa wenn in einer „Expertokratie“ eine kleine Minderheit von Expert:innen über die Köpfe der Mehrheit hinweg und außerhalb demokratischer Entscheidungsprozesse Beschlüsse fasst oder stark beeinflusst; oder wenn populistische und rechtsextreme Strömungen unter dem Deckmantel der Nachhaltigkeit die Spaltung der Gesellschaft und antidemokratische Prozesse vorantreiben.

Sehr viele Wissenschaftler:innen und Publizist:innen sind jedoch davon überzeugt, dass eine Demokratie Nachhaltigkeit „kann“ – trotz kurzfristiger Interessen von Unternehmen und Bürger:innen, langwieriger Prozesse und des hinderlichen Denkens in Legislaturperioden seitens vieler Aktiven in der Politik. Mehr noch: Es braucht die Demokratie, damit eine nachhaltige Transformation gelingt. Warum? Weil es viele Wege hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft gibt und nicht die eine, perfekte Lösung. Für den Kraftakt einer nachhaltigen Transformation braucht es alle Teile einer Gesellschaft mit ihren Ideen und Interessen. Alle müssen mitgenommen werden und sich beteiligen. Austauschprozesse und mitunter Kurskorrekturen sind vonnöten. Dies ist nur im Rahmen demokratischer Verfahren und Aushandlungsprozesse möglich.

Doch Demokratien müssen sich reformieren und weiterentwickeln (Quellen: Schaible, Demokratie im Feuer; IPG-Journal). Denn bisher haben es Demokratien nur bedingt geschafft, einen echten Wandel hin zu Nachhaltigkeit zu befördern. Wie das gelingen kann, erforscht unter anderem das RIFS Potsdam. Das Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit Helmholtz-Zentrum Potsdam hat es sich zur Aufgabe gemacht, demokratische Möglichkeiten hin zu nachhaltigen Gesellschaften nicht nur zu identifizieren, sondern auch mit zu entwerfen. Auf deren Webseite finden sich Infos zu ihren Forschungen und Projekten.

Auch Demokratietheoretiker Felix Heidenreich ist davon überzeugt, dass sich beim Aufbau von nachhaltigen Lebenswelten, wie er es nennt, die Demokratie als solches verändern muss und wird: „Eine nachhaltige Gesellschaft wird nicht auf dieselbe Art und Weise politisch operieren und sich politisch verstehen können wie eine nichtnachhaltige.“ Dazu bedarf es zwingend der Beteiligung der Bürger:innen durch Partizipation und Deliberation – das Beispiel der Bürgerräte wurde in diesem Dossier skizziert; andere fordern, junge Menschen stärker einzubeziehen (Quelle: IPG-Journal) – sowie der „Demokratisierung von gesellschaftlichen Bereichen, die bisher demokratischer Kontrolle entzogen waren“ (Quelle: Heidenreich, Nachhaltigkeit und Demokratie). Nachhaltigkeit und Demokratie dürfen nicht getrennt voneinander, sondern zusammen gedacht werden, damit eine Nachhaltigkeitstransformation gelingen kann.

Linksammlung

Quellen & weitere Infos

Autor: Internetredaktion LpB BW | letzte Aktualisierung: September 2023

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