Dossier


Politische Parteien in der Türkei

Autoren:
Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften und Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule am Standort Köln.

Burak Çopur ist Politikwissenschaftler und Professor an der IU Internationalen Hochschule am Standort Essen und Lehrbeauftragter am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.

Die Parteienlandschaft der Türkei ist geprägt von einer Vielzahl von politischen Bewegungen und Parteien, die im Laufe der Zeit entstanden sind und sich wieder aufgelöst oder eine neue Gestalt angenommen haben. Anlehnend daran lässt sich die Parteiengeschichte der Türkei grob in fünf Phasen unterteilen: die osmanische Ära, die kemalistische Ära, die Phase des Multiparteiensystems, die Militärdiktatur und die heutige Phase der AKP-Herrschaft.

Parteiengeschichte der Türkei

Im Osmanischen Reich (1299–1923) war die politische Landschaft von der Unterdrückung der politischen Opposition geprägt. Die meisten Oppositionsbewegungen entstanden im Zusammenhang mit den „Tanzimat-Reformen“, die von 1839 bis 1876 durchgeführt wurden. Eine der prominenten Oppositionsbewegungen war die jungtürkische, die 1908 zum Sturz des Sultans beitrug und Verfechterin des türkischen Nationalismus war. Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches fand eine tiefgreifende Veränderung im politischen System der Türkei statt.

Mit der Ausrufung der Republik Türkei hatte Mustafa Kemal Atatürk 1923 die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) gegründet, mit deren Hilfe er bis zu seinem Tode im Jahre 1938 mit allen Vollmachten die Republik regierte. Eine weitere Partei wurde vorerst nicht zugelassen. Doch 1930 beauftragte Atatürk selbst den Diplomaten Ali Fethi Okyar zur Gründung einer weiteren Partei, um den Schritt zu einem Mehrparteiensystem zu wagen. Doch die Bereitschaft der Bevölkerung, diese Partei zu unterstützen, löste Unruhe in der politischen Führung aus. Einerseits schwächte diese Entwicklung den Einfluss der von Atatürk ins Leben gerufenen CHP, andererseits entwickelte sich diese Partei zur Opposition, die selbst gegen die Reformen auftrat. Drei Monate nach ihrer Gründung wurde die Oppositionspartei (Serbest Fırka) verboten.

Die Phase des Mehrparteiensystems (1946–1960) begann nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Türkei unter dem Druck der westlichen Demokratien eine neue Verfassung annahm. Die Demokratische Partei (DP) war die erste Partei, die in dieser Periode gegründet wurde. Sie wurde von Adnan Menderes angeführt, gewann 1950 die ersten Wahlen und regierte das Land bis zum Militärputsch von 1960.

Im Schatten der Militärdiktaturen begann zwischen den 1960er und 1980er Jahren eine repressive Phase gegen die politische Opposition, verbunden mit der Einschränkung der Meinungsfreiheit. So wurden insbesondere sozialistische und prokurdische Parteien verboten und ihre Funktionäre verhaftet.

Das gegenwärtige Parteiensystem der Türkei ist komplex und divers. Ein wichtiges charakteristisches Merkmal der politischen Parteien in der Türkei ist der „strukturelle Autoritarismus“ (Aydın 2018), der dem Parteivorsitzenden nicht nur die Führung, sondern auch den Fraktionsvorsitz mit nahezu absoluter Kontrolle über alle Parteigremien bis hin zur Nominierung der Kandidatinnen und Kandidaten für das Parlament und die Kommunalwahlen ermöglicht. Trotz allem ist die politische Parteienlandschaft geprägt von Neugründungen, Spaltungen und Bündnissen.

Die AKP-Ära unter Erdoğan

Auf Staatspräsident Erdoğan und seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung/Adalet ve Kalkınma Partisi) entfallen derzeit 286 von 600 Sitzen in der Großen Nationalversammlung. Sein Verbündeter, die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung/Milliyetçi Hareket Partisi) hat 48 Sitze inne. Damit kann Erdoğan auf eine parlamentarische Mehrheit zählen. Bei den Kommunalwahlen im März 2019 verlor die AKP allerdings vor allem in den türkischen Großstädten wie Istanbul, Ankara, Izmir, Adana und Diyarbakir gegen die Opposition der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP (Republikanische Volkspartei/Cumhuriyet Halk Partisi) und der linksgerichteten prokurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker/Halkların Demokratik Partisi).

Ergebnisse der Wahl zur 27. Großen Nationalversammlung (24. Juni 2018)AKP: 42.6 %CHP: 22.6 %HDP: 11.7 %MHP: 11.1 %IYI: 9.9 %SP: 1.3 %Sonstige: 0.7 %AKP: 42.6 %AKP42,6 %CHP: 22.6 %CHP22,6 %HDP: 11.7 %HDP11,7 %MHP: 11.1 %MHP11,1 %IYI: 9.9 %IYI9,9 %SP: 1.3 %SP1,3 %Sonstige: 0.7 %Sonstige0,7 %
Partei Wählerstimmen in % Sitze in der Nationalversammlung
AKP 42,6 286
CHP 22,6 134
HDP 11,7 56
MHP 11,1 48
IYI 9,9 37
SP 1,3 -
Sonstige 0,7 -
fraktionslos oder vakant   39

Seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 hat sich die Polarisierung im Parteiensystem weiter vertieft. Am Beispiel der verschiedenen politischen Lager soll diese Polarisierung näher skizziert und eingeordnet werden.

Das Lager der islamisch-konservativen Parteien

Das Lager des politischen Islam bildet gegenwärtig keine homogene Gruppe. Aus der islamistisch einzuordnenden Millî-Görüş-Bewegung entstanden nach dem Tod ihres Führers Necmettin Erbakan und dem Verbot der „Refah Partisi“ die Parteien AKP (2001) und SP (Partei der Glückseligkeit/Saadet Partisi, 2001). Während die AKP mit ihrer neuen politischen Strategie zu einer Regierungspartei avancierte, blieb die SP als islamistische Partei in ihrem politischen Wirken eher marginal. Als politische Partei versteht sich die SP als Teil der Millî-Görüş-Bewegung und verfolgt gegenwärtig neben einer starken AKP-Kritik eine antiamerikanische, antisemitische und antieuropäische Politik. Bei der Wahl zum Parlament im Oktober 2002 erhielt die SP 2,49 Prozent der Stimmen und scheiterte damit an der Sperrklausel von zehn Prozent. Dagegen erhielt sie bei den Kommunalwahlen 2004 landesweit 3,97 Prozent der Stimmen und stellte damit Bürgermeister in zwölf der insgesamt 923 Landkreise. Für die Parlamentswahl 2018 einigte sich die SP auf ein Wahlbündnis mit der CHP und der İYİ (Gute Partei/İyi Parti) und gewann zwei Sitze im Parlament über die direkte Wahlliste der CHP.

Aus den innerparteilichen und politischen Differenzen mit der AKP ist im März 2020 auch die DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt/Demokrasi ve Atılım Partisi) hervorgegangen. Ali Babacan, der Gründer der DEVA, bekleidete von 2002 bis 2015 wichtige Posten in den AKP-Regierungen und war u. a. Stellvertretender Ministerpräsident, Wirtschaftsminister und Außenminister. Er verließ im Juni 2019 die AKP mit der Begründung, sie habe sich zu sehr von ihren ursprünglichen Werten abgewandt. Die DEVA ist dem bürgerlich rechten und islamischen Spektrum zuzuordnen und versteht sich als Alternative zur AKP. Sie versteht sich auch als Partei mit einer stärkeren europäisch-westlichen Ausrichtung. Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts MAK lag die DEVA im Oktober 2022 zwischen 3 und 3,5 Prozent. Über ihren in Deutschland sozialisierten Abgeordneten Mustafa Yeneroğlu, der 2019 aus der AKP ausgetreten ist, verfügt die DEVA auch über Kontakte zu Netzwerken in Deutschland.

Eine weitere Abspaltung der AKP ist die 2019 gegründete GP (Zukunftspartei/Gelecek Partisi). Ahmet Davutoğlu, Gründer der GP, galt als einer der wichtigen Strategen der AKP und war von 2014 bis 2016 ihr Vorsitzender sowie Ministerpräsident der Türkei. Aufgrund seiner Differenzen mit Erdoğan und dessen Präsidialsystem trat er im Mai 2016 als Ministerpräsident und AKP-Parteivorsitzender zurück. Die GP ist dem bürgerlich-rechten und islamisch-konservativen Spektrum zuzuordnen. Im Gegensatz zur DEVA verfolgt sie gegenüber dem Westen eine eher distanzierte Politik. Nach Umfragen der Forschungsinstitute bewegt sich die GP zwischen2,5 und 3 Prozent.

Eine wichtige Basis der AKP und ihrer Organisationsstrukturen in der Türkei bilden insbesondere islamische Ordensgemeinschaften und Sekten, die einen nicht zu unterschätzenden Einfluss besitzen. So haben die Ordensgemeinschaften und Sekten Menzil, İsmailağa und İskenderpaşa bei den letzten Parlamentswahlen 2018 öffentlich zur Unterstützung der AKP aufgerufen. Auch wichtige Namen aus der Ordensgemeinschaft Nur Cemaatı erklärten ihre volle Unterstützung für Erdoğan und seine AKP. Fatih Süleyman Denizolgun, Urenkel von Süleyman Hilmi Tunahan, dem Gründer der Ordensgemeinschaft Süleymancılar, sitzt sogar als Abgeordneter der AKP im Parlament.

Die Basis für ihre parlamentarische Mehrheit sichert sich die AKP durch die „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı), die unter Beteiligung der rechtsextremen MHP und der islamistisch-rechtsextremen BBP (Büyük Birlik Partisi/Große Einheitspartei) ins Leben gerufen wurde. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2018 erreichte das Wahlbündnis 53,7 Prozent der abgegebenen Stimmen. Als neue Unterstützer der „Volksallianz“ fungieren auch die islamistische Yeniden Refah Partisi (Neue Wohlfahrtspartei) von Fatih Erbakan, der Sohn des verstorbenen Necmettin Erbakan, sowie die Hüda Par (Hür Dava Partisi/Partei der Freien Sache), die 2012 in Ankara von sunnitischen Muslimen vorwiegend kurdischer Herkunft gegründet wurde und als „türkische Hisbollah“ bekannt ist.

Nach Umfragen des Forschungsinstituts PIAR vom März 2023 liegt die AKP bei 30,8 Prozent.

Das Lager der kemalistisch-sozialdemokratischen Parteien

Die CHP ist im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Sozialdemokratien nicht aus der Arbeiterbewegung heraus entstanden, sondern verkörpert seit der Republikgründung die Tradition einer Staatspartei. Bis in die 1990er Jahre hatte sie ihre soziale Basis im Militär, der Staatsbürokratie und der Intelligenz. Erst Anfang der 1970er Jahre erfolgte eine Wende der CHP hin zum sozialdemokratischen Ideengut. Gegenwärtig sind der Sozialdemokratie in der Türkei Teile ihrer Anhänger- und Wählerschaft weggebrochen. Der Grund dafür liegt insbesondere in der Koalition mit konservativ-nationalistischen Parteien, aber auch in der Unterstützung für die Kriegspolitik in den kurdischen Provinzen. Unter Führung von Deniz Baykal schlug die CHP zwischen 1992 und 2010 immer mehr einen konservativen Kurs ein, so dass Themen wie Minderheitenrechte, Meinungsfreiheit und demokratische Mitbestimmung in den politischen Forderungen ausgeblendet wurden.

Mit dem 2010 gewählten neuen Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu hat die CHP einen politischen Richtungswechsel vorgenommen, der jedoch nicht zum Durchbruch führte. Während die CHP bei den Parlamentswahlen im November 2015 auf 25,3 Prozent der Stimmen kam, erhielt sie bei den Parlamentswahlen 2018 nur 22,7 Prozent. Bei der letzten Wahl gründete die CHP gemeinsam mit der İYİ Parti, DP (Demokratische Partei) und der SP das „Bündnis der Nation“ (Millet İttifakı), das gemeinsam auf 34 Prozent kam. Eine Spaltung erfuhr die CHP durch ihren ehemaligen parlamentarischen Fraktionsvorsitzenden Muharrem İnce, der sich von der Partei trennte und im Mai 2021 die Gründung der Heimatpartei (Memleket Partisi) bekanntgab. Die Heimatpartei ist der konservativ-kemalistischen Linie zuzuordnen und tritt größtenteils mit einer populistischen Rhetorik auf. Nach Umfragen des Forschungsinstitut PIAR vom März 2023 liegt die CHP bei 32,3 Prozent.

Unbedeutend im sozialdemokratischen Lager blieb die DSP (Demokratische Linkspartei/Demokratik Sol Parti), die zwar zu Lebzeiten ihres Gründers Bülent Ecevit von 1997 bis 2002 an der Regierung beteiligt war, aber bei den Parlamentswahlen 2015 unter einem Prozent blieb. Marginal bei den Wahlen blieb auch die linksnationalistische und prorussische VP (Vaterlandspartei/Vatan Partisi), die sich Anfang 2015 von der „Arbeiterpartei“ in die „Vaterlandspartei“ umbenannte. Die VP und ihr Gründer Doğu Perinçek verstehen sich als eurasiatische Bewegung, die einen antieuropäischen und antiamerikanischen Kurs verfolgt. Die VP ist als ultrakemalistische Partei besonders im Militär und unter den Generälen gut organisiert, was sie für den Machterhalt von Erdoğan zu einem Bündnispartner der „Volksallianz“ von AKP und MHP macht.

Das Lager der prokurdischen und linkssozialistischen Parteien

Die Parteiengeschichte der Türkei zeigt, welchen Repressionen insbesondere prokurdische und linkssozialistische Parteien ausgesetzt waren. So wurden wegen des Vorwurfs des Separatismus folgende prokurdische und linkssozialistische Parteien in der Türkei bereits verboten: 1988 die Sozialistische Partei (SP), 1991 die Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei (TBKP), 1993 die Arbeitspartei des Volkes (HEP), die Freiheits- und Demokratiepartei (ÖZDEP), die Partei der Sozialistischen Türkei (STP), 1994 die Demokratiepartei (DEP), 1995 die Sozialistische Einheitspartei (SBP), 1996 die Partei für Demokratischen Wandel (DDP), 1997 die Partei der Arbeit (EP), 1999 die Demokratische Massenpartei (DKP), 2003 die Demokratiepartei des Volkes (HADEP) und zuletzt 2009 die Demokratische Gesellschaftspartei (DTP).

Die HDP ist in der Geschichte der Türkei die erste prokurdische Partei, der es als Bündnis mit vielen fortschrittlichen und linksozialistischen Parteien im Juni 2015 gelungen ist, direkt ins Parlament einzuziehen. Als dadurch die AKP ihre alleinige Macht verlor, intervenierte Erdoğan und kündigte Neuwahlen an. Zugleich begann eine landesweite Stimmungsmache gegen Politikerinnen und Politiker der HDP, gleichzeitig begann in zahlreichen kurdischen Regionen eine militärische Offensive. Bei der vorgezogenen Neuwahl im November 2015 erhielt die HDP 10,8 Prozent der Stimmen und bildete im Parlament die drittgrößte Fraktion. Bei den Parlamentswahlen 2018 erhielt die HDP 11,7 Prozent der Stimmen und blieb weiterhin drittstärkste Kraft. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2023 tritt die HDP als „Bündnis für Arbeit und Freiheit“ auf, an dem linkssozialistische Parteien und Bewegungen beteiligt sind. Am 22. März 2023 verkündete die HDP, bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 keinen Gegenkandidaten zu Amtsinhaber Erdoğan aufzustellen. Diese Entscheidung wird öffentlich als Unterstützung für Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu gewertet, auf den sich ein Sechserbündnis aus Oppositionsparteien geeinigt hatte. Man wolle, so die HDP-Parteispitze, der „historischen Verantwortung“ nachkommen, die Ein-Mann-Herrschaft Erdoğans in der Türkei zu beenden.

Nach einer Umfrage des Forschungsinstituts PİAR lag die HDP im Februar 2023 bei 11,2 Prozent.

Im Mai 2016 entzog die Große Nationalversammlung 50 Abgeordneten der HDP ihre Immunität. Die ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ sitzen seit November 2016 in Haft, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Dezember 2020 die Freilassung von Demirtaş gefordert hat. Darüber hinaus erhielten zahlreiche Politikerinnen und Politiker der HDP ein Politikverbot und mussten in Haft. In nahezu allen kurdischen Städten und Provinzen wurden die Bürgermeister der HDP abgesetzt und festgenommen. Ihnen wird Separatismus und Unterstützung der PKK vorgeworfen. Nun droht im Vorfeld der Wahlen im Mai 2023 auch ein Verbotsverfahren gegen die HDP.

Anfang März 2021 leitete die türkische Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen gegen die HDP ein und reichte zugleich beim Verfassungsgericht eine Klageschrift für ein Verbot der HDP ein. Darin forderte der Generalstaatsanwalt neben dem Verbot auch das Politikverbot für 687 Parteifunktionäre. Zudem hat im Januar 2023 das Verfassungsgericht mit einem Urteil die Bankkonten der HDP blockiert, so dass sie keine staatliche Parteienfinanzierung mehr für den Wahlkampf beziehen kann. Der Rechtswissenschaftler Osman Can konstatiert: „Das würde auf den Ausschluss fast aller HDP-Politiker von der Politik hinauslaufen und so die politischen Kanäle für die Diskussion und Lösung der Kurdenfrage auf Jahre verschließen.“ Einen Antrag der HDP, das Verbotsverfahren gegen sie bis zu einem Zeitpunkt nach den Wahlen auszusetzen, lehnte das Verfassungsgericht in Ankara ab. Um einem Parteiverbot zuvorzukommen, wird deshalb die HDP unter der Partei „Yeşil Sol Parti“ (Grüne Linke Partei) zur Wahl antreten.

Das Lager der rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien

Das extrem rechte Lager erlitt in den letzten Jahren aufgrund seiner Koalition mit der AKP sowie unterschiedlicher Flügelkämpfe tiefe Spaltungen. Die Mutterpartei des Rechtsextremismus in der Türkei ist die durch Oberst Alparslan Türkeş 1969 gegründete MHP, die seit 2018 in einem Wahlbündnis mit der AKP steht. Die Gründer um Türkeş bedienten sich mit dem „Grauen Wolf“ (Bozkurt) eines Symbols aus der türkischen Mythologie, das heute für die Militanz der rechtsextremen Bewegung steht und auch als Bezeichnung für paramilitärische Jugendgruppen genutzt wurde. So waren paramilitärische Gruppen im Umfeld der MHP zwischen den 1960er und den 2000er Jahren in mehrere Morde von Linken, Gewerkschaftern und fortschrittlichen Wissenschaftlern, in Pogrome gegen die alevitische Bevölkerung in Kahramanmaraş, Çorum, Sivas, Gazi, Ümraniye sowie in Anschläge auf kurdische Politiker involviert. Das Fundament der MHP bildet die Vision eines Großtürkischen Reiches „Turan“ und der „idealistische Nationalismus“ (Ülkücülük), verbunden mit einem ausgeprägten Rassismus und einer antidemokratischen Grundhaltung. Nach dem Tod von Türkeş im Jahr 1997 übernahm Devlet Bahçeli die Parteispitze. Mit Bahçeli begann eine Neustrukturierung der MHP – auch in ihrer Politik gegenüber der AKP unter Erdoğan.

Die MHP distanzierte sich zunächst von der politischen Linie der AKP und stellte sich gegen das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem. Ein zentraler Grund für diese Politik lag insbesondere in den Friedensgesprächen zwischen der AKP-Regierung und der PKK. Als Erdoğan die Friedensgespräche abbrach und die militärische Intervention in den kurdischen Gebieten eine Wende nahm, begann zugleich die Annäherung der MHP an Erdoğan. Als ersten Schritt unterstützte Bahçeli im Jahre 2016 Erdoğan, damit er mit einer parlamentarischen Dreifünftelmehrheit ein Verfassungsreferendum zum Übergang in ein Präsidialsystem verwirklichen konnte. Die Annäherung an die AKP und die Unterstützung des Referendums führte zu zahlreichen Austritten und Parteiausschlüssen. Infolgedessen verfestigte sich die Zusammenarbeit zwischen MHP und AKP: Bahçeli ging mit Erdoğan das Wahlbündnis „Volksallianz“ ein, das auch bei den kommenden Parlamentswahlen 2023 gemeinsam agieren soll. Bei der Parlamentswahl 2018 erreichte die MHP ein Ergebnis von 11,1 Prozent und bildet seitdem zusammen mit der AKP die Mehrheit im Parlament. Nach Umfragen des Forschungsinstituts „MetroPoll“ lag die MHP im Dezember 2022 bei 7,3 Prozent.

Die Annäherungen Bahçelis an Erdoğan lösten innerhalb der MHP große Widerstände aus. Führende Köpfe wie Meral Akşener, Ümit Özdağ und Koray Aydın verließen die Partei. Unter dem Vorsitz von Akşener wurde im Oktober 2017 die İYİ Parti (Gute Partei) gegründet. Kurz danach kam es aber zu einer Abspaltung unter Ümit Özdağ. Er gründete im August 2021 die ZP (Partei des Sieges/Zafer Partisi), die in ihrer Programmatik ein Bündel an rechtspopulistischen und völkisch-nationalen Auffassungen vertritt. Bekannt wurde Özdağ auch mit seiner nationalistischen Stimmungsmache gegen Geflüchtete in der Türkei. Die ZP hat zu den anstehenden Parlamentswahlen 2023 gemeinsam mit der AP (Gerechtigkeitspartei/Adalet Partisi), der ÜP (Partei unseres Landes/Ülkem Partisi) und der Partei des Türkei-Bündnisses (Türkiye Ittifaki Partisi) das Wahlbündnis Ata İttifakı (Bündnis des Vaterlandes) gegründet, dessen Präsidentschaftskandidat der ehemalige MHP-Abgeordnete Sinan Oğan ist.

Die İYİ ist eine konservativ-nationalistische Partei, die insbesondere dem rechtspopulistischen Spektrum zugeordnet werden kann. Gemeinsam mit der CHP bildet sie, die derzeit mit 36 Abgeordneten im Parlament vertreten ist, die Spitze des „Sechser-Bündnisses“ (CHP, İYİ, SP, DEVA, GP und DP) gegen Erdoğan und seine „Volksallianz“. Nach Umfragen des Forschungsinstituts „MetroPoll“ lag die İYİ-Partei im Dezember 2022 bei 12,5 Prozent.  Nachdem die İYİ-Partei vorübergehend das Sechserbündnis verlassen hatte, konnte man sich Anfang März 2023 doch auf Kemal Kiliçdaroğlu, den Chef der CHP, als gemeinsamen Kandidaten gegen Erdoğan einigen.

Linksammlung

Quellen & weitere Infos

Links

Bundeszentrale für politische Bildung: Parteien der Türkei

Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): Neue pro-islamische Parteien in der Türkei

Konrad Adenauer Stiftung: Das Parteiensystem der Türkei

Generaldirektion externe Politikbereiche des Europaäischen Parlaments: Die rechtlichen Auswirkungen des Verbotsverfahrens der AKP

Literaturhinweise

  • Bozay, Kemal/Kaygısız, Hasan: Der neue Sultan. Die Türkei zwischen Repression und Widerstand, Köln 2017.
  • Rumpf, Christian/Steinbach, Udo: Das politische System der Türkei, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Das politische System Osteuropas, Wiesbaden 2004.

Bürger & Staat: Heft 1/2-2023, 100 Jahre Türkei

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Abbildung -B&S 1/2-2023 100 Jahre Türkei
Bürger & Staat

B&S 1/2-2023 100 Jahre Türkei

Die Republik zwischen Tradition und Erneuerung

Heft 1/2 - 2023

 

LpB
Stuttgart 2023 , 100 Seiten
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Letzte Aktualisierung: März 2023

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