Tagebuch – Der Krieg in der Ukraine

aus persönlicher Sicht von Anna Kupriy

Als der Krieg in der Ukraine begann, hat Anna aus Odessa ihre Stadt verlassen. Die Journalistin erzählt in ihrem Tagebuch über ihr persönliches Erleben des Krieges, von ihrer Familie, ihren Freunden, Kolleginnen und Kollegen, die in der Heimat geblieben sind – und auch von jenen, die sich ebenfalls in Richtung Westen aufgemacht haben, um den Gefahren zu entkommen. Sie erzählt von der Ohnmacht und der Sprachlosigkeit, von der Gewalt und den Verheerungen, die sich plötzlich wie ein Schleier über das Land und die Menschen legten. Sie erzählt auch vom Kriegsbeginn am 24. Februar, an dem alle von einem Tag auf den andern in eine andere Realität geworfen wurden, ohne dass eine Chance bestanden hätte, dem Geschehen zu entrinnen. Sie berichtet aber auch von ihren Hoffnungen und Wünschen und beschreibt ihr neues Leben hier in Deutschland, wo sie sich zwar nun in Sicherheit befindet und offen aufgenommen wurde, aber doch vor Sorge um und Sehnsucht nach der Heimat nicht wirklich ankommen kann – auch gar nicht wirklich ankommen möchte.

 

„Hallo. Ich bin Anna aus der Ukraine. Vor gut vier Wochen musste ich eine Antwort auf die Frage finden: Bleiben oder mein Land verlassen? Ich wollte aus meiner Heimat Odessa nicht weg. Ich bin unabhängig und stark. Ich dachte, ich wäre nützlicher, wenn ich bleibe. Aber die Umstände waren anders. Am Abend des 25. Februar 2022 packte ich mehrere Frauen im Alter zwischen 25 und 80 Jahren, zwei Kinder und eine Katze in mein Auto. So begann unser Weg nach Deutschland, von dem ich euch erzählen möchte. Vielleicht hilft das denjenigen, die jetzt auf unserem Weg nachfolgen, und bewahrt sie vor Fehlern und Risiken. Vielleicht werden Menschen in Deutschland, das jetzt unsere vorübergehende Heimat geworden ist, dies lesen und besser verstehen, wer wir sind und warum wir jetzt hier sind …“

Anna Kupriy

Die Journalistin Anna Kupriy arbeitete viele Jahre als Nachrichtenredakteurin sowie als Fernseh- und Radiomoderatorin in der Ukraine.

Sie ist in Odessa geboren und lebte ihr ganzes Leben dort.

Wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine verließ sie zusammen mit mehreren Familien Odessa und machte sich auf den Weg nach Deutschland.

Sie lebt derzeit in Gerlingen bei Stuttgart.

Unser Ukraine-Tagebuch steht ebenfalls auch auf Russisch zur Verfügung:

украинский дневник

Folge 1: Bleiben oder mein Land verlassen?

28. März 2022

„Was werdet ihr tun, wenn der Krieg beginnt?“ Diese Frage haben wir uns anfangs scherzhaft gestellt. Aber mal ehrlich: Was für ein Krieg? Bomben, die vom Himmel fallen? Die Bombardierung von Schulen und Krankenhäusern? Eine Blockade der Städte? Das ist unmöglich, dachten wir. Nur ein Verrückter kann so etwas im 21. Jahrhundert tun. Selbst die Klügsten unter uns, selbst diejenigen, die sich in Geschichte und Militärwissenschaft gut auskennen, sahen eine kleine Chance, dass Wahnsinn und großflächige militärische Aggression in der modernen Welt keinen Platz haben. Aber kluge und erfahrene Menschen haben dennoch Möglichkeiten zur Rettung der Zivilbevölkerung aufgezeigt. Und wir hörten auf ihre Empfehlungen. Wir hörten zu, glaubten aber immer noch nicht, dass dies möglich sei.

Bis sich die Frage von „ob“ zu „wann“ änderte. Was wirst du tun, wenn der Krieg beginnt? Am Ende des Winters 2022 hatten fast alle von uns verstanden: Der Krieg würde beginnen, die Frage war nur noch das Datum. Und dann kam der 24. Februar 2022. Um 5.00 Uhr morgens erwachten die ukrainischen Städte von Explosionen und heulenden Sirenen. Wir hörten das Geräusch von Drohnen.

Die Zivilbevölkerung stellt in jedem Krieg ein zusätzliches Risiko dar. Wer nicht weiß, wie man eine Waffe in der Hand hält, wer nicht weiß, wie man in Extremsituationen überlebt, ist eine potenzielle Geisel. Deine Stadt kann innerhalb weniger Stunden ohne Kommunikation, Strom und Wasser sein. Du wirst dich in einem Keller eingeschlossen wiederfinden, in dem sich außer dir noch Hunderte anderer Zivilisten befinden. Und diejenigen, die dich beschützen, werden, anstatt auf den Feind zu schießen, darüber nachdenken, wie sie dich herausholen können. Wenn du also bereits verstehst, dass der Krieg nicht zu vermeiden ist, dann musst du einen Plan haben.

Zunächst musst du dich entscheiden, ob du bleibst oder ob du gehen willst. Ersteres macht nur dann Sinn, wenn du während der Kampfhandlungen auf jeden Fall nützlich sein kannst und wenn du keine Kinder oder alte Menschen in deiner Familie hast, für die du Verantwortung trägst. Wenn dies nicht der Fall ist, denke im Voraus an diejenigen, die von dir abhängig sind. Hast du ein eigenes Transportmittel, mit dem du Menschen wegbringen könntest? Wohin wirst du sie bringen? Hast du genügend Treibstoff und Lebensmittel für die Reise? Befinden sich Dokumente und Geld – falls überhaupt vorhanden – in der gleichen Tasche? Hast du einen Erste-Hilfe-Kasten, Wasser, Batterien in dieser Tasche?

Hallo. Ich bin Anna aus der Ukraine. Vor gut vier Wochen musste ich nach Antworten auf all diese Fragen suchen. Ich wollte meine Heimat Odessa nicht verlassen. Ich bin unabhängig und stark. Ich dachte, ich wäre nützlicher, wenn ich bleibe. Aber die Umstände waren anders. Am Abend des 25. Februar 2022 packte ich mehrere Frauen im Alter zwischen 25 und 80 Jahren, zwei Kinder und eine Katze in mein Auto. So begann unser Weg nach Deutschland, von dem ich euch erzählen möchte. Vielleicht hilft das denjenigen, die jetzt auf unserem Weg nachfolgen, und bewahrt sie vor Fehlern und Risiken. Vielleicht werden Menschen in Deutschland, das jetzt unsere vorübergehende Heimat geworden ist, dies lesen und besser verstehen, wer wir sind und warum wir jetzt hier sind.

Aber bevor ich anfange, möchte ich noch etwas sagen. Wenn du glaubst, dass es sich in der Ukraine um einen gewöhnlichen lokalen Konflikt handelt, dann irrst du dich. Dies ist ein echter Krieg. Russland sagt immer, dass es nie jemanden zuerst angegriffen habe. Das ist eine Lüge. Der berühmte ukrainische Historiker Alexander Babich hat das Thema untersucht und eine Statistik veröffentlicht: Russland hat im 20. Jahrhundert allein neun Jahre ohne Krieg zugebracht. In der übrigen Zeit hat dieses Land entweder angegriffen oder aktiv an Kriegen teilgenommen: in Japan, Persien, Spanien, Polen, in der Tschechoslowakei, Afghanistan, Syrien, Tschetschenien, Georgien ... Und so griffen sie an diesem 24. Februar 2022 die Ukraine an.

Was sich derzeit in meinem Land abspielt, ist nicht nur unser Krieg. Die Person, die den Befehl zum Abwurf von Bomben auf Mariupol, Kiew, Sumy, Nikolajew und Cherson gegeben hat, wird nicht aufhören. Sein Wahnsinn ist eine Bedrohung für ganz Europa. Das Leben und die Zukunft der einfachen Menschen in verschiedenen europäischen Ländern hängt davon ab, ob die Ukraine jetzt standhält. Wir glauben, dass unsere Ukraine es schaffen wird. Und wir werden definitiv gewinnen. Und dann können wir nach Hause zurückkehren.

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Folge 2: Auslandsreisen gehörten nicht zu meinen Plänen

4. April 2022

Nach Angaben der Vereinten Nationen verließen bis Anfang April 2022 rund 4 Millionen Flüchtlinge die Ukraine. Etwa 6,5 Millionen wurden zu Binnenvertriebenen. Zehn Millionen Menschen sind auf der Suche nach Sicherheit aus ihrer Heimat geflohen. Dieser Krieg wird bereits als der zweitgrößte militärische Konflikt in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet.

Wir selbst glaubten nicht so recht an die Möglichkeit eines Krieges, aber die Notwendigkeit, im Falle einer russischen Invasion in der Ukraine das Land zu verlassen, wurde von vielen im Voraus bedacht. Ein eigenes Auto gab mir die Freiheit, mich zu bewegen. Mir wurde beigebracht: Du musst einen Ort dreißig Kilometer von der Stadt entfernt finden, dort Lebensmittel, Wasser und Treibstoff deponieren und beim ersten Beschuss zu diesem Ort gehen. Am besten ist es, wenn der Ort ein Dorf ist, in dem es keine dichte Bebauung gibt. Leider hat diese Empfehlung nicht funktioniert. Von den ersten Tagen an griff Russland nicht nur Städte, sondern auch Vororte an und bombardierte die Infrastruktur: Militäreinheiten und Wohngebäude, Flughäfen und Lagerhäuser für brennbare Materialien. Es war also in der Stadt und außerhalb der Stadt gleichermaßen gefährlich.

Reisen ins Ausland gehörten nicht zu meinen Plänen. Es schien zu genügen, in den westlichen Teil der Ukraine zu ziehen, um aus der Gefahrenzone herauszukommen. Doch diese Hoffnungen waren vergebens: Ab dem Morgen des 24. Februar 2022 wurden nicht nur der Osten und Süden, sondern auch der Norden der Ukraine aus der Luft angegriffen. Schon nach wenigen Tagen gab es in unserem Land fast keine sicheren Orte mehr. Als die Frontlinie Cherson (200 Kilometer von Odessa entfernt) erreichte, beschlossen wir, an die Grenze zu gehen. Wir, das sind ich, die Frau meines Sohnes, meine Freundin und ihre Familie: eine 80-jährige Mutter und zwei Kinder. Von den Ländern, die an die Ukraine grenzen, wählten wir Moldawien. Es liegt unweit von Odessa und man muss nicht quer durch das ganze Land fahren, um zur Grenze zu gelangen. Das zweite Argument war der sogenannte „menschliche Faktor”.

Valentina lebt in Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau. Wir haben uns einige Male gesehen, als Walja nach Odessa kam und ich sie und ihre Truppe begleitete. Am Morgen des 24. Februar, nach dem ersten Beschuss, schrieb mir Walja: „Du kannst auf unsere Hilfe zählen, komm, wir warten. Wie wichtig ist es, wenn es einen Menschen gibt, der einfach sagt: Du kannst auf mich zählen! Ich schreibe mein Tagebuch in erster Linie, um nicht alle zu vergessen, die uns geholfen haben. Dutzende von Fremden, die bereit waren, uns zu unterstützen, wurden für mich zur wichtigsten Entdeckung während der langen Tage unserer Reise bis zur Ankunft in Stuttgart.

Freiwillige Helfer an der Grenze in Moldawien verteilten heißen Tee, Lebensmittel, SIM-Karten für Telefone und boten Unterkünfte an. Restaurants in Chisinau versorgten Ukrainer mit kostenlosen Mittagessen, und der Laden gab Karten für Lebensmittel aus. Die Besitzerin eines Cafés im bulgarischen Nessebar eröffnete ein Freiwilligenzentrum in ihrem Café. Denn es ist unmöglich, an Profit zu denken, wenn so viele Menschen Hilfe brauchen. Ich sah einige einheimische Männer, die mit vier Geländewagen ankamen und einen Vorschlag machten: „Wir können alles transportieren, was gebraucht wird, und jeden, der es braucht. Wir wollen helfen.”

Und dann war da noch Peter aus Burgas. Seine große Wohnung im Zentrum des Ferienortes steht im Winter leer, und er stellt sie Familien aus der Ukraine kostenlos zur Verfügung. Roberto, der Besitzer eines Hotels in einem Skigebiet in den Tiroler Alpen in Österreich, stellte eine ganze Etage für die Unterbringung von Ukrainern zur Verfügung. In einem Hotel in Serbien wurden Abendessen und Frühstück kostenlos für uns zubereitet. Ein Fremder in Chisinau, den wir nach dem Weg fragten, setzte sich einfach hinter das Steuer seines Autos und führte uns durch die ganze Stadt bis zur Auffahrt auf die von uns gesuchte Autobahn. Angestellte der Stadtverwaltung in einer kleinen rumänischen Ortschaft gaben uns Tee zu trinken und zwangen uns buchstäblich, Geld für Benzin zu nehmen. Schließlich Deutschland, dessen Menschen eine eigene Geschichte verdienen.

Wir haben auf unserem Weg von Odessa nach Stuttgart sieben Länder bereist: Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich und Deutschland. Manchmal denke ich, dass mir dieser gesamte Weg geschenkt wurde, um etwas über die Welt zu verstehen. Über den Planeten und seine Menschen. Über das, was gut ist. Denn wenn es so viel Gutes in der Welt gibt, kann es gar nicht anders, als zu gewinnen.

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Folge 3: In Deutschland. Wer sind wir?

11. April 2022

Einen Monat nach Kriegsbeginn wurde klar, dass Europa auf einen solchen Zustrom von Menschen aus der Ukraine nicht vorbereitet war. Aber Deutschland meistert die Aufgabe, Flüchtlinge aufzunehmen, mit Bravour. Übrigens versuchen die Ukrainer, den Begriff „Flüchtlinge“ nicht für sich selbst zu verwenden, sondern bevorzugen die Formulierung „vorübergehend Vertriebene“. Die meisten derjenigen, die jetzt in die europäischen Länder gekommen sind, sind Frauen. Unter ihnen gibt es viele, die sich selbst versorgen können und in ihrem Beruf erfolgreich sind. Sie haben das Land verlassen und ihre Kinder mitgenommen, um während des Krieges keinen zusätzlichen Risikofaktor zu schaffen. Ihre Männer sind geblieben, um die Ukraine zu verteidigen, so dass all diese Frauen früher oder später definitiv nach Hause zurückkehren werden.

Bei aller großen Erfahrung mit der Aufnahme von Zuwanderern, auf die Deutschland zu Recht stolz sein kann, sind wir ein neues Format. Wir versuchen nicht, „auf die Sozialhilfe zu setzen“, wir streben nicht nach absoluter Integration, wir sehnen uns nicht nach wirtschaftlichen Vorteilen. Wir fangen ein paar Tage, nachdem wir hierher gekommen sind, an, einen Job zu suchen. Wir nehmen die Hilfe dankbar an, aber gleichzeitig ist uns allen klar, dass dies nur vorübergehend ist. Und wir alle versuchen, diese Zeit in Deutschland mit dem maximalen Nutzen für unsere Landsleute zu verbringen.

Was machen wir hier? Diejenigen, die Englisch oder Deutsch sprechen, helfen Ukrainern, die diese Sprache nicht sprechen, bei der Übersetzung, wenn sie zum Beispiel mit Amtsvorgängen klarkommen müssen. Ukrainische Frauen helfen in Freiwilligenzentren: Sie suchen Wohnungen für diejenigen, die hierher kommen, sortieren und verteilen Kleidung, Schuhe und Hygieneartikel. In eigens eingerichteten Telegram-Kanälen sprechen sie über die Regeln für den Aufenthalt in Deutschland, darüber, wo man preiswerte Produkte findet, wie man Verkehrsmittel benutzt und wie man Dokumente ausstellt.

Eine meiner Kolleginnen aus Odessa organisiert in Stuttgart einen Club für kulturelle Kommunikation für diejenigen, die die Ukraine wegen des Krieges verlassen mussten. In Form von Spielen führt sie die Kinder in die Traditionen und die Geschichte Deutschlands ein, leitet Kurse und berät. Älteren Menschen bietet sie Atemübungen an, schaut Filme mit ihnen an und bespricht Bücher. Eine andere Kollegin aus Odessa organisiert hier in Deutschland historische Online-Vorträge. Die Spenden, die sie dabei bekommt, setzt sie für Medikamente und Lebensmittel für Ukrainer in den von Russland besetzten Gebieten ein. Ich spreche über die Ukraine und die Ukrainer in den deutschen Medien. Und wir alle versuchen, nach und nach Deutsch zu lernen. Es gibt eine Auswahl: Kurse des Goethe-Instituts, Kurse auf Instagram von Freiwilligen, Kurse von ukrainischen Studenten, die an deutschen Universitäten studieren. Alles ist natürlich für Ukrainer kostenlos.

Deutschland tut viel für uns. Diejenigen, die die Ukraine nach Kriegsbeginn verlassen haben, können eine Sozialwohnung bekommen, legal arbeiten und medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. Die Ukrainer erhalten SIM-Karten mit Internetzugang und Anrufmöglichkeiten in die Ukraine. Sie können auch kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren. Auf der Ebene der Privatinitiativen geschahen unglaubliche Dinge: Angebote für kostenlosen Rechtsbeistand, die Möglichkeit, Brillen ohne Bezahlung zu bestellen, Sonderkonditionen für den Kauf von Lebensmitteln, kostenlose Dienstleistungen von Tierkliniken für Haustiere, freier Eintritt in Museen und Konzerte. Du sagst vielleicht: „Komm schon! Ausflüge und Museen? Sind die hierher gekommen, um sich auszuruhen?!“, und du wirst dich irren. Wir sehen es nicht als Unterhaltung an, sondern als Gelegenheit, die Kultur des Landes zu verstehen, das unsere vorübergehende Heimat geworden ist. Es ist auch Ablenkung, der Versuch, nicht verrückt zu werden. Nur wenige Dinge können einen vor dem Abgrund des Wahnsinns bewahren, wenn man von zu Hause abgeschnitten ist, vielleicht für immer, und man nicht weiß, ob seine Verwandten dort, in der Ukraine, überleben werden.

Vor Kurzem besuchte ich einen Yogakurs für ukrainische Frauen, der vom Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof in Stuttgart angeboten wurde. Ich schaute auf all die Frauen in der Halle und dachte: Wer hätte gedacht, dass wir hier sein würden? Wer hätte ahnen können, dass Hunderte von Menschen in Tausenden von Kilometern Entfernung von ihrer Heimat ein solches Interesse an unserem Land zeigen und sich so um uns kümmern würden? Putins Aggression, die darauf abzielt, mein Land zu zerstören, hat den gegenteiligen Effekt: Sie hat Europa zusammengeschweißt. Und die Ukraine wird, ohne ihre Identität zu verlieren, zu einem vollwertigen Mitglied der europäischen Gemeinschaft.

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Folge 4: Russische Fälschungen, Staatsideologie und die Strategie der Zerstörung

13. April 2022

Anfang April wurde die zivilisierte Welt durch Beweise für russische Militärverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in der Nähe von Kiew schockiert. Nachdem die ukrainische Armee die Hauptstadt und ihre Vororte befreit hatte, meldeten sich diejenigen zu Wort, die es geschafft hatten zu überleben – und es waren schreckliche Worte über Folter, Vergewaltigung und Mord. Aber die fotografischen Fakten waren noch viel aufschlussreicher. Führende Massenmedien der Welt veröffentlichten Bilder aus der Stadt Butscha in der Nähe von Kiew: Menschen, denen mit auf dem Rücken gefesselten Händen in den Hinterkopf geschossen wurde, tote Passanten, Massengräber mit Zivilisten. Später veröffentlichte die New York Times Satellitenbilder, die bestätigten, dass die Leichen auf den Straßen von Butscha auftauchten, als die russischen Truppen noch in der Stadt waren. Unabhängige internationale Experten haben bereits erklärt, dass Russland gegen die Genfer Konventionen über die Kriegsführung verstoßen hat. Die offizielle Position der Russischen Föderation bleibt jedoch dieselbe: „Wir sind es nicht, die Ukraine beschießt sich selbst.“ Und das Erstaunliche daran ist, dass die „einfachen Russen“ wirklich daran glauben.

Das ist eine offensichtliche Verzerrung der Realität, die versucht, den Aggressor als Friedensstifter darzustellen. Diese Strategie funktioniert selbst dann, wenn die Lüge so lächerlich ist, dass sie niemand zu glauben scheint. Hier Beispiele für Aussagen, die von den offiziellen russischen Medien immer wieder wiederholt werden:
 

Die russische Armee führt eine Sonderoperation zur Entnazifizierung der Ukraine durch, um sie von den Nazis zu befreien. Die Operation hätte bereits mit einem Sieg für Russland geendet, wenn die ukrainischen Kämpfer nicht Zivilisten als Geiseln genommen hätten.

Die Ukrainer sprengen selbst Wohnhäuser und Krankenhäuser sowie Frauen und Kinder in die Luft und geben den russischen Truppen die Schuld, damit der Westen der Ukraine weiterhin Geld und Waffen gibt.

Russland hat die Ukraine nicht angegriffen, sondern einen Präventivschlag geführt, denn sonst hätte die Ukraine zuerst angegriffen.

Kiew hat eine Atombombe entwickelt und plant, sie gegen Moskau einzusetzen.

In Geheimlabors in der Ukraine wurden Coronavirus-Stämme entwickelt, die nur Russen infizieren, und diese Stämme wurden durch Zugvögel verbreitet.

 

All dies sind Fälschungen, mit denen die kriegerischen Aggressionen gerechtfertigt werden sollen. Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es ist jetzt klar, dass die russischen Medien seit vielen Jahren auf diesen Krieg vorbereitet und Chauvinismus und Hass auf die Ukrainer verbreitet haben. Und es war ein gut durchdachter Plan. Putins Propagandisten nahmen den Sieg im Zweiten Weltkrieg als Grundlage für die Herausbildung einer neuen Ideologie. Sie begannen, den Durchschnittsrussen zu begeistern: Ihr seid die Erben der Sieger. Die Hysterie rund um die Parade am 9. Mai, kleine Kinder in Militäruniformen des Zweiten Weltkriegs, die Rufe „Wir können wiederholen!“ All dies sind propagandistische Glieder einer langen Kette. Der klassische Mythos der zaristischen Größe Russlands hat nicht nur ein Gefühl der Verbundenheit mit den Heldentaten der Vorfahren in der Vergangenheit, sondern auch den Glauben an ihre große historische Mission in der Gegenwart hervorgerufen.

Seit der Besetzung der Krim im Jahr 2014 sind die Russen davon überzeugt, dass die Inbesitznahme ukrainischer Gebiete durch den heiligen Kampf „gegen das Böse“ gerechtfertigt ist. Ein paar Fotos von Fackelzügen einzelner Organisationen reichten aus, um die russischen Fernsehzuschauer glauben zu machen, dass die gesamte Ukraine von Nazis kontrolliert wird, die vernichtet werden müssen – ein fruchtbarer Boden für jemanden, der einen Krieg anzetteln will. Die Situation war durch zahlreiche Fernsehsendungen angespannt, aus den Bildschirmen flossen glatte Lügen. Niemand brauchte Fakten, denn „im Fernsehen kann man nicht lügen“, so der weitverbreitete Glaube. Gewöhnliche Russen haben ein Ziel und gleichzeitig einen Grund, stolz auf ihr Land zu sein. Der derzeitige Krieg, den sie als „Sondereinsatz“ bezeichnen, war nur das logische Ergebnis einer jahrelangen massiven Propaganda.

Die Ukrainer unterschätzten das Ausmaß des Geschehens. Wir lachten über die vom Fernsehen „zombifizierten“ Russen und merkten nicht, dass zu dieser Zeit in einem Nachbarland professionell Mörder herangezogen wurden. Wir haben nicht bedacht, dass sie nicht kommen würden, um zu erobern, sondern um zu zerstören. Sie sind sich sicher, dass es ihre Aufgabe ist, die Welt vom Bösen zu befreien. Und dabei können sie sich auch noch bereichern: Videokameras in Weißrussland haben aufgezeichnet, wie das russische Militär Pakete mit Kleidung, Spielzeug und Haushaltsgeräten aus den geplünderten ukrainischen Häusern nach Hause schickte.

Sie werden von dem Gefühl getrieben, an einer großen historischen Mission beteiligt zu sein, während es sich in Wirklichkeit um nichts anderes als die Beteiligung an Kriegsverbrechen handelt. Zuzugeben, dass es russische Truppen sind, die ukrainische Städte bombardieren und ukrainische Frauen und Kinder töten, dass sie nicht von einem einzelnen nationalistischen Bataillon, sondern vom gesamten ukrainischen Volk bekämpft werden, bedeutet, sich als Komplize zu erkennen. Wie die Geschichte bestätigt, ist diese Anerkennung unvermeidlich. Russland wird dafür büßen müssen, aber es ist unwahrscheinlich, dass die Ukrainer auch nach mehreren Generationen die Kraft zur Vergebung finden können.

 

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Folge 5: Fern der Heimat leben und nicht verrückt werden

9. Mai 2022

Nur der Faule, so scheint es, hat noch kein Memo mit Empfehlungen für diejenigen verfasst, die gezwungen waren, die Ukraine für die Dauer des Krieges zu verlassen. Den Geflüchteten werden Verhaltensregeln beigebracht, und denen, die Geflüchtete aufnehmen, wird erklärt, wie man es richtig macht, damit weder der eine noch der andere die Gefühle des jeweils anderen verletzt. All dies ist wahrscheinlich sinnvoll. Allerdings kann ich nicht sagen, dass diese Empfehlungen für mich nützlich waren. Wenn du ein zivilisierter Mensch bist, wirst du dich in jeder Situation entsprechend verhalten, auch ohne zusätzliche Ratschläge. Aber wenn du dich mit deinem „inneren Drachen“ auseinandersetzen und verstehen willst, was mit dir von dem Moment an geschieht, an dem du dein Zuhause verlässt, bis zu dem Moment, an dem du eine vorübergehende Unterkunft gefunden hast, ist das bestimmt nicht überflüssig.

Nur wenige derjenigen, die weggegangen sind, wagen es, ihre Erfahrungen zu schildern. Es wird behauptet, da du in Sicherheit bist, sei das für dich viel einfacher als für die, die geblieben sind. Aber das stimmt nicht. Es ist nicht einfacher. Man sollte nicht sagen, dass man gegangen ist, vor allem wenn man eine Stadt in der Ukraine verlassen hat, die noch nicht beschossen oder ausgelöscht wurde wie Irpin oder Mariupol. Aber was soll ich sagen – man verheimlicht vor seinen Freunden, dass man vorübergehend in ein anderes Land gezogen ist. Oder noch schlimmer, du beginnst, dich zu entschuldigen. Du scheinst dich wegen deiner Entscheidung schuldig zu fühlen. Und das zerrüttet deine ohnehin schon angeschlagene Psyche noch mehr.

Atme ein, atme aus. Du musst verstehen: Das ist dein Leben! Und die Tatsache, dass du dich entschieden hast, den Krieg zu verlassen, betrifft nur dich und die dir nahestehenden Menschen. Die Meinung von Fremden sollte dich nicht verletzen, denn egal, was du tust oder wie du dich verhältst, es wird immer Kritiker geben. Verschwende keine Ressourcen an sie, spare deine Kräfte, du wirst sie auch in Zukunft brauchen. Überlege lieber, wie du das unvermeidliche Trauma abmildern und diese Zeit überstehen kannst, ohne dich selbst zu verlieren.

Es ist paradox, aber die Entscheidung zu gehen, fällt oft leicht. Im Moment der potenziellen Gefahr sagt man sich: „Ich nehme einfach meine Familie mit und gehe für ein paar Wochen weg.“ Mehr nicht. Es ist, als ob wir in den Urlaub fahren würden. Dieses „Urlaubsspiel“ hilft, den Verstand zu täuschen und eine Weile durchzuhalten. Und wenn man dann in Sicherheit ist, beginnt der schwierigste Teil. Zuerst wird einem klar, dass man jetzt nicht mehr in seinem Bett schlafen und morgens nicht in der Küche Kaffee kochen wird. Dann redet man sich ein, dass das nur vorübergehend sei. Aber das funktioniert nicht, denn in Wirklichkeit weißt weder du noch irgendjemand anders, ob es vorübergehend ist und was als nächstes passieren wird. Das Wort „für immer“ taucht in deinem Unterbewusstsein auf und du beginnst zu begreifen, dass dein Leben nur noch aus deiner Familie, einem Auto und ein paar Taschen darin besteht.

Du verfolgst ständig die Nachrichten und beobachtest, wie sich die Karte der Kampfhandlungen in deinem Land verändert. Gleichzeitig versuchst du, alltägliche Probleme zu lösen. Du suchst nach allem, was du brauchst, um dich zunächst zurechtzufinden. Und irgendwann findest du dich dann als erwachsene und selbständige Frau, die noch kürzlich einen interessanten Job, einen coolen Freundeskreis und ein gemütliches Zuhause hatte, in der Schlange für Bettwäsche in einem Freiwilligenzentrum wieder. So hat mich dieses Gefühl anfangs eingeholt und zugedeckt. Du lebst und es geht dir gut, aber du kannst nicht nach Hause zurückkehren. Du bist von Menschen umgeben, die aufrichtig helfen wollen, aber ein anderes Land ist dir fremd, und du bist fremd in ihm. Du hast deinen Platz nie außerhalb der Ukraine gesehen. Du verstehst nicht, was du hier tun wirst und wer all das überhaupt braucht.

Hier lohnt es sich, noch einmal ein- und auszuatmen. Du selbst brauchst dich, deine Familie braucht dich und, egal wie pathetisch es auch klingen mag, dein Land braucht dich auch, und zwar gesund und stark. Versuche, zuerst daran zu denken. Strenge dich an und verbiete dir, an dein Zuhause zu denken. Lege einfach all diese Bilder in eine Schublade und schließe sie vorerst ein. Es ist schwierig, aber möglich. Verfolge nicht ständig die Nachrichten, sonst wirst du noch verrückt. Eine Stunde am Morgen, am Nachmittag und am Abend reicht aus, um auf dem Laufenden zu bleiben. Und schalte die App aus, die dich zu Hause über Luftangriffswarnungen informiert. Wenn du weißt, dass jetzt gerade Hunderte von Kilometern entfernt in deiner Stadt Sirenen heulen und Bomben explodieren, kannst du trotzdem nichts ändern.

Es ist nicht so einfach, in einem anderen Land einen, wenn auch nur vorübergehenden Job zu finden, aber versuche wenigstens, überhaupt etwas zu finden, was du tun kannst. Alles, was dir die Möglichkeit gibt, dich abzulenken, ist gut: Freiwilligen helfen, die Sprache lernen, Brot backen. Geh aus dem Haus, egal wohin, in das belebte Stadtzentrum oder in den nächsten Park.

Jedes Mal, wenn die Illusion von Stabilität auftaucht, kommt wieder das oben beschriebene Gefühl. Aber vielleicht wird es schwächer. Aber etwa ein- oder zweimal pro Woche wirst du ununterbrochen weinen. Es ist eine klassische Stresstheorie, von der Depression zur Euphorie und wieder zurück. So funktioniert es. Aber ich weiß noch nicht, was das Ende dieser Gefühlsschaukel ist. Ich hoffe nur, dass der Krieg vorher zu Ende ist.

 

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Folge 6: Odessa – falsche Mythen der Geschichte

13. Mai 2022

Wenn mich Leute fragen, was ich hier in Deutschland am meisten vermisse, dann antworte ich: das Meer. Wenn du am Meer geboren bist, dann wirst du es in jeder Stadt auf der Welt schmerzlich vermissen. Überall wirst du versuchen, das Rauschen der Brandung zu hören oder „deine eigenen Leute“ zu erraten. Diejenigen, die am Meer leben, besonders wenn es sich um ein warmes, südliches Meer handelt, sind immer laut und lächeln ununterbrochen. Ihre Haut ist dunkler als die der Nordländer, und sie riecht selbst im Februar nach Sonne. Der Winter ist ihnen nur gegeben, um geduldig auf den Sommer zu warten. Im Sommer sind sie in ihrem Element – in der Welt der lichterfüllten Straßen, der überfüllten Basare und Strände, der gemütlichen Gärten mit Weintrauben und Wäscheleinen, in der Welt der faulen Katzen und der lärmenden Möwen. So lebt mein Odessa, eine Stadt an der Schwarzmeerküste. Die Stadt, die von Gott geküsst wurde. Er küsste und lächelte, denn Odessa wird so genannt – das Lächeln Gottes.

Wenn du die Ukraine zumindest einmal besucht hast, dann kannst du nicht umhin, von Odessa gehört zu haben. Denn es ist wahrscheinlich die beliebteste Stadt des Landes. Und auch, weil wir es lieben, mit unserer Stadt so sehr zu prahlen, dass man in allen Ecken der Ukraine von Odessa weiß. Stelle dir eine Stadt mit weiblichem Charakter vor, exzentrisch und gefühlvoll, ein wenig verwegen und kokett, gleichzeitig zärtlich wie ein junges Mädchen und liebevoll wie eine weise Mutter. Diese „Mutter“ ist seit Langem mit Odessa verbunden – und das ist kein Zufall. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, als hier ein großer Hafen gebaut wurde, nahm die Stadt alle in sich auf. Und infolgedessen gab es so viele von diesen „allen“, dass Odessa auch heute noch die multinationalste Stadt der Ukraine ist.

Die Stadt wurde als ein absolut einzigartiges Produkt gegründet. In dem vom Russischen Reich besetzten Steppengebiet musste so schnell wie möglich ein Hafen gebaut werden, um den Getreideexport zu ermöglichen. Die Aufgabe wurde dadurch erschwert, dass es weder genügend Trinkwasser noch Baumaterial gab. Außerdem war es unglaublich schwierig, unter solchen Bedingungen zu überleben. Um unsere Vorfahren dazu zu bewegen, hierher zu kommen, wurden sie mit verschiedenen Vergünstigungen gelockt. Sie wurden zum Beispiel von einem Teil der Steuern befreit und bekamen kostenlos Land geschenkt. Aber trotzdem brauchte man einen verzweifelten Mut, um hierher, „Ende der Welt“, zu kommen. Jedenfalls waren unsere Vorfahren so risikofreudig, dass der Geist des Abenteurertums bis heute eine der wichtigsten Komponenten der Atmosphäre der Stadt ist.

Das Projekt Odessa benötigte nicht nur fleißige Hände, sondern auch eine kompetente Besetzung. Man setzte auf „ausländische Köpfe“: Die ersten Anführer der Stadt, Architekten und Planer, waren Italiener, Franzosen und Niederländer. Die erste Zeitung wurde auf Französisch gedruckt und die Geschäftspapiere waren auf Italienisch. Nimmt man noch die beeindruckende griechische und polnische Diaspora hinzu, nicht zu vergessen die Juden, die in Odessa von Anfang an weitreichende Privilegien genossen, so ergibt sich ein explosives Gemisch. In diesem Schmelztiegel wurde der Charakter der neuen Stadt geboren. Und genau darin liegt die Einzigartigkeit von Odessa: Vor etwas mehr als zweihundert Jahren entstand auf dem Territorium des Russischen Reiches eine absolut nichtrussische, sondern eine durch und durch europäische Stadt.

Du hast wahrscheinlich die Formulierung „vom Russischen Reich besetzten Gebiet“ nicht überlesen. Die rasante Entwicklung des Hafens begann nämlich genau dann, als nach dem Russisch-Türkischen Krieg im Jahr 1791 ein Friedensvertrag unterzeichnet und das Land, das zuvor dreihundert Jahre lang zum Osmanischen Reich gehört hatte, an das Russische Reich abgetreten wurde. Das offizielle Gründungsdatum von Odessa ist das Jahr 1794, als Kaiserin Katharina II. in Sankt Petersburg ein Dekret über den Baubeginn des Hafens unterzeichnete. Paradox: Der Name „Odessa“ kommt in diesem Dekret gar nicht vor. Die Stadt wird in dem Dokument mit dem früheren osmanischen Namen „Khadzhibey“ bezeichnet. Doch das Dekret selbst wurde zum Ausgangspunkt einer großen historischen Lüge, die fast zweihundert Jahre andauerte.

Nach der Version der kaiserlich-russischen und später sowjetischen Historiker gab es hier überhaupt nichts, bevor das Russische Reich in diese Gebiete kam. Die Wahrheit ist, dass zur Zeit der Eroberung durch das Russische Reich ukrainische Kosaken, die Überreste der Armee der Saporoger Sich, die von derselben Katharina vernichtet worden war, bereits seit dreißig Jahren in der Nähe des türkischen Chadschibey lebten. Im 15. Jahrhundert befand sich der litauische Hafen von Kochubiiv an der Stelle von Odessa. Seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts wurden hier unter den Osmanen eine Festung und ein kleiner Hafen von Chadschibey gebaut. Für die Geschichtsschreiber war es jedoch von Vorteil, Russland als Wohltäter darzustellen. Und schließlich wurde es zu einem Instrument der politischen Manipulation.

Heute ist Odessa ein beliebter Urlaubsort und gleichzeitig der größte Exporthafen der Ukraine – und nach wie vor ein gefundenes Fressen für russische Invasoren. Zur Rechtfertigung der russischen Aggression argumentieren manche, Odessa sei eine ausschließlich russische Stadt. Um das Bewusstseins zu beeinflussen, wird eine Reihe von hartnäckigen Mythen verwendet, zum Beispiel über brüderliche Menschen und über die russische Verkehrssprache. Inzwischen sind beide nichts weiter als Werkzeuge in den Händen von Propagandisten. Odessa ist eine multikulturelle, kosmopolitische Stadt, die eine der schönsten ukrainischen Städte war und ist.

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Folge 7: „Brüderlichkeit“

23. Mai 2022

Lasst uns über „Brüderlichkeit“ sprechen. Viele Jahre lang hat man uns gesagt, dass Ukrainer und Russen brüderliche Völker sind. Dieses von Russland aufgezwungene Paradigma hat erst jetzt seine Bedeutung verloren, wo keiner der bewussten Ukrainer einen Russen als seinen Bruder bezeichnen wird. Und mehr noch: Er wird diesen Vergleich als Beleidigung empfinden.

Hier gibt es in der Tat etwas zu bedenken. Wer ist ein Bruder? Die Person, mit der du blutsverwandt bist? Aber hier ist alles durchschaubar. Ich habe im letzten Beitrag darüber geschrieben. Die Person, mit der du die gleiche Sprache sprichst? Oh, es wird dich interessieren, dass das Weißrussische der ukrainischen Sprache vom Wortschatz her am nächsten kommt – 84 Prozent des gesamten Wortschatzes. Danach folgen Polnisch und Serbisch (70 % bzw. 68 %) und erst dann Russisch (62 % des Gesamtwortschatzes). Vergleicht man Phonetik und Grammatik, so weist die ukrainische Sprache 22 bis 29 Gemeinsamkeiten mit der belarussischen, tschechischen, slowakischen und polnischen Sprache auf – mit der russischen sind es nur elf.

Machen wir weiter. Brüder haben meist gemeinsame Interessen und sie sind bereit, für diese Interessen sogar ihr Leben zu riskieren. Aber siehst du: Die Ukrainer haben historisch mit einer Vielzahl von Völkern interagiert. So begann beispielsweise die Bewegung zur Befreiung Griechenlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Odessa mit dem Geheimbund „Filiki Eteria“. Und heute können wir mit Stolz sagen, dass Odessa der Geburtsort des unabhängigen Griechenlands ist. Und seit Ende der 80er-Jahre des 19. Jahrhunderts existierte in Odessa die einzige legale palästinensische Organisation im damaligen Russischen Reich, die jüdische Jugendliche entsandte, um das Land Palästina zu erschließen und dort einen zukünftigen Staat zu gründen. In meiner Stadt Odessa gibt es heute einen Hof, über dessen Tor eine Inschrift angebracht ist: „Hier wurde das moderne Israel geboren“.

Es zeigt sich, dass die Ukrainer eine Vielzahl von Nationen als brüderlich bezeichnen können. Eine gemeinsame Grenze ist keineswegs ein Grund, warme Gefühle zu empfinden. Schließlich kommt es oft vor, dass wir unsere Freunde, die weit weg wohnen, mehr schätzen und respektieren als unsere unmittelbaren Nachbarn. Die „Brüderlichkeit der Völker“ ist nichts weiter als eine Propagandafalle. Und am buntesten illustriert sie Folklore und Volksbräuche.

Zum Beispiel bei einer Hochzeit. Nach der ukrainischen Volkstradition begann unsere Hochzeit mit dem Lied: „Segne, Mutter Gottes, die Hochzeit soll beginnen“. Für die Russen begann die Hochzeit mit diesen Worten: „Die erste Verbeugung mache ich für den Zarenvater, die zweite für die Fürstinmutter und die dritte für die lieben Kinder des Zaren“. Jede junge Familie auf dem ukrainischen Land versuchte, ein eigenes Haus für sich zu bauen, während die Russen traditionell drei oder vier Generationen in einem Haus leben mussten.

Eines der größten Missverständnisse der Russen ist, dass sie an unsere Gemeinsamkeit glauben, an eine Art gemeinsamen Kern. Ihnen wurde sehr geschickt erzählt, dass sie um dieser Gemeinsamkeit willen in das ukrainische Land gekommen sind, um uns zu „retten“. Die Wahrheit ist, dass wir in Wirklichkeit verschiedene Gemeinschaften sind, von denen jede eine eigene Mythologie, Tradition und Kultur hat. Sie weigern sich, das zuzugeben, genauso wie sie sich weigern zu akzeptieren, dass die Ukraine ihre zivilisatorische Wahl längst getroffen hat. Aber die Ukraine hat sie wirklich getroffen, und diese Entscheidung ist keineswegs zugunsten Russlands ausgefallen.

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Folge 8: Der Pragmatismus der Ukrainer

27. Mai 2022

In den Jahren der Unabhängigkeit, die 1991 begann, hat unsere Mentalität schnell neue Züge angenommen. Einige Jahrzehnte lang hat das Land enorme Veränderungen erlebt. Nachdem sich die Ukrainer von den kommunistischen Illusionen befreit hatten, ließen sie in der Vergangenheit das zurück, was für die Mentalität des sowjetischen Volkes charakteristisch war: die Hoffnung auf eine glänzende Zukunft, die man umsonst bekomme, ohne Anstrengung. Auch ewige Werte spielten eine Rolle: gesunder Pragmatismus, Sparsamkeit, der Wunsch, den Raum zu rationalisieren, die Fähigkeit, Kollisionen zu vermeiden. Und all diese Faktoren spielten eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der ukrainischen Wirtschaft.

Zum Beispiel Pragmatismus. Er liegt in der Fähigkeit, im Voraus zu kalkulieren, Handlungen so zu planen, dass sie die maximale Wirkung erzielen. Das sind hervorragende Eigenschaften, denn Pragmatismus bedeutet Stabilität. Und Stabilität ist das, was Investoren und Geschäftspartner anlockt. Gleichzeitig zeichnen sich die Ukrainer durch Lebendigkeit und die Fähigkeit aus, asymmetrische Antworten zu geben, was in Situationen, in denen es notwendig ist, zum Wohle der Sache eine unkonventionelle Entscheidung zu treffen, von großem Wert ist.

Ukrainer sind universell einsetzbar, beherrschen mühelos mehrere Spezialgebiete und sind dabei erstaunlich effizient. Nach dem Beginn des Krieges im Februar 2022 wurden in einigen Regionen Polens die Bauarbeiten massiv eingestellt. Weißt du, warum? Weil die ukrainischen Männer, die in Polen arbeiteten, ihre Arbeit aufgaben und in die Ukraine zurückkehrten, um sie zu verteidigen. Weißt du, welche Art von Geschäft in Polen danach eine unerwartete Entwicklung genommen hat? Die Gastronomie. Ukrainische Frauen, die nach Polen kamen, sahen sich um und beschlossen: Wir können nicht untätig bleiben. Eine nach der anderen eröffneten dort kleine Bäckereien und Cafés mit ukrainischer Küche. Als Nächstes steht ein Durchbruch im Bereich der Schönheitsindustrie an: Ukrainische Frauen, die eine Arbeitserlaubnis erhalten haben, bieten Maniküre, Haarschnitt und Tätowierungen an. Und wir wissen, wie man arbeitet, glaube mir!

Wenn wir darüber sprechen, wie sich die Wirtschaft der Ukraine vor dem Krieg entwickelt hat, dann muss man anerkennen, dass die Wirtschaft des Landes ihre eigenen Besonderheiten hat. Manchmal sagen wir mit Bitterkeit, dass unsere Geschäftsleute nicht dank der Unterstützung des Staates handeln, sondern trotz dessen. Ein kompliziertes System der Regulierung auf legislativer Ebene, Sabotage von Wirtschaftsreformen, Korruption – all das macht die Situation nicht leichter. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass der Ausbruch der Feindseligkeiten in der Ostukraine im Jahr 2014 der Wirtschaft des Landes einen schweren Schlag versetzt hat. Umso überraschender sind die Zahlen: Nach Angaben des Unternehmensverbandes der Ukraine und des Nationalen Industrieportals wurden in vier Jahren, von 2015 bis 2019, 207 neue Anlagen in der Ukraine gebaut. Die Gemeinschaft hat eine interaktive Karte erstellt, so dass jeder online detaillierte Informationen über sie erhalten kann. Es handelt sich um Holzverarbeitungs- und Möbelfabriken, Fabriken für die Herstellung von Baumaterialien, die Produktion von Mineraldünger, Metallkonstruktionen, Solarzellen. Mehr als 200 neue Solarkraftwerke, drei Dutzend Industrieparks, 70 Getreidesilos. Innerhalb von vier Jahren in einem Land, das die Krim verloren hat und sich verzweifelt gegen Aggression und Besetzung im Donbass wehrt.

Jetzt haben wir einen Krieg. Es macht keinen Sinn, über die Wirtschaft zu sprechen, wenn das ganze Land täglich Luftangriffen ausgesetzt ist. Aber weißt du was? Unter den Bedingungen des Krieges sammeln unsere Leute Geld und betreiben Nähereien für Militäruniformen, eröffnen die Produktion von Öfen zum Heizen in den Schützengräben und von modularen Betten für Bombenschutzräume. Geschäftsleute stellen ihre Räumlichkeiten für Freiwilligenzentren und Lager zur Verfügung, stellen Lastwagen bereit und zahlen für die Lieferung von Hilfsgütern aus Europa, installieren auf eigene Kosten Panzerabwehr-Igel und Betonblöcke in den Städten. Dutzende von Restaurants versorgen die Flüchtlinge seit den ersten Kriegstagen. Bei all dem geht es nicht um Profit, denn Einkommen ist das Letzte, woran die Ukrainer jetzt denken. Aber aus irgendeinem Grund bin ich mir sicher, dass die Wirtschaft eines Landes, in dem die Menschen wissen, wie sie während des Krieges arbeiten müssen, nach dem Sieg jede Krise meistern wird.

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Folge 9: Alltagsleben in der Ukraine und in Deutschland (Teil I)

15. Juni 2022

Wenn man einmal in einem anderen Land ist, nicht als Tourist, sondern als vorübergehender, aber dennoch ansässiger Bürger, beginnt man natürlich zu vergleichen. Und sehr schnell geht man von „Wie funktioniert das?“ zu „Oh, aber es stellt sich heraus, dass die Dinge in der Ukraine gar nicht so schlecht sind“. Und zur gleichen Zeit: „Aber das ist es, was wir wirklich lernen müssen.“ Um es gleich klarzustellen: Dieser und die folgenden Texte werden nicht mit dem Ziel geschrieben, zu verstehen, „wo es besser ist zu leben“. Ganz und gar nicht! Und es geht mir auch nicht darum, Kritik zu üben. Dies ist lediglich ein Versuch, zu erfassen, was die Ukraine wirklich erreicht hat und woran wir noch arbeiten müssen. Alles, worüber ich schreibe, betrifft in erster Linie das Alltagsleben und den häuslichen Komfort. Es sind meine persönlichen Beobachtungen nach drei Monaten Leben in Deutschland. Also los geht's!

Schnelle Dienstleistungen rund um die Uhr
In der Ukraine gibt es viele Dienstleistungen, die es dir ermöglichen, ein Produkt oder eine Dienstleistung innerhalb weniger Stunden zu erhalten. Die Lieferung durch Nova Poshta innerhalb von ein oder zwei Tagen von jedem Ort des Landes aus, die Bestellung und Lieferung von Produkten in Supermärkten, die Online-Bestellung von Medikamenten mit der Möglichkeit, sie innerhalb einer Stunde in einer Apotheke abzuholen – daran haben wir uns längst gewöhnt und haben schon aufgehört, es zu überprüfen. Und das an jedem Tag in der Woche. 24-Stunden-Supermärkte und -Apotheken sind längst alltäglich geworden. Eine besondere Überraschung für die Ukrainer ist daher ein vollwertiges Wochenende, an dem alles geschlossen ist. Ich denke, das hat etwas für sich: Wochenenden sind in Deutschland zum Entspannen da, und jeder braucht Urlaub, auch Kassiererinnen, Apotheker und Friseure. Aber es war nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.

Verbindung
Vor einiger Zeit hat die Ukraine einen großen Durchbruch auf dem Gebiet der modernen Technologien erzielt, dank derer die mobile Kommunikation und das Internet schnell, billig und allgegenwärtig sind. Viele flexible Tarife ermöglichen es dir, die günstigsten Bedingungen zu wählen, und das alles für einen Pfennig, im Vergleich zu europäischen Preisen. Das Internet ist in unserem Land fast überall verfügbar. Es ist schwer vorstellbar, dass es in einem Wohnhaus einfach nicht vorhanden sein könnte. Hier sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass es in kleinen Städten in Mietshäusern oft kein Internet gibt. Wenn Sie in einer Mietwohnung eine ständige Verbindung wünschen, müssen Sie für die Installation bezahlen, einen Router kaufen, kurz gesagt, dieses Problem selbst lösen. Die Tarife für mobiles und festes Internet mögen nach europäischen Maßstäben niedrig sein, aber aus der Sicht der Ukrainer haben sie etwas „Biss“.

Kommunikation
Oh, wie viel haben die Ukrainer schon über die Deutsche Post geschrieben! In unserem Land sehen wir die klassische Post als eine Art Archaismus an. Wir lösen alle Probleme durch Telefonate und Chatten mit Instant Messengern. Hier in Deutschland sind alle Vorgänge, wie zum Beispiel die Beantragung einer Bankkarte, an die Post gebunden. Um ein Konto zu eröffnen, geht man zuerst zur Bank, und dann erhält man mehrere Papierbriefe – mit Codes für Anträge, mit einem Code für die Karte und schließlich mit der Bankkarte selbst. Die gesamte Kommunikation mit den Sozialdiensten und Behörden erfolgt per Post. Das erste, was wir bei unserer Ankunft tun sollten, war, unsere Namen in den Briefkasten zu stecken, weil die Dokumente so ankommen würden. Wie bitte? Dokumente – per Post? Funktioniert das? Und es geht nichts verloren? Wenig später waren wir überzeugt: Ja, es funktioniert. Und nein, es geht nichts verloren. Das ist Deutschland. Hier ist alles klar. Aber der Postbote auf dem Fahrrad wird von uns als etwas aus Kinderbüchern und guten alten Filmen wahrgenommen. Es ist kein Zufall, dass die kleine Enkelin meines Freundes hier in Deutschland bereits ihren zukünftigen Beruf gewählt hat: Briefträgerin!

Digitalisierung
Die Ukraine war das erste Land der Welt, das elektronische Pässe mit Plastikpässen gleichsetzte. Digitale Dienste, die vor ein paar Jahren eingeführt wurden, sind bereits ein vertrauter Teil des Lebens geworden. Nehmen Sie zum Beispiel die Diya-App: Die Europäer sind immer wieder erstaunt, dass wir unseren Reisepass, unseren Impfpass, unseren Führerschein usw. in unserem Smartphone mit uns führen. Und das alles funktioniert sogar in Kriegszeiten.

Das Bankensystem
In der Ukraine ist alles klar und digitalisiert. Ein Konto kann man online eröffnen, Fernzahlungen für die Ausbildung – all das ist im Alltag unbezahlbar. Bei Offline-Banken dauert die Kontoeröffnung ohne Termin höchstens anderthalb Stunden, und die Karte wird Ihnen je nach Typ entweder sofort oder in höchstens einer Woche ausgestellt. In Deutschland erhalten Sie zuerst einen Termin … (normalerweise warten Sie mindestens eine Woche), dann kommen Sie und unterschreiben einen Vertrag, und dann – siehe oben – Briefe zur Post. Die meisten Banken haben kurze Öffnungszeiten. Banküberweisungen sind bei Weitem nicht sofort möglich, ebenso wenig wie Apps, und selbst wenn man in einem Geschäft mit einer Karte bezahlt, dauert es zwei bis drei Tage, bis man eine Abbuchungsmitteilung erhält.

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Folge 10: Alltagsleben in der Ukraine und in Deutschland (Teil II)

28. Juni 2022

Immer wieder begegnet es mir, dass sich die Deutschen selbst über ihre Bürokratie beschweren. In der Ukraine werden viele Fragen nach dem Prinzip des „einzigen Schalters“ gelöst. Zum Beispiel kann man einen alten Führerschein innerhalb einer Stunde gegen einen neuen umtauschen. Deshalb, ja, in der Tat: Wenn man in Deutschland lebt, ist es extrem schwierig, jedes Mal Dokumente zu sammeln, Fragebögen auszufüllen, sie per E-Mail und Post zu verschicken, Fristen zu setzen und herauszufinden, welche Dienststelle für welche Fragen zuständig ist. Aber ich denke, das hat etwas für sich: Kein einziger Schritt bleibt hier unaufgezeichnet, alle Vorgänge sind unter Kontrolle, und man hat immer eine Papierbestätigung über die durchgeführten Aktionen. Das ist zum Beispiel bei der Anmietung einer Wohnung sehr wichtig. Ja, man verbringt viel Zeit mit dem Ausfüllen von Dokumenten, aber dadurch ist man auch geschützt. Niemand wird einen einfach so auf die Straße setzen.

Ukrainer beklagen sich oft darüber, dass bürokratische Angelegenheiten in Deutschland sehr lange dauern. Aber meine Freunde, die seit vielen Jahren hier leben, stellen fest, dass die Dokumente für Ukrainer in einer für Deutschland rekordverdächtigen Geschwindigkeit bearbeitet werden. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen aus der Ukraine Deutschland seit Beginn des Krieges aufgenommen hat, kann man das System zumindest für die Tatsache loben, dass es nicht zusammengebrochen ist. Deutschland meistert das, und ich danke dafür.

Auch die medizinische Versorgung wird aktiv diskutiert. Ich will ehrlich sein: Abgesehen vom Abschluss einer Versicherung habe ich hier noch keine Medizin kennengelernt. Aber ich habe mehr als einmal gehört, dass trotz des hohen Niveaus der medizinischen Versorgung in Deutschland der Service in der Ukraine effizienter aufgebaut sei.

Außerdem ist das, was wir in der Ukraine haben, noch nicht auf dem richtigen Niveau. An erster Stelle: eine durchdachte städtische Infrastruktur und eine angemessene Nutzung des Raums. Das sind zum Beispiel Fragen der Inklusion. Ein Mensch mit Behinderung ist in der Ukraine zur Isolation verdammt. Hier in Deutschland haben Menschen mit Behinderungen alles, um sich nicht ausgegrenzt zu fühlen: von behindertengerechten Rampen überall über Aufzüge in der U-Bahn bis hin zu Toiletten. Das Leben ist hier so gestaltet, dass es für alle bequem ist, ohne Ausnahme. Es gibt viele Parks, überall Bänke, bequeme Übergänge an stark frequentierten Verkehrsknotenpunkten. Überall gibt es genügend Platz für Fußgänger, denn Falschparken wird hier mit hohen Geldstrafen geahndet.
Der öffentliche Nahverkehr in Deutschland kann in Oden besungen werden. Bequeme, saubere U-Bahn-Waggons und Busse, die Einhaltung des Fahrplans (ja, es gibt hier einige Ausfälle, aber das ist eher die Ausnahme als die Regel), eine breite Abdeckung des Streckennetzes der gesamten Stadt. Hier, zehn Kilometer von Stuttgart entfernt, habe ich festgestellt, dass ich absolut kein eigenes Auto brauche. Ich weiß genau, wann ich in die U-Bahn einsteigen werde und wann ich am Ziel ankomme. Man kann den Zugverkehr immer online verfolgen. Keine Frage: Alles funktioniert mit erstaunlicher Genauigkeit.

Übrigens, zum Leben in der Stadt und außerhalb der Stadt. In Deutschland gibt es praktisch keinen Unterschied zwischen dem Lebensstandard in und außerhalb der Stadt. In Gerlingen mit seinen 18.000 Einwohnern gibt es alles, was man für ein angenehmes Leben braucht: ausgezeichnete Schulen, Banken, Autodienste, Supermärkte, gemütliche Cafés, Bibliotheken, Schwimmbäder. Das gleiche Bild in Ditzingen, Leonberg und anderen Kleinstädten. Die Straßen sind überall gleich sauber, voller Blumen und Grün, die Häuser sind gepflegt, die Straßen sind glatt, die Logistik hervorragend. In der Ukraine ist der Unterschied zwischen großen Städten und der Provinz weitaus deutlicher.

Im Allgemeinen stimme ich mit dem Gedanken überein, den einer meiner Freunde auf Facebook geäußert hat: Vor dem Krieg war die Ukraine auf dem Niveau eines guten mitteleuropäischen Landes, in dem es sich recht angenehm leben lässt. Und in ihrer Entwicklung war sie auf dem richtigen Weg. Es besteht die Hoffnung, dass nach dem Sieg jeder, der nach Hause zurückkehrt, dank der in Europa gesammelten Erfahrungen die Ukraine noch besser machen wird.

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Folge 11: Was mich überrascht hat (Teil I)

4. Juli 2022

Ich denke, die Rubrik „Was mich überrascht hat“ wird sich als interessant erweisen – und hoffentlich dauerhaft. Denn ich habe nicht vor, meine Fähigkeit, überrascht zu werden, zu verlieren. Und Deutschland und seine Menschen werden offenbar nicht aufhören, mich zu überraschen. Für diese Kolumne habe ich schon seit einigen Monaten etwas Interessantes zusammengetragen. Also, fangen wir an.
Bibliotheken und Buchläden. Ich wurde in der Sowjetunion geboren, wo die Aussage sehr beliebt war, die Sowjetbürger seien die lesefreudigsten Menschen der Welt. Natürlich war diese Aussage völlig unbegründet, denn der „Eiserne Vorhang“ ließ keinen objektiven Vergleich mit anderen Ländern zu. Aber ja, wir haben in der Tat schon immer viel gelesen, und für einen bestimmten Teil der Gesellschaft hat sich daran auch heute wenig geändert. Vieles hängt von den Kommunikationskreisen ab. In den Häusern meiner Freunde – Historiker, Kulturwissenschaftler, Philologen – nehmen Bücher einen eindrucksvollen und ehrenvollen Platz ein. Umso mehr freue ich mich, wenn ich jetzt durch Gerlingen spaziere und in den Fenstern der Häuser, die abends beleuchtet sind, eine Vielzahl von Bücherregalen sehe. Hier wird gelesen – und zwar viel. Aber das sind Kleinigkeiten.

Weltweit war ich von Buchhandlungen und Bibliotheken so überrascht, dass ich einfach nicht anders kann, als darüber zu schreiben. Seit meiner Kindheit lese ich alles und immer, und einige Freunde scherzten: „Wenn du kein Buch zur Hand hast, liest du Schecks aus Geschäften und Etiketten auf Verpackungen.“ Also: Die Stuttgarter Bibliotheken und Buchhandlungen sind ein Paradies für einen Bücherwahnsinnigen und einen literarischen Shopaholic. Ein Reich mit Tausenden von Seiten, in dem man sich stunden-, tage- und wochenlang verlieren kann. Mehrstöckige Welten, in denen jedes Stockwerk eine Tür zu einem anderen Narnia ist. Belletristik und wissenschaftliche Literatur, Bildungs- und Kinderliteratur, Schreibwaren und Merch von legendären Comics. Etagen mit Brett- und Lernspielen. Kleine Bibliotheken in riesigen Buchläden und gemütliche Arbeitsbereiche in großen Bibliotheken. In Kunstalben blättern? Ok, hier ist das Album, hier ist der Stuhl, setzen Sie sich und blättern Sie. Notizen am Computer machen? Ok, hier ist der Flur und das Internet, hier sind Tisch und Stuhl, setzen Sie sich, arbeiten Sie. Einen Snack essen und etwas mit dem Kind unternehmen? Gut, hier ist ein Café direkt im Laden, hier gibt es Spiele für Kinder, setzen Sie sich, entspannen Sie sich.

Ja, ich weiß, dass dieser Umgang mit Bibliotheken und Buchhandlungen in Europa und der ganzen Welt üblich ist. Aber es ist eine Sache, das zu wissen, und eine ganz andere, es mit eigenen Augen zu sehen. Und wenn wir es mit der Ukraine vergleichen, bewegen wir uns auch hier in die richtige Richtung. In unseren Buchhandlungen kann man nicht nur Bücher kaufen, sondern auch an einem Treffen mit dem Autor teilnehmen, Vorträge oder literarische Lesungen besuchen, an Diskussionen über sensible Themen teilnehmen. Die Bibliotheken der großen Städte – Kiew, Saporischschja, Lemberg, Odessa – verwandeln sich allmählich in funktionale, nützliche Räume für alle. Aber im Moment sind ihre regelmäßigen Besucher Bücherfans, Wissenschaftler, Forscher, Studierende und Lehrer von höheren Bildungseinrichtungen. Und ich möchte, dass es in Mode kommt, in Bibliotheken und Buchhandlungen zu gehen. Damit jede Bibliothek, selbst in einer Kleinstadt, zu einem vollwertigen kulturellen Zentrum und einem Anziehungspunkt für Menschen verschiedener Generationen wird, zum Beispiel auch für Teenager. In der Buchhandlung in der Stuttgarter Königstraße sehe ich ständig Scharen von Jungen und Mädchen, die sich dort gerne aufhalten. Auch die Bibliothek in Gerlingen ist nach meinen Beobachtungen nie leer.

Ich würde mir wirklich wünschen, dass die Bibliotheken und Buchhandlungen in der Ukraine wenigstens ein bisschen so sind wie die deutschen mit ihrer Größe, ihrer modernen Ausstattung und ihrem Angebot – für den Komfort und die Bequemlichkeit der Menschen. Deshalb lege ich diese „Überraschung“, wie die anderen, in die Schatzkammer der Erinnerung. Mögen sie später, nach dem Sieg, dazu beitragen, das Leben zu Hause, in der friedlichen Ukraine, zum Besseren zu verändern.
 

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Folge 12: Was mich überrascht hat (Teil II)

6. Juli 2022

Während der Beantragung des vorübergehenden Schutzstatus als Geflüchtete aus der Ukraine wurde ich gefragt: „Sind Sie immer noch nicht in unserer Polizeistation? Hat die Polizei nicht Ihre Fingerabdrücke genommen?“ Das war natürlich sehr überraschend. Meine erste Reaktion war: „Zum Glück nicht!“ Die Sozialarbeiterin lächelte sanft: „Nun, warum zum Glück? Wenn Sie mit der Polizei zu tun hatten, bedeutet das nicht, dass Sie sich etwas zuschulden kommen ließen. Unsere Polizei ist unter anderem dazu da, zu helfen.“ Ach ja, das ist wieder die Rubrik „Was mich überrascht hat“.

Um die Reaktion eines Ukrainers auf die Frage zu verstehen, ob er in der Polzeistation war, lohnt sich ein kurzer Exkurs in die Geschichte. Vor nicht allzu langer Zeit, vor etwa drei Jahrzehnten: Die unabhängige Ukraine erbte von der UdSSR die Miliz, von der sich vernünftige Menschen so weit wie möglich fernzuhalten versuchten. Es war eine durch und durch korrupte Struktur, die für den Durchschnittsbürger eher eine Bedrohung als einen Schutz darstellte. Bestechung, Betrug, gegenseitige Deckung, Förderung krimineller Gruppen – das ist es, was man über die Miliz in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren sagen kann. Natürlich gab es auch dort ehrliche Leute, aber ihre Zahl war vernachlässigbar – und sie kamen in diesem System nicht zurecht.

Anfang der 2010er-Jahre erreichte die Spannung in der Gesellschaft, die durch die Straffreiheit der „Kriminellen in Uniform“ verursacht wurde, ihren Höhepunkt. Im Jahr 2013 brach ein Abszess auf: In Wradijewka, Region Mykolaiv, schlugen und vergewaltigten drei Männer eine Frau. Zwei der drei Männer waren Milizionäre. Das Gericht weigerte sich, sie zu verhaften, woraufhin die Einwohner von Wradijewka einen Aufstand anzettelten. Sie warfen Steine auf die Polizei und forderten eine gerechte Bestrafung. Ähnliche Kundgebungen fanden auch in anderen ukrainischen Städten statt. Daraufhin wurden die Milizionäre in Gewahrsam genommen und es begannen ernsthafte Kontrollen. Es sei darauf hingewiesen, dass laut Meinungsumfragen zu diesem Zeitpunkt nur etwas mehr als ein Prozent der Ukrainer der Miliz vertrauten.

Nach dem Euromaidan 2014 und dem Regierungswechsel in der Ukraine begannen sie, über die Reform des Innenministeriums zu sprechen. Dabei orientierte man sich am Beispiel der erfolgreicheren Nachbarn Georgien, das bereits ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Die ukrainische Reform musste in mehreren Schritten erfolgen. Im Jahr 2015, nach der Verabschiedung des Gesetzes „Über die Nationale Polizei“, nahm die Patrouillenpolizei ihre Arbeit in der Ukraine auf. Ausbilder aus den USA kamen, um künftige Polizeibeamte auszubilden. Bis 2017 war das Vertrauen der Ukrainer in die Streifenpolizei auf ein Allzeithoch von 53 Prozent gestiegen. Doch ein Jahr später führten neue Korruptionsskandale dazu, dass diese Zahl um 20 Prozent sank.

Die Reform der ukrainischen Polizei ist in Bezug auf eine Reihe von Parametern nicht vollständig umgesetzt worden. Zum Beispiel die Rezertifizierung: Mitarbeiter, die in der neuen Struktur arbeiten wollten, mussten ihre Professionalität nachweisen. Während der Inspektionen wurden viele Mitarbeiter entlassen, aber 93 Prozent von ihnen wurden nach einiger Zeit auf gerichtlichem Wege wieder in den Dienst aufgenommen. Das heißt, dass die Reform im Großen und Ganzen nur oberflächlich war und in der Tat fast nichts verändert hat. Der Grund dafür ist, dass nicht nur die Polizei, sondern auch die Gerichte und die Staatsanwaltschaft reformiert werden müssen – und dass generell die Gesetzgebung geändert werden muss. Es besteht die Hoffnung, dass dies eines Tages geschieht und dass ehrliche und motivierte Polizisten bis dahin nicht „kaputtgehen“.

Hier in Deutschland gewöhnen wir uns allmählich an die Vorstellung, dass ein Polizist Schutz und Hilfe bedeutet. Selbst wenn er einem ein Bußgeld aufbrummt, weil man sich im Auto nicht rechtzeitig angeschnallt hat. Aber das ist eine ganz andere Geschichte ...

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Folge 13: Rückkehr nach Hause?

22. August 2022

In letzter Zeit häufen sich die Berichte in der Presse, dass die Ukrainer massenhaft aus Europa nach Hause zurückkehren. Ein Grund zum Nachdenken: Ist das wirklich so? Mein Bekanntenkreis hier in Stuttgart ist zwar nicht sehr groß, aber er vermittelt einen Eindruck von der Situation. Tatsache ist: Diejenigen meiner Bekannten und Freunde, die jetzt in Deutschland sind, haben noch nicht vor, zurückzukehren. Von den Bekannten „nach zwei Händedrücken“ haben nur ein paar Familien Deutschland wieder verlassen. Ich habe versucht, herauszufinden, wer in die Ukraine zurückkehrt und was die Gründe sind.

Zunächst einmal sollten wir davon ausgehen, dass es heute in der Ukraine keine sicheren Orte gibt. Selbst wenn deine Stadt tief im Hinterland liegt und von der feindlichen Artillerie nicht erreicht werden kann, bleibt der Beschuss mit Langstreckenraketen eine reale Gefahr. Ein anschauliches Beispiel ist Winniza, wo am 14. Juli durch den Beschuss mit Kaliber-Marschflugkörpern, die von einem U-Boot aus dem Schwarzen Meer abgefeuert wurden, 23 Menschen starben, darunter drei Kinder. Winniza liegt im zentralen Teil der Ukraine und ist zum Beispiel von Cherson, an dem die Frontlinie vorbeiführt, fast 700 km entfernt. Die Mutter einer der Toten, die vierjährige Lisa, war kurz vor der Tragödie mit ihrer Tochter von Kiew nach Winniza gezogen, eben weil Winniza als sicherer Ort galt.

Und noch etwas sollte hervorgehoben werden: Ich werde nur über Menschen sprechen, die überhaupt irgendwohin zurückkehren können. Im April dieses Jahres schätzten die Vereinten Nationen anhand von Bildern aus dem Weltraum die Zerstörung im ukrainischen Irpen auf 71 Prozent, in Gostomel auf 58 Prozent und in Tschernihiw auf 21 Prozent. Nach Angaben der örtlichen Behörden ist Mariupol, wo im vergangenen Jahr eine halbe Million Menschen lebten, fast vollständig, das heißt zu 80 bis 90 Prozent, zerstört. Tausende von ukrainischen Familien können einfach nirgendwo mehr hin. Ich werde über diejenigen schreiben, deren Gebäude in der Ukraine noch erhalten sind.

Warum kehren einige Menschen trotz der täglichen und weit verbreiteten Bedrohung zurück? Der erste Grund ist die innere Unruhe und das Fehlen eines finanziellen Polsters. Ein Teil der Ukrainer ist zu Beginn der aktiven Feindseligkeiten nach Europa gegangen, ohne die Absicht, lange zu bleiben. Diese Menschen haben meist keine soziale Unterstützung beantragt. Auf eigene Kosten in Europa zu leben, wird aber nicht lange funktionieren, denn die Ersparnisse neigen sich dem Ende zu. Auch wenn jemand staatliche Unterstützung beantragt hat, läuft nicht immer alles reibungslos. Einige Länder stellen die Zahlungen an Flüchtlinge ein oder kürzen sie auf ein Minimum, schaffen die Mechanismen zur Erstattung von Unterkunft und Reisekosten ab. Wenn jemand in dieser Zeit keine Arbeit im Aufnahmeland gefunden hat, wird es schwierig, zu überleben. Daraus folgt der Beschluss, das Land zu verlassen.

Für viele Ukrainer lief im Juni/Juli die neunzigtägige Frist für den visumfreien Aufenthalt in Europa ab. Anders als Deutschland, das den visumfreien Aufenthalt für Ukrainer mit biometrischen Pässen bis zum 31. August verlängert hat, hielten viele Länder des Schengen-Raums die Aufenthaltsregel für bis zu 90 Tage aufrecht. Diejenigen, die diesen Zeitraum hinter sich haben, kehren ebenfalls vermehrt nach Hause zurück. Diejenigen, die mehrere Monate in einem Flüchtlingslager verbracht und keine „Sozialwohnung“ gefunden haben, kehren ebenfalls zurück. Wer in der Ukraine in einer großen möblierten Wohnung gelebt hat, hält dem Alltag nicht immer stand, auch wenn das Asyl im Gastland relativ komfortabel ist. Seien wir ehrlich: Wer in einem großen Haus in einer Stadt überlebt hat, die nicht in einem Kampfgebiet liegt, wird nicht lange in einem Stadion oder in einem Hangar leben.

Einige Menschen halten an ihren Arbeitsplätzen fest. Meinungsumfragen im ukrainischen Segment von Facebook zufolge arbeitet ein Viertel unserer Flüchtlinge, während sie in Europa sind, weiterhin auf Distanz in der Ukraine. Aber nicht jeder Job kann vollständig online gemacht werden, und niemand will in der derzeitigen Situation seinen Job verlieren.

Zusammenfassend möchte ich daran erinnern, dass das UN-Flüchtlingshilfswerk im Juni 2022 rund 2,2 Millionen Grenzübertritte in die Ukraine verzeichnete. Das heißt aber nicht, dass alle diese Menschen nach Hause zurückgekehrt sind. Manche reisen zum Beispiel auf eigenes Risiko in die Ukraine, um ältere Verwandte zu holen. Andere brauchen dringend Papiere. Und wieder andere wollen nur überprüfen, ob ihr Haus noch etwas wert ist.

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Folge 14: Sozialleistungen für Ukrainer

24. August 2022

Meine Kiewer Freundin ging nach Beginn der aktiven Phase des Krieges mit ihrem kleinen Sohn nach Mallorca. Sie hat dort keine Sozialhilfe beantragt und mietet eine Wohnung auf eigene Kosten. Sie erzählte einmal: Wir haben eine Wohnung bei einer sehr guten Familie gemietet, die von Anfang an gesagt hat, dass sie will, dass wir uns wie zu Hause fühlen. Aber aus irgendeinem Grund fragten sie ständig: „Na, wie gefällt es euch hier? Aber, sehen Sie: Das ist eine Waschmaschine. Und das ist ein Trockner. Und das ist der Geschirrspüler, wir zeigen euch, wie man ihn benutzt.“ „Nein, danke“, sage ich. „Ich habe die gleiche Maschine zu Hause.“ Und sie: „Wirklich?!“

Dies ist sicherlich nicht das einzige Beispiel dafür, dass der Durchschnittseuropäer nicht viel über das Leben in der Ukraine weiß. Wenn sich jemand für die Wirtschaft der Ukraine interessiert, dann orientiert er sich an den offiziellen Daten. Zum Beispiel vom Internationalen Währungsfonds: Im Jahr 2021 lag die Ukraine in Bezug auf das BIP und die Kaufkraftparitäten pro Kopf auf dem letzten Platz unter den europäischen Ländern und auf Platz 97 in der Welt. Extrem niedrige Renten, bescheidene staatliche Gehälter von Lehrern und Ärzten, dagegen beeindruckende Kosten für Versorgungsleistungen, hohe Zinsen für Kredite – all dies sind Indikatoren für ein Leben, das nicht das wohlhabendste ist aus finanzieller Sicht.

Gleichzeitig haben Analysten seit langem erkannt, dass die traditionellen Methoden zur Beurteilung des realen Wirtschaftsbildes im Falle der Ukraine nicht funktionieren. Die Ukrainer bewahren ihr Geld größtenteils nicht bei Banken auf und ziehen es vor, langlebige Güter – Fernseher, Kühlschränke usw. – in bar zu bezahlen. Daher ist es fast unmöglich, die Ersparnisse oder Ausgaben der Bevölkerung objektiv zu bewerten. Gleichzeitig gibt es in der Ukraine viele Menschen, die es sich leisten können, alles zu kaufen, was sie brauchen, ihre Kinder in Privatschulen zu unterrichten, Wohnungen oder Häuser zu mieten und zu reisen. Es gibt viele Menschen, die zwar nicht reisen, aber in der Lage sind, hochwertige Renovierungen in ihrer Wohnung vorzunehmen, gute Kleidung zu kaufen und Haushaltsgeräte zu erneuern. Ja, dieser Prozentsatz ist nicht so hoch wie in anderen Ländern. Aber der Trick ist, dass es unter denjenigen, die sich entschlossen haben, weit genug von zu Hause wegzugehen, um dem Krieg zu entkommen, eine ganze Menge solcher Menschen gibt – aktiv, mit einem hohen Grad an Anpassung.

Inzwischen wird das Wort „Flüchtling“ von den Bewohnern europäischer Länder unbewusst in erster Linie mit dem Status einer Person in Verbindung gebracht und nicht mit den Umständen, die sie gezwungen haben, ihr Heimatland zu verlassen. Es gibt ein dadurch geprägtes Bild von einem Flüchtling als einer armen Person, für die moderne Haushaltsgeräte und Gadgets der neuesten Modelle etwas Jenseitiges sind. Mit anderen Worten: Es ist wahrscheinlich das erste Mal, dass Europa mit Flüchtlingen aus der „Mittelschicht“ konfrontiert wird. Hier entsteht die Dissonanz: Das iPhone in den Händen einer ukrainischen Frau, die zur Tafel gekommen ist, um Lebensmittel einzukaufen. Ein Teenager mit teurem Lederrucksack. Ein relativ neues Auto mit ukrainischen Kennzeichen, geparkt vor dem Sozialamt.

Ich verstehe, dass ich jetzt ein sehr schmerzhaftes Thema angesprochen habe. Manche werfen den Ukrainern vor, dass sie die Sozialleistungen hier in Deutschland in Anspruch nehmen, obwohl sie nach außen hin genug Geld zu haben scheinen, um ohne staatliche Hilfe leben zu können. Manchmal wird auch behauptet, die Ukrainer seien dreist und anspruchsvoll. Aber erinnern wir uns: Die Menschen sind unterschiedlich! Und der Charakter eines Menschen und sein Verhalten hängen nicht von seinem Herkunftsland ab.

Was die Sozialleistungen angeht, so erinnere ich mich immer daran, dass mindestens vier meiner Freunde, die jetzt in Europa sind, keine staatliche Unterstützung in Anspruch genommen haben. Obwohl sie mit den Kindern hierhergekommen sind. Und ich erinnere mich auch: Eine ukrainische Frau mit dem neuesten iPhone-Modell in der Hand hat vielleicht ihr schönes Haus in Butcha verloren. Und das Kind mit dem Lederrucksack hat vielleicht keine Eltern mehr.

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Folge 15: Das Mädchen und der Krieg: Ich weiß, wofür ich stehe (Teil I)

25. August 2022

Ich wollte eigentlich mit einer gängigen Etikettierung beginnen: „Es ist allgemein anerkannt, dass eine Frau im Krieg nichts zu suchen hat.“ Aber plötzlich wurde mir klar: Das ist nur noch ein Mythos. Frauen leiten internationale Unternehmen, starten Satelliten und kandidieren für Parlamente, also können sie auch kämpfen – und sie tun es auch. Heute sind 17 Prozent der ukrainischen Armee Frauen: Scharfschützinnen, Späherinnen, Ärztinnen.

Die Unteroffizierin der Streitkräfte der Ukraine Olga Guz ist 40 Jahre alt und lebt in Odessa. Sie wurde in der kleinen Stadt Chuguev in der Nähe von Kharkiv geboren. Von dort aus sind es 100 km bis zur russischen Grenze. Bis April 2022 blieben Olgas Eltern in Tschugujew. Sie wollten nicht weg, sie warteten auf die Russen. Vor dem Krieg sprachen sie kaum mit ihrer Tochter, und erst Mitte April stimmten sie zu, das Kampfgebiet zu verlassen. Es dauerte anderthalb Monate, bis Olgas Mutter endlich sagen konnte: „Wir haben nicht gedacht, dass alles so sein würde. Wir dachten, es würde wie auf der Krim sein, ohne Schüsse und mit Blumen.“ Olga will sich bis heute nicht daran erinnern, welche Anstrengungen sie unternommen hat, um ihre Eltern nach Odessa zu bringen.

Übrigens ist diese Erwartung eines „feierlichen Treffens mit Blumen“ Putins größter Fehler. Er hat nicht nur darauf gesetzt, dass die ukrainische Armee zum Zeitpunkt des Einmarsches schwach und unvorbereitet sein würde, sondern auch darauf, dass die Ukrainer mit ihren „Befreiern“ zufrieden sein würden. Russland plante, Kiew in zwei oder drei Tagen einzunehmen. Man rechnete damit, dass die Bewohner der südlichen und östlichen Regionen der Ukraine, die traditionell als russischsprachig gelten, keinen Widerstand leisten und Putin im übertragenen Sinne die „Schlüssel zu den Städten“ auf einem Seidenkissen überreichen würden. Doch in Kiew gingen in den ersten Tagen neben dem Militär auch die Territorialverteidigung und Freiwillige auf die Straße, die nicht auf den offiziellen Aufruf warteten. Charkiw, Kiew, Dnipro und Mykolajiw hielten mutig die Stellung. Die Ukraine hielt stand – und der „Blitzkrieg“ der russischen Truppen scheiterte.

Doch zurück zu dem Gespräch mit Olga. Ihre Familie ist bei weitem nicht die einzige, die eine Spaltung erlebt hat. Nicht immer, aber oft ist die Konfrontation innerhalb von Familien mit dem „Konflikt der Generationen“ verbunden. Die ältere Generation ist besessen von Nostalgie und der Einstellung „wir und die Russen sind eine Familie“. Die jungen Menschen, die die Welt bereist haben, wissen, dass der einzig wahre Vektor für die Entwicklung des Landes der europäische ist. Die Widersprüche eskalierten 2014 nach der Annexion der Krim und dem Ausbruch der Feindseligkeiten in der Ostukraine. Olga sagt: „Ich sage seit 2014 immer wieder, dass Russland faschistisch ist. Und meine Mutter hat einen Bruder in Moskau, und sie weigerte sich, über diese Themen zu sprechen. Sie wollte „ihren Bruder nicht verlieren. Aber manchmal muss man eine Entscheidung treffen. Übrigens hat mir mein Onkel aus Moskau nie geschrieben.“ 2015 zog Olga, die zu diesem Zeitpunkt schon viele Jahre in Donezk lebte und es immer noch als ihre Heimatstadt betrachtet, mit zwei kleinen Kindern nach Odessa. Lange Zeit klang ihr in den Ohren, was ihre Eltern sagten: „Du hast dich für ein visafreies Regime verkauft.“ Ihre Tochter war viereinhalb Jahre und ihr Sohn ein paar Wochen alt.

„Ich kam nicht weiter“, sagt sie. „Hier in Odessa lernte ich Mädchen von einer gemeinnützigen Stiftung kennen und beteiligte mich an ihrer Arbeit. Ich erinnere mich, dass meine Tochter lange Zeit Angst vor lauten Geräuschen hatte, sie weinte. Im Kindergarten fragten die Erzieherinnen, warum sie weinte. Ich antwortete: Weißt du nicht mehr, woher wir kommen? Und als am 22. Februar der Beschuss von Odessa begann und mehrere Raketen eingeschlagen waren, bröckelte der Putz in unserer Wohnung. Meine Tochter hielt tagsüber durch und weinte nachts. Sie hatte sogar Angst, zum Einkaufen zu gehen. Wissen Sie, für mich ist das Schlimmste, dass es die Kinder trifft und ich nicht da sein werde. Dass ich ihnen nicht helfen kann.“

Olga sagt, sie habe schon als Kind Neurochirurgin werden wollen. „Ich hatte den brennenden Wunsch, Menschen zu retten. Aber das mit der Chirurgie hat nicht geklappt, ich habe einen Masterabschluss in Informatik gemacht und zusätzlich eine Ausbildung zur medizinischen Assistentin. Und immer gab es in meinem Leben Bergsteigen, Höhlenforschung, Wettkämpfe auf dem Wasser, Fallschirmspringen – ich habe mein ganzes Leben lang Sport getrieben, auch in Extremsportarten, bei denen man ohne Rettungsfähigkeiten nicht auskommt. Ich bin seit vielen Jahren als Kletter-, Bergsteiger-, Wasserski- und Snowboardlehrerin tätig. Außerdem bin ich eine zertifizierte Spezialistin für Höhenarbeit, und auch dort steht die Sicherheit im Vordergrund. Ich weiß, wie man rettet, ich mache das, seit ich 16 Jahre alt bin. Für mich stellte sich also gar nicht die Frage, was ich nach dem 24. Februar tun sollte.”

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Folge 16: Das Mädchen und der Krieg: Ich weiß, wofür ich stehe (Teil II)

26. August 2022

Der 24. Februar, der Tag, an dem der offene Krieg begann, ist jedem Ukrainer in Erinnerung geblieben. Am frühen Morgen, friedlich schlafende Städte, deren Stille durch die Geräusche von Explosionen, Sirenen und Raketen durchbrochen wurde. Seitdem haben wir gelernt, die Arbeit unserer Luftabwehr an den Geräuschen zu erkennen. Wir können bei einem Luftangriff fast sofort in die Tiefgarage oder in den Keller des Hauses gehen. Wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wenn der Beschuss uns auf der Straße erwischt. Aber von Zeit zu Zeit kehrt die Erinnerung an diesen ersten Tag zurück. An diesen eisigen und klebrigen Schrecken. Er fesselte so sehr, dass selbst für Panik kein Platz war.

Am Tag vor der Invasion, am 23. Februar, fuhr Olga Guz mit einer Gruppe von Touristen zum Skifahren in die Karpaten. Am Morgen des 24. Februar befand sie sich noch im Zug auf dem Weg dorthin. Und am 25. Februar kehrte sie nach Odessa zurück. „Am 8. März begann sich meine Brigade zu formieren“, sagt Olga. „Ich kam als Freiwillige, auf Wunsch des Kommandanten, und wurde dem Personal als stellvertretende Leiterin der Sanitätseinheit vorgestellt. Ich versorge die Brigade mit allem, was mit taktischer Medizin zu tun hat, habe Kontakt zu Freiwilligen und bilde Kampfsanitäter aus. Ich habe den Vertrag nicht unterschrieben – Titel sind mir egal. Ich bin gekommen, um meine Arbeit zu tun.“

Und sie tut es, genau wie die anderen. Das einzige „Privileg“, um das der Kommandeur bat, war, wenn möglich, die Nächte zu Hause mit den Kindern zu verbringen. Olga sagt, dass die offiziellen Streitkräfte der Ukraine jetzt gut vorbereitet und mobil seien. Es gab einige Probleme mit der Versorgung, aber mit der Zeit wird die Situation in dieser Hinsicht besser. „Aber es gibt keine Uniform für mich. Ich trage die Uniform, die ich von den Freiwilligen übernommen habe. Nein, natürlich, sie haben mir kurze Hosen gegeben“, lächelt sie, „und sogar mit dem Wappen der Ukraine. Aber es war Größe 62.“ Wir lachen zusammen und stellen uns die kleine Olga in riesigen Kleidern vor. Nach dem Lachen frage ich: „Hör mal, wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, zur Armee zu gehen?“

Olga denkt nicht einmal über die Antwort nach: „Wer denn, wenn nicht ich? Ich habe meine Kinder hinter mir. Ich möchte, dass sie in einem normalen Rechtsstaat leben. Ich möchte, dass die Kinder in einem Land mit einem anständigen Niveau und einer guten Lebensqualität leben. Dass wir endlich diese sowjetische Mentalität verlassen. Die Generation unserer Eltern wird das nicht verstehen und nicht viel zu schätzen wissen. Aber unsere Kinder sollen eine Zukunft haben. Und sie sollen keine Angst haben, nachts durch die Stadt zu laufen, sollen nicht mit Niedertracht und Korruption konfrontiert werden. Ich habe mein Haus schon einmal im Jahr 2014 verlassen. Und jetzt verstehe ich sehr gut, wofür ich stehe.“

Und ich verstehe: Sie wird wirklich dafür stehen. Diese kleine Frau wirkt eher wie ein Mädchen mit einem eisernen Blick. Und zu diesem Zeitpunkt fügt Olga hinzu: „Um nicht zusammenzubrechen, denke ich nicht daran, was nach dem Sieg passieren wird. Als der Krieg begann, dachten viele, dass er bald vorbei sein würde. Und die Leute begannen, sich schnell zu entmutigen. Ich wusste, dass es nicht für eine Woche oder einen Monat war. Aber es ist nicht für immer. Und eines Tages werde ich wieder durch Europa reisen, die Kinder zum Skifahren mitnehmen, ihnen Polen zeigen, das habe ich ihnen versprochen. Und ich lebe mit diesen Gedanken. Aber das erste, was ich nach dem Sieg tun werde, ist schlafen. Und dann werde ich ans Meer fahren. Und noch besser – ich werde zum Schlafen ans Meer fahren.“

Ich habe mit Olga im Mai 2022 gesprochen. Ich beende diesen Text im Juli, zwei Tage nachdem Odessa einem massiven Raketenangriff ausgesetzt war, der den Hafen schwer beschädigte. Dies geschah am Tag nach dem sogenannten „Getreidewaffenstillstand“ – einer Vereinbarung über die Ausfuhr von Getreide, die unter Beteiligung der UN, der Türkei und der Ukraine unterzeichnet wurde. Und Russland, das am Tag des Beschusses, dem 23. Juli, erklärte: „Wir waren es nicht, die geschossen haben.“ Und am nächsten Tag, am 24. Juli, sagte es: „Wir waren es, die geschossen haben, wir haben die Waffendepots zerstört.“ Das Land des Aggressors ist so unverschämt geworden, dass es sich nicht im Mindesten um die äußere Einhaltung von Anstandsregeln kümmert. Ich vertraue Olga, einem zarten Mädchen mit eisernem Blick, das weiß, wofür es steht.

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Folge 17: Die Journalistin und Fotokünstlerin Julia Gorodetskaya (Teil I)

28. August 2022

Die ukrainische Journalistin und Fotokünstlerin Julia Gorodetskaya lebt seit 2015 in New York. Die Ausreise nach Amerika mit der ganzen Familie – Julia, ihrem Mann und ihren drei Kindern – war darauf zurückzuführen, dass Julias Mann eine Stelle in den USA angeboten worden war. Julia, die in der Ukraine erfolgreich und berühmt ist, hat ihre Verbindungen zu ihrem Heimatland nicht unterbrochen. Zunächst war sie Redakteurin einer Website über China. (Man stelle sich das vor: Eine Website über China, die von Ukrainern erstellt und von einer Frau aus Odessa in den USA redigiert wurde!) Dann arbeitete sie als PR-Direktorin für ein russischsprachiges Radio. Danach arbeitete sie drei Jahre lang als Leiterin des Pressedienstes des legendären internationalen Festivals für klassische Musik „Odessa Classics“. Am 7. Februar 2022 flog Julia in ihre Heimatstadt Odessa. Es waren noch 17 Tage bis zum Krieg. Ich habe mit ihr gesprochen.

Julia, hör zu, warum bist du gerade zu diesem Zeitpunkt in die Ukraine gekommen? Warst du sicher, dass es keinen Krieg geben würde?

„Ganz im Gegenteil. Ich wusste, dass es einen Krieg geben würde. Ich sah, wie die Russen Truppen an die Grenze verlegten, las Berichte im Internet, und was die Amerikaner sagten, erschien mir sehr plausibel. Ein paar Monate vor dem Krieg war ich an COVID erkrankt. Herzkomplikationen, Depressionen begannen, und eines Tages wachte ich mit dem Gedanken auf: Odessa ist das einzige, was mich jetzt noch davon abhält, aus dem Fenster zu springen. Weißt du, es ist nicht einmal Nostalgie. Es ist ein Verständnis dafür, wer ich bin und warum. Ich liebe New York, den Broadway ... Es ist gut dort, aber es ist nicht mein Zuhause. Die Heimat ist hier. Meine Familie verstand, dass ich hierbleiben könnte, aber sie sah, wie schlecht es mir ging, und ließ mich heldenhaft gehen. Und weißt du, ich habe alle Kameras mitgenommen, die ich kriegen konnte, für den Fall, dass ich drehen muss. Ich verstand, dass es notwendig war, Sirenen und Luftschutzbunker vorzubereiten, ich sprach ständig darüber und war furchtbar wütend, dass diejenigen, die sagen, dass wir uns vorbereiten müssen, als Panikmacher behandelt wurden. Am Tag vor dem Krieg kaufte ich die letzten Medikamente, die ich brauchte. Davor war ich noch zum Arzt gegangen. Mit dem Beginn des Krieges hat sich der Körper mobilisiert, in einen anderen Modus geschaltet, aber es scheint mir immer noch, dass ich mir diese Kräfte von meinem Körper leihe ...“

Wir sitzen auf einer Bank an einem Teich in einem Park in Odessa. Mein Aufenthalt in Odessa neigt sich dem Ende zu, und auch Julia wird in einem Monat nach Amerika zurückkehren. In der Zwischenzeit verwendet sie ihre ganze Kraft und Zeit auf die Ausstattung des Marineorchesters von Odessa:

„Einer meiner engsten Freunde, ein Lehrer am Konservatorium, Musiker, Komponist, spielt in diesem Orchester. Sie wurden vom ersten Tag an zur Armee eingezogen, aber sie arbeiten in der Nachhut. Da die Russen in den ersten Kriegstagen die Lagerhäuser bombardiert haben, hatten sie nicht genug Munition. Und ich hatte weitreichende Verbindungen, einen großen Bekanntenkreis, darunter Journalisten und Kunstschaffende. Und ich begann, Bekannte und Fremde in den sozialen Netzwerken buchstäblich zu „bekleben“: Helft mir, kugelsichere Westen zu kaufen! Alle Leute, die ich kontaktiere, antworten.“

Ich höre zu und lächle: Ein großer Bekanntenkreis ist überhaupt nicht übertrieben. Julia Gorodetskaya war es auch, die 2010 den weltweit ersten Tweet aus der Unterwasserwelt sendete. Sie selbst erinnert sich lachend daran: Sie kann zwar nicht schwimmen, aber sie hat dem Angebot eines ukrainischen Mobilfunkbetreibers sofort zugestimmt. Zwar schrieben alle führenden Medien der Welt darüber, ohne darauf hinzuweisen, dass es sich um eine Werbeaktion handelte. So blieb Julia „eine Journalistin, die aus unbekannten Gründen einen Tweet aus dem Wasser gesendet hat“.

„Damals begann ich“, sagt Julia, „aktiv auf Twitter zu posten. Dann begann der Maidan, und ich postete Informationen über die Ereignisse in der Ukraine auf Englisch. Es gab einen Screenshot mit Übersetzung unter Angabe der Quelle. Ich wurde oft wieder gepostet, als Ergebnis versammelte sich ein ziemlich breites Publikum, darunter ausländische Journalisten. Seit Februar dieses Jahres wurde mir klar, dass mein Twitter wieder zum Leben erweckt werden muss. Zuerst kommentierte ich Politiker, forderte die Lieferung von Waffen an die Ukraine. Dann kam die Tragödie im Theater von Mariupol. Ich fand ein Video, das über ein paar Tage hinweg aufgenommen wurde, und es zeigte deutlich, dass sich in dem Theater Zivilisten befanden, eine Menge Menschen. Ich habe dieses Video unter den Tweets aller Nachrichtenquellen gepostet, die noch nicht wussten, dass sich Menschen in dem Theater befanden.“

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Folge 18: Freiwillligenarbeit

30. August 2022

Der Krieg besteht nicht nur aus der Front und den regulären Truppen. Er besteht auch aus dem Hinterland – und einer riesigen Zahl von Freiwilligen, die buchstäblich 24 Stunden am Tag die Armee mit allem versorgen, was dort fehlt. Die meisten dieser Freiwilligen sind Frauen. Und sie kommen nicht nur aus der Ukraine. Meine Gesprächspartnerin, deren Geschichte Sie im vorigen Artikel nachlesen können, ist drei Wochen vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine aus den Vereinigten Staaten, wo sie seit sieben Jahren lebt, ins ukrainische Odessa geflogen.

Julia, wann war die schlimmste Zeit für dich?

„Die ersten zwei Wochen musste ich zu Hause bleiben. Die Besonderheiten meiner Krankheit erwiesen sich als stärker als ich, und nach meiner Ankunft aus den USA in Odessa schlief ich zunächst nur. Viele Tage lang. Freunde kamen zu Besuch und fütterten mich, dann überredeten sie mich, ins Theater zu gehen, und vor dem Krieg schaffte ich es, drei Aufführungen zu sehen. Aber wie auch immer, zu Beginn des Krieges erwachte ich erst so richtig zum Leben. Deshalb war ich in den ersten zwei Wochen gezwungen, zu Hause zu sitzen und alle Nachrichten zu lesen. Das kann einen wirklich verrückt machen. Die Freiwilligenarbeit hat mich gerettet.

Für das Marineorchester Odessa kaufen wir nicht nur Schutzwesten, sondern auch Erste-Hilfe-Kits und Kommunikationsausrüstung. Zweimal am Tag schreibt mir jemand und fragt, wo man etwas bekommen kann, zum Beispiel Aderpressen. Und ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wer es besorgen kann. Ich schicke es an diese Leute. Oder die Geschichte mit den Knödeln: Fünf Frauen in einem der Dörfer in der Nähe von Odessa beschlossen, Knödel für das Krankenhaus und die Militäreinheiten zu machen. So haben wir nicht nur in Rekordzeit einen Abnehmer für die Knödel gefunden, sondern auch eine Gefriertruhe zur Lagerung der Knödel bekommen. Ich habe mich noch nie freiwillig gemeldet und hoffe, dass ich das auch in Zukunft nicht tun werde. Ich habe keine Wohnung, ich habe nicht viel Geld. Mein soziales Kapital sind meine Beziehungen, die ich im Laufe der Jahre aufgebaut habe. Hier ist das Musikfestival Odessa Classics, für das ich drei Jahre lang gearbeitet habe: Dieses Jahr fand es in Estland statt. Wir haben uns mit den Organisatoren abgesprochen, die Details besprochen, und während der Übertragung der Konzerte wurden regelmäßig Informationen über uns gesendet.

Aber du wirst nach Amerika zurückkehren, und dann?

„Jetzt plane ich bereits, was ich als nächstes tun werde. Bis jetzt sammle ich alles, was in den USA gegen Spenden verkauft werden könnte – die berühmten ukrainischen Briefmarken, Abzeichen, Souvenirs. Ich bestelle etwas bei einem Meister, der vor dem Krieg Ohrringe und Ringe auf Bestellung hergestellt hat. Mein Klassenkamerad, der schon lange in Amerika lebt, hat mir ein Plakat gemalt – vielleicht kann ich es irgendwie verwenden. Wenn ich nach Amerika zurückkehre, werde ich darüber nachdenken, wie ich dort eine wohltätige Stiftung gründen kann. Denn ich werde nicht aufgeben. Es gibt Dinge, die unsere Frontlinien immer brauchen werden. Zum Beispiel die richtigen Erste-Hilfe-Kästen. Ich denke, ich werde in sie investieren.“

Hattest du in diesen Monaten Zeit, die Luft von Odessa einzuatmen? Was kannst Du über die Stimmung in der Stadt sagen?

„Ich bin sehr froh, dass Odessa proukrainisch geworden ist. Für viele Menschen kam der russische Angriff unerwartet. Es war kaum zu glauben, und die Menschen durchliefen nacheinander alle Stadien der Verleugnung, von „Brüdernationen“ bis zu „Feinden, die unsere Kinder töten“. Viele Menschen klammern sich immer noch an den „Wert der russischen Kultur“ und verstehen nicht, dass wir alles loswerden müssen, was als „russisches Etikett“ dienen kann, weil sie immer wieder kommen werden, um uns zu „beschützen“. Meine Freunde und ich haben 2014 alle Phasen der Verweigerung durchlaufen. Und jetzt ist uns klar: Wir müssen uns von dem Aggressor lossagen. Straßen umbenennen, Denkmäler abreißen und endlich die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats verbieten. Und zwar jetzt, nicht erst nach dem Sieg. Genau jetzt, wenn klar ist, wer der Hauptfeind ist. Während die Raketen fliegen. Raketen sind ein unglaublich überzeugendes Argument. Aber wenn wir gewonnen haben, werde ich mit Freunden in jeder Bar in Odessa trinken. Und für all die Künstler, die uns geholfen haben, organisiere ich Konzerte in unserer sonnigen Stadt.“

Weitere Einträge folgen in unregelmäßigen Abständen.

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